Bengel, Johann Albrecht - Predigt am Sonntag Estomihi
Text: Lukas 18, 31-43
Der Anfang unsres heutigen Textes enthält eine Passionspredigt Christi. „Sehet!“ beginnt er mit besonderem Nachdruck, da er unsre Aufmerksamkeit auf diese hochwichtige Sache richten will. Ebenso heißt es auch Psalm 40, 8: „Siehe, ich komme; im Buch ist von mir geschrieben“. Er will uns damit besonders mahnen, daß es eine Sache sei, die wir uns aneignen müssen und die ein jedes auf sein eigen Herz anwenden soll. Auf diese Art soll es uns, sooft wir es auch hören, immer eine neue Geschichte sein. Seht, auch jetzt nimmt uns Christus zu sich! Laßt uns ihm so zuhören, daß wir nicht eine gleiche Bestrafung wie die Juden verdienen! Laßt uns ihn anrufen um die Gnade, recht zu hören! Er selbst ist der Prediger; denn wir hören heute die Passionspredigt Christi.
1. Ihren Inhalt
Jerusalem war der Ort, an den der ganze jüdische Gottesdienst gleichsam gebunden war, und in dessen Tempel alle levitischen Opfer gebracht werden mußten. Jerusalem hatte also große Gnade und war bis in den Himmel erhoben, besonders nachdem Christus den Tempel mit seiner gnadenvollen Gegenwart geziert hatte.
Es war aber auch zugleich der Begräbnisort aller rechtschaffenen Propheten. Dahin begibt sich nun auch der Prophet aller Propheten, das Opfer aller Opfer. Weil die Stadt auf einer Höhe, auf einem Berge lag, heißt es: „Wir gehen hinauf gen Jerusalem!“ wie einst Abraham mit Isaak in die gleiche Gegend hinaufging (1. Mose 22, 2). Christus allein hat für uns gelitten, und er sagt doch: „Wir gehen!“ Damit deutet er an, daß seine Jünger auch dabei sein müssen, was er ihnen schon vorher in dem Gleichnis von den Hochzeitsleuten zu verstehen gegeben hat; ebenso aber auch, da er von dem Kelch sprach, den er trinken werde, und von der Taufe, mit der er sich müsse taufen lassen. Zwar ging das alle Jünger an; denn er spricht: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir!“ (Matth. 16, 24). Es ging Petrus, Johannes und Jakobus besonders an wegen des Maßes an Gnade, das sie zu genießen hatten; es mußten aber dennoch alle mit. „Wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?“ (Hebr. 12, 7). Nur züchtigt er eben jeden nach dem Verhältnis seines Alters, seiner Gaben und seiner Stärke. Darum müssen auch wir uns dazu entschließen, Mitgenossen des Leidens Jesu zu werden, und es für unsre größte Ehre und Seligkeit halten, sowohl an seinem innerlichen als auch an seinem äußeren Leiden teilnehmen zu dürfen.
Nun, was hat es denn auf sich, daß Christus sagt: „Wir gehen hinauf?“ War er nicht vorher schon achtmal dahin gegangen? Warum spricht er jetzt davon als einer besonderen Sache? Auf diesem Gang zog er zu seinem Vater. Es war ein saurer, aber heilsamer Gang; denn der Heiland fährt in seiner schönen Passionspredigt fort: „Es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn“. Des Menschen Sohn ist - wie bekannt - unser gebenedeiter Heiland selber, der sich nicht schämt, uns seine Brüder und sich einen Menschen zu nennen vor Gott und vor den Engeln, die ihn anbeten. An ihm sollte nun alles vollendet werden. Er sollte verspottet, geschmäht, gegeißelt und getötet werden, wie dies alles die vier Evangelisten in ihren letzten Kapiteln beschrieben haben und wie wir es in den folgenden Tagen und Wochen zur Genüge hören werden. Bedenkt nun, welch ein schweres Leiden Christus hier vorhersah. Er wußte, daß er den Schriftgelehrten und dann den Heiden übergeben werden sollte; das Ärgste aber war, daß eben damals der Verräter bei ihm weilte, dessen Verrat er schon lange vorhersehen konnte, wobei wir schweigen von den mannigfaltigen, langwierigen, unverdienten, schrecklichen und schmerzlichen Leiden selbst. Seht, dies alles sah der Heiland voraus! Bedenke, lieber Zuhörer, wie würdest du dich entsetzen, wenn du unschuldigerweise in ein solches Leiden hineingeführt würdest und vorher wüßtest, wie groß dieses Leiden sein werde! Nun siehe, solchem Leiden geht der Heiland mit bedächtigem Wissen und mit freiem, heiligem Willen entgegen um deinetwillen. 0 welche Demut, Sanftmut, Geduld, Liebe und Liebesmacht, welch seltener Gehorsam!
