Beck, Johann Tobias - 24. Beichtrede vor Studierenden gehalten
„Demüthiget euch unter die gewaltige Hand Gottes! Den Demüthigen gibt Gott Gnade, aber den Hoffärtigen widerstehet Er! Wer sich selbst erhöhet, wird erniedriget werden; wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden.“
Es sind dieß, geliebte Freunde, öfters wiederkehrende Mahnungen des Evangeliums, die in der Tiefe aller menschlichen Gewissen wiederhallen; es sind dem Herzen eingegrabene Wahrheiten, die Jeden ergreifen, ehe er auch nur Zeit hat, mit eignen Gedanken ihren Eindruck abzutreiben oder vorzubereiten. Jene Aussprüche treffen auf einen unaustilgbaren Zug im Menschenherzen, der uns aufwärts zieht nach dem Hohen und Großen; aber sie decken uns zugleich auch auf, wie derselbe durch unsere Eigenliebe ausgeartet und verkehrt ist. Wir suchen unsre Größe in uns selbst, statt in der Unterwerfung unter unsern Schöpfer und HErrn, von dem wir Alles empfangen haben, was wir haben, und was wir nicht haben, allein empfangen können; wir verleugnen über dem Großen, das wir suchen, das Niedrige und Entehrende, das wir schon an uns haben in unserer Natur, in unsrem Sinn und Wandel; und diese eitle Selbsttäuschung macht uns eben untüchtig, die Wahrheit zu erkennen und zu ergreifen, die uns allein retten kann, nämlich die Gnade Gottes, die den Demüthigen sich zuneigt, Kraft aus der Höhe und Leben aus der Höhe ihnen mittheilt. Darum wendet das Evangelium, das Wort der Gnade und des Heils, gegen unsre eigenliebige Verblendung und Selbsterhöhung immer und immer wieder sein Schwert; es zeugt uns: erkennet die Höhe, von der ihr gefallen seid, und die Niedrigkeit, in die ihr versunken seid, damit ihr erkennet die Gnade Gottes, die euch allein wieder erhöhen kann. Wenn ihr euch selbst nicht erniedrigen wollt, so wisset und bedenket: die Sünde hat euch schon erniedrigt, und erniedrigt euch täglich, indem sie euren Geist mit allem seinem Hochstreben fesselt an die niedrigen, gemeinen Dinge von unten, beugt unter die Knechtschaft der Lüste, befleckt mit den unreinen Gedanken und Werken der Finsterniß. Das ist die schreiende Thatsache, die euer äußeres und inneres Leben euch predigt, und das ist die schreiende Schuld und Lüge der Hoffart, daß ihr diese Erniedrigung eures Selbstes, die euch innen und außen anklebende Sünde nicht zu Herzen nehmen wollt, darum auch nicht Buße thun könnt und Gott auf Gnade euch ergeben.
Da hat nun der Hader mit Gott seinen Anfang und Fortgang ohne Ende; und dieser stolze Hadergeist im Menschen kleidet sich in alle Formen einer selbstischen Weisheit und Gerechtigkeit, um sein Sprödethun gegen das Demüthigende der göttlichen Gnade vermeintlich zu rechtfertigen; aber die Wendungen laufen alle auf den Einen geheimen Herzensgrund zurück, daß wir die Sünder nicht sein wollen, die wir in der Wirklichkeit sind, des Ruhmes vor Gott nicht mangeln, den wir wohl haben sollten, aber nicht haben. Darum soll Gott nicht umgehen mit uns wie mit Sündern; die höchsten Forderungen der überspanntesten Heiligkeit und Vollkommenheit lassen wir gerne uns stellen, wenn man uns nur die Ehre anthut, von unsrer eignen Güte und Kraft das Höchste, selbst das Unmögliche zu erwarten! Aber das dünkt uns eine Schmach, das gewinnen wir uns so schwer ab, daß wir uns selber nehmen und nehmen lassen sollen in der Niedrigkeit und Sündhaftigkeit, in der wir thatsächlich stehen, daß wir nur durch Buße und Bekehrung sollen zu Ehren kommen, nur durch einen Mittler und Versühner, nur durch Vergebung und Erlösung, durch eine erbarmende Gnade, die nur in anerkannter Schwäche ihre Macht entfaltet, daß wir so nur auf dem Wege der Demuth und Selbsterniedrigung das Große, Gute und Hohe sollen erreichen können, nach dem unsre ganze Natur uns hinweist.
