Bengel, Johann Albrecht - Vom Beten aus dem Herzen.
§. 1.
Es ist eine geraume Zeit her, Alten und Jungen das so genannte Beten aus dem Herzen häufig angegeben worden, und solches hat einen großen Nutzen, indem heilsbegierige Seelen damit auf das deutlichste unterwiesen werden, wie sie sich nach ihrem eigenen Zustand mit Gott unterreden können, da hingegen viele, die von nichts als von den gewohnten Gebeten wissen, keinen Begriff von dem Gebet bekommen, das Nachsprechen der zehn Gebote, der Absolutions-Formel usw. für gebetet halten, und sorglich großen Teils ohne wirkliches Gebet immer dahin gehen, im Leben und Sterben.
§. 2.
Indessen lässt es sich dazu an, als ob zu solchem Beten aus dem Herzen ein Missverstand und Missbrauch schlagen wollte, wie insgemein bei allen heilsamen Anweisungen geschieht.
§. 3.
Das Beten ohne vorgeschriebene Worte ist gut, und wer auch also singen kann, dem lässt man es ebenso gut sein; aber das Beten und Singen nach einer Vorschrift behält dabei seinen Wert.
§. 4.
Man kann in einem Gebet-Buch lesen, oder einen andern lesen hören, oder die Worte auswendig wiederholen; welches letztere das bequemste ist, weil die Applikation des Gemüts auf das Lesen oder Zuhören einen guten Teil von der Andacht zu Gott wegnimmt. Da hingegen es bisweilen auch eine feine Erweckung gibt, wenn man auf eine salbungsvolle Formel, ohne wirkliches Beten, achthat, wie einer, der bei dem Gespräch zweier Freunde, als der Dritte, horchen darf.
§. 5.
Das Beten mit eigenen Worten kann man zu einem Gepränge machen, und das Beten mit vorgefassten Worten kann man zu großem Lobe Gottes und in wahrer Kraft üben.
§. 6.
Wenn einer recht geängsteten oder recht aufgeheiterten Seele solche Worte, die ihr eigentlich angemessen sind, es seien viele oder wenige, ohne Nachsinnen beigehen und daher fließen, dass sie sich mit denselben vor Gott ausschütten kann, so wäre es nicht fein, dergleichen Worte ersticken und sich hingegen mit entlehnten Formeln behelfen. Vielmehr wäre zu wünschen, dass man die neu-entspringenden Worte solcher Seelen auf frischer Tat allemal auffangen könnte.
§. 7.
Sonst aber, wo keine besonders enge oder weite Herzens-Verfassung vorhanden ist, geben wackere Vorschriften, die einer ihm selbst zu heitern Stunden gemacht hat, oder von Andern mit einer tüchtigen Wahl borget, eine annehmliche Hilfe. Selbst bei denen, die mit eigenen Worten zu beten pflegen, werden solche ihre Worte unvermerkt etwas gewöhnliches, und kommen ihnen vor andern Ausdrücken in den Sinn und in den Mund, weil sie mit ihrer inneren Seelen-Gestalt überein stimmen. Sie bleiben auch oft bei gewissen Punkten stehen, da hingegen einem Beter, der sich guter Vorschriften bedient, alle die Stücke nach einander beigehen, die in das Gebet und in die Danksagung einfließen.
§. 8.
Bei mühsamen Tages-Stunden tut es einem zerstreuten oder doch matten Gemüte sehr wohl, wenn es sich an einem Gebetbuch erholt. Bei finsteren schlaflosen Nachtstunden ist es etwas köstliches, wenn man sich an auswendig gelernte Gebete, Reime, Seufzer, Gesänge und Psalmen halten kann.
§. 9.
Ohne Worte kann ein Mensch sein Herz zu Gott erheben; ob aber dieses eine Weile vonstattengeht, so schweifen doch die Gedanken gar bald aus, oder sie geraten in einen Schlummer. Wacht er des Morgens auf, so werden fremde Einfälle am besten abgetrieben, und die Seelen-Kräfte aufgeheitert, wenn er mit David spricht: Das ist ein köstlich Ding dem HErrn danken; Gott, du bist mein Gott. Meine Seele ist stille zu Gott; Wie der Hirsch schreit, usw.
§. 10.
Der HErr Jesus selbst hat mit seinen Jüngern den Lobgesang, der aus etlichen Psalmen besteht, gesprochen; am Ölberg hat er in seiner Bangigkeit mit einerlei Worten dreimal gebetet; und am Kreuz hat er etliche Reden mit eben den Worten, wie sie in den Psalmen stehen, wiederholt. Sofern könnte man den Psalter des Messiä Gebetbuch nennen, als die gemessenen Worte, die er bei seinem Zugang zu Gott geführt hat, darin aufgezeichnet sind.
§. 11.
Die Psalmen wurden selbst zu Davids und hernach in folgenden Zeiten bei dem Israelitischen Gottesdienst nach ihren vorgeschriebenen Worten ordentlich gesungen; und die Christl. Kirche hat sich derselbe in allen Geschlechtern nach einander in vielerlei Sprachen mit beständigem Segen bedient.
§. 12.
In dieser Betrachtung werden alle, denen die Wahrheit lieb ist, erkennen, dass das Beten und Singen, womit man sich nach gewissen Vorschriften richtet, etwas sehr heilsames sei, und nicht eben nur für schwache Anfänger gehöre, wie auch dass die Psalmen hierbei einen unvergleichlichen Vorzug haben.
§. 13.
Daher sind auch unter den Liedern diejenige sonderlich wert zu halten, die aus den Psalmen hergeleitet sind, oder auch eine Neutestamentliche Nutzanwendung mit sich führen.
§. 14.
Da kann ein Beter oder Sänger sich dessen, was er vor sich findet, nach aller Freiheit und ohne einigen Zwang bedienen, bald da bald dort stille stehen, seine eigenen guten Gedanken und Begierden dazwischen einschalten, das, was sich auf ihn nicht schickt, erweitern oder ergänzen usw. Wie denn überhaupt im Gebet nach jedesmaliger Herzens-Fassung die Abwechslung zwischen vorgeschriebenen und neu-einfallenden Worten das beste Mittel ist, das Gespräch mit Gott zu unterhalten, bis der Beter sein Herz ausgeleert, oder, wie mans nimmt, angefüllt hat, und damit für diesmal seinen Urlaub bekommt.
§. 15.
Ein jeder weiß vorhin, dass ihm die Wahl offen bleibt, sich jeder Zeit dessen zu bedienen, was für ihn das tauglichste ist. Es kommt wohl auch dazu, dass man sich bei dem güldenen Text allein am besten befindet.