Ferner zeigt unser Heiland die Ursache an: „Wie würde denn aber die Schrift erfüllt? Es muß also geschehen“ (Matth. 26, 54). Es muß alles vollendet werden. Die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments zielt auf Christus als den Zweck und Kern, besonders aber auf sein Leiden und Auferstehen (1. Kor. 15; Apg. 26, 22. 23; Luk. 24, 27). Hauptsächlich wird alles das vorherverkündigt, was Christus hier in unserm Text meldet: Der Verrat des Judas in Psalm 41, 10 und Sacharja 11, 12; die Verwerfung des Steines durch die Bauleute in Psalm 118, 22; die Übergabe in die Hände der Heiden und das darauf folgende Leiden in Psalm 22, 7; die Verspottung in Psalm 22, 14-18 und Jesaja 53; die Kreuzigung in 4. Mose 21; sein Tod in Daniel 9 und das Begräbnis und die Auferstehung in Jona 1 und 2. Dies alles und noch mehr können die in der Heiligen Schrift erkennen, denen die Betrachtung der Passion und die daraus hervorleuchtende Weisheit, Güte und Gerechtigkeit Gottes lieb ist. Wie dies nun alles im Namen Gottes von den Propheten verkündigt worden ist, so hat auch alles erfüllt werden müssen, um die Wahrheit Gottes, der nicht lügt, zu bestätigen; ja, es war dies der ewige Rat Gottes (Luk. 22, 22; Apg. 2, 23; 4, 28). Von all diesem hat kein Jota, nicht der geringste Umstand unerfüllt bleiben dürfen. Es hat alles müssen vollendet werden, wie es auch geschehen ist (Joh. 19, 30; Matth. 5, 17-19). Von diesem Kelch ist kein Tropfen zurückgeblieben; er hat ihn ganz ausgetrunken. Vorher konnte keine Weissagung von der Erhöhung Christi erfüllt werden.
Wie Gott Christus geführt hat, so führt er auch Christi Brüder. Von dem geistlichen Leib ist hin und wieder geschrieben, daß er vorher mit ihm leiden müsse. Dies alles muß notwendigerweise an uns erfüllt werden, und wir müssen uns darein ergeben durch Buße, durch Verleugnung unsrer selbst und durch das Kreuz (1. Petr. 1,11; 2. Tim. 2,11; 1. Petr. 4,13; Rom. 8,17). So wird auch die Auferstehung am dritten Tag folgen (Hos. 6,2).
So notwendig nun dieses Leiden Christi im Blick auf die vorangegangenen Weissagungen gewesen ist, so freiwillig ist es von Christus übernommen worden. Es hat das Leiden unsern Heiland nicht unversehens wie ein Fallstrick überfallen, ehe er sich's versehen hätte, so daß man hätte denken können, er sei etwa wie Simson nur ungern dazu bereit gewesen. Nein, siehe, hier wandelt Christus auf freiem Feld; er hat niemand um sich als seine vertrauten Jünger, und er weiß auch, was ihm in Jerusalem bevorsteht. Er hätte also hingehen können, wohin er wollte. Er richtet aber sein Gesicht stracks nach Jerusalem. Ja, wie leicht wäre es ihm gewesen, ihnen zu entgehen, als sie ihn schon gefangen hatten (Luk. 4, 30; Joh. 8, 59; 18, 6; Matth. 26, 53). Er gab sich freiwillig darein. Das nenne ich einen unvorstellbaren Gehorsam gegen seinen himmlischen Vater (Phil. 2), der ihm solches Gebot gegeben hatte (Joh. 10, 18). Diese Gelassenheit hatte er seinem Vater (Ps. 40, 7. 8; vgl. Hebr. 10, 7; Joh. 4, 34; 5, 30; 6, 38) auch mitten im Leiden schon versprochen (Matth. 26, 39). Durch diesen Gehorsam ist nun unser Ungehorsam, den wir im Paradies und sonstwo begangen, vollkommen gebüßt worden; denn um unsertwillen hat sich Christus unter das Gesetz tun lassen. Darum muß denn dieser Gehorsam auch uns zustatten kommen (Rom. 5, 19). Hat schon die Bereitwilligkeit Abrahams Gott gefallen (1. Mose 22, 16), wie muß ihm dann seines eignen Sohnes Gehorsam gefallen haben? Fürwahr, diese freiwillige Aufopferung (Joh. 10, 18) ist das vornehmste Stück des Gehorsams Christi (Eph. 5, 2.25; Tit. 2, 14); denn damit hat er den Willen seines Vaters erfüllt (Hebr. 10, 10; Joh. 17, 19; Hebr. 5, 8. 9). Die Zeit erlaubt es nicht, von dem Rat Gottes über das Leiden seines Sohnes, von der großen Notwendigkeit dieses Leidens und den darin liegenden hohen Geheimnissen und von dem herrlichen Nutzen viel zu sagen. Darüber hinaus aber hat uns unser Heiland ein Vorbild hinterlassen. Hat er aus Liebe zu unserm Heil diesen Gang auf sich genommen, hat er seinen Willen hierin seinem himmlischen Vater völlig aufgeopfert, hat er sich nicht geweigert um unsertwillen den Tod zu schmecken, hat er unverschuldeterweise so großes Leiden über sich ergehen lassen, o wie sollten wir nicht bereit sein, alles mit willigem Herzen zu tun und zu leiden, was die Vorsehung und der Rat Gottes über uns beschlossen und die Schrift uns verkündigt hat!
Durch die Sünde ist unser Wille unter die Herrschaft der Sünde geraten und gefangen und versklavt durch Satan. Christus, der Sohn, hat durch die Unterwerfung seines Willens unsern Willen freigemacht, so daß wir durch den Glauben an ihn recht frei werden können. Wie sollten wir diese Guttat nicht annehmen! Christus hat uns ganz und gar, also auch unsern Sinn und Willen, ihm zu eigen erkauft und seinem himmlischen Vater Untertan gemacht. Darum ist es ja billig, besonders weil wir sein heiliges Vorbild vor uns haben, daß wir unsern Willen dem Willen seines himmlischen Vaters ganz unterwerfen (1. Kor. 6; 2. Kor. 5; Matth. 6) und ihn uns allezeit gefallen lassen, daß wir unsern Willen verleugnen und seinen Willen tun, inneres und äußeres Kreuz willig leiden, gern mit ihm in den Tod gehen und nicht verwegen sind wie Petrus, sondern entschlossen wie Thomas (Joh. 11, 16). Auf diesen Weg treten wir durch die Buße. Wir wandeln auf ihm in der Nachfolge Christi und leiden alles, was er leidet (Hebr. 13, 13). Auf diesem Weg wird auch an uns erfüllt, was von der Herrlichkeit verheißen wird. Die diesen Kelch trinken, werden seinem Bilde gleich, tragen sein Malzeichen, gehen mit auf dem schmalen Weg, tragen seine Schmach, werden um seinetwillen getötet (Offb. 12, 11; Matth. 16; Hebr. 11) und werden mit ihm verherrlicht.
2. Die Frucht. Sie wird trotz allem herrlich sein.
Wer wollte daran zweifeln? Der Sohn Gottes, der Prophet mit der gelehrtesten Zunge, predigte ihnen in den deutlichsten und nachdrücklichsten Worten den Artikel, der der Grund unsrer ganzen Hoffnung ist. Dies ist nicht das erstemal, sondern das drittemal geschehen. Sollten sie nicht das erste und zweite Mal über diese Sache, die ihnen der Heiland mit so ernsten Worten eingeprägt hat, gründlich nachgedacht, die Propheten aufgesucht und untereinander darüber geredet haben, damit sie diese Predigt verstehen möchten? - Nein! Wenn wir nicht wüßten, daß Lukas aus göttlicher Eingebung geschrieben hat, möchten wir wohl sagen, daß er nicht genug Worte habe finden können, um es hinreichend darzulegen. Es war ihnen eine unbekannte Rede, eine fremde Sprache, als ob sie ihr Lebtag nie davon gehört hätten. Es war ihnen ganz verdeckt; denn sie hatten auch eine Decke vor ihrem Herzen (2. Kor. 3, 15). Zwar waren die Worte an sich selbst so leicht, daß ein siebenjähriges Kind sie hätte verstehen können; insofern möchte ihnen diese Rede nicht unverständlich gewesen sein. Nach dem rechten Sinn und der eigentlichen Absicht war sie ihnen aber verborgen; sie wären sonst durch die Rede in ihrem Glauben herrlich gestärkt und in der Nachfolge Christi und der Erkenntnis des göttlichen Rats befestigt worden. Es war aber bei ihnen nicht nur die natürliche Blindheit des Herzens, das nicht gern vom Leiden hört, sondern auch der bekannte vorgefaßte Wahn vom irdischen Reich Christi, mit dem sie die Predigt vom Tod Christi nicht reimen konnten (Luk. 24, 21). So hatten sie auch die frühere Verkündigung nicht recht verstanden und über den göttlichen Rat von der Erlösung des menschlichen Geschlechts nicht gebührend nachgedacht. Hätten sie nur diese Predigt recht verstanden, dann wäre gewiß der Streit wegen der beiden Söhne des Zebedäus unterblieben, Petrus hätte seine verwegene Tat an Malchus nicht ausgeübt, und Judas hätte den Herrn nicht verraten (Matth. 27, 3). Die ändern Jünger sind jedoch hernach zum rechten Verständnis dieser Lehre gelangt, als der Heiland nach seiner Auferstehung und der Tröster, der Heilige Geist, den der Vater in Jesu Namen gesandt hat, sie ihnen aufgeschlossen hat.
Ihr Beispiel lehrt uns indessen, daß wir von uns selbst nicht tüchtig sind, Christi Leiden würdig zu bedenken und die Predigt über das Wort vom Kreuz in fruchtbringender Weise anzuhören (1. Kor. 2 und 2. Kor. 4, 4). Dem äußeren Schall, dem Buchstaben und Wortlaut nach, wissen wir es alle, und jeder vernünftige Mensch kann es verstehen; aber es gehört mehr dazu, die Sache geistlich zu verstehen. Solange die natürliche Blindheit und Finsternis im Herzen noch die Oberhand behält, solange ist der Mensch untüchtig, das Leiden Jesu in würdiger Weise zu betrachten. Er ist besonders untüchtig, wenn noch andere Hindernisse dazukommen wie Trägheit, Unachtsamkeit, Mangel an geistlicher Betrachtung und Überlegung dessen, was man vorher gehört hat, fleischliche Vorurteile, Flucht vor dem Kreuz, Liebe zur Welt, Einbildung von eigner Gerechtigkeit und Unerfahrenheit in göttlichen Ratschlüssen.
Es ist darum notwendig, daß uns die Augen geöffnet werden und daß der Heilige Geist Christus und sein Leiden auch in uns verkläre. Da muß der Grund zur Erkenntnis der Herrlichkeit Christi und unsres großen Elends tief gelegt werden, damit dann Hochachtung vor dem Leiden Christi in uns entstehe. Da muß die Decke vor dem Verstand und vor dem Herzen hinweggetan werden; dann wird uns der rechte Verstand gegeben. Ohne diese Gabe kann ein Mensch hundertmal die Passionsgeschichte hören und nicht gebessert werden, ja auch nicht viel von ihr im Gedächtnis behalten. Wo diese Predigt recht verstanden wird, da äußert es sich durch die herrlichsten Früchte.