Aber so ist es, meine Theuren, anders geht es nicht mit uns in die Höhe, so gewiß es als unerschütterliches Gesetz aller Welt stehen bleibt, daß nur Wahrheit zum Ziel führt, nicht Lug und Trug, daß nicht eingebildete erheuchelte Kraft und nicht übertünchte Schwäche das Große vermag, welches Wesen und Bestand hat, daß vielmehr alles Mangelhafte, um zu bestehen und sich zu vervollkommnen, sich im Vollkommenen gründen, stützen und kräftigen muß, daß alles Unreine sich reinigen muß im Reinen, alles Niedrige und Gefallene sich aufrichten an der Herablassung des unbeweglich Hohen, alles Gebundene und Geknechtete frei werden muß durch eine frei machende Erlösung. Diese Wahrheit nun erkennen, auf sich anwenden und das Herz ihr unterwerfen, das, meine Freunde, ist Demuth, und dadurch gehen wir und Gottes Gnade in einander ein; unsre Niedrigkeit verschlingt sich in die Höhe Gottes, wie sie im Sohne in unsern niedrigen Sündenstand erbarmend sich herabläßt, und wir haben nicht von uns selbst, und doch wieder in uns selbst den lebendigen Weg unserer Erlösung und Reinigung, unsrer Freiheit und Vollkommenheit.
Das ist der große, theure Fund, den sich, wer ihn einmal hat, mit keinem Gut der Welt mehr abkaufen läßt, und wer ihn nicht hat, mit keiner Kunst und Keckheit der Selbsterhöhung sich ersetzen kann. Das ist das Ziel, dem in der göttlichen Weltregierung und Lebensführung alles Andre nachstehen und dienen muß, weil nur die Demüthigung unter die göttliche Gnade geeignet ist, die Welt und die einzelne Seele wieder zurückzuführen in die ursprüngliche Wahrheit, Höhe und Herrlichkeit des Lebens, welche durch unsere lügnerische Selbsterhöhung sich umgewandelt hat in einen nichtigen Schein und in eine Wirklichkeit, die für uns die erniedrigendsten Erfahrungen mit sich führt.
Auf eine Uebungsschule der Demuth ist es mit unserer ganzen Welteinrichtung und unserm Lebensgange angelegt. Die Größe einer unbezwinglichen Macht und einer unergründlichen Weisheit umgibt uns oben vom Himmel und unten auf Erden; und so selbstgenügsam wir immerhin über die alltäglichen Erscheinungen dieser Größe hinweggehen mögen, immer wieder entladet sie sich von Zeit zu Zeit in so niederwerfenden Schlägen, die auch den eitelsten, starrsinnigsten Geist durchzucken mit dem Gefühl seiner Kleinheit und Nichtigkeit, der Unmacht seiner Selbsterhebung, mit einer Ahnung der Wahrheit: Gott widerstehet den Hoffärtigen!
Und auch was wir so lange nicht verstehen und doch so häufig vorkommt, daß gerade edlere Seelen, die redlich und ernsthaft, selbst mit heißem Gebet und mit den christlichen Mitteln der Gottseligkeit an ihrer eigenen Veredlung und Vervollkommnung arbeiten, daß auch sie gerade in der Knechtschaft einer besondern Sünde sich gefangen sehen müssen, in die sie auch nach zeitweisen Siegen immer wieder und wieder zurückfallen - auch das hat seinen Grund in jener göttlichen Erziehungsweisheit, die gegenüber unserer unzerstörlichen Sucht der Selbsterhöhung auch mit den Besten unter uns nur dadurch zum Ziele kommt, daß sie sich demüthigen lernen unter die Gnade, und das immer von neuen Seiten, immer aufrichtiger und vollkommener. Eben im Feuereifer um das Gute, wo uns äußerlich so mancher Sieg und so manche Kraftthat gelingt, mißkennen wir am leichtesten das Verderben der Menschennatur in seiner tiefwurzelnden, niederdrückenden Macht, und verfallen nur um so eher gerade in die feineren Stricke des Irr- und Lügengeistes. Aber unter den Faustschlägen, die uns eine eingewurzelte Sünde unter allem unserm Ringen immer neu versetzt, da wird und bleibt uns die Tyrannei eines Erbfeindes und das Bedürfniß einer göttlichen Erlösung eine unvergeßlich ernste Wahrheit; es wird uns lebendig und immer lebendiger, was das göttliche Wort von Sünde und Versöhnung uns bezeugt; wir erfahrens, wir bedürfen Vergebung für einen Schuldbann der Sünde, der uns, wir mögen thun, was wir wollen, auf dem Gewissen bleibt und einen geheimen Schmerz vor Gott und Menschen in uns verewigt; wir erfahren ebenso, wir bedürfen einer Reinigung und Heilung des Herzens von dem Lustbann der Sünde, durch den sie über unsere besten Kräfte triumphiert. Und das macht uns die Gnade unsres HErrn Jesu Christi theuer und werth, zur göttlichen Weisheit und Kraft; wir sehen es ein, diese in der Welt und vorher wohl von uns selbst als Thorheit und Schwäche verachtete Anstalt leistet und schenkt der Menschennatur, was keine menschliche Vernunft und Willenskraft mit keinen Mitteln und Wegen erreicht.
An dieser Gnade Gottes unsers Heilandes lebt ein Friede in uns auf, den wir immer wieder erneuern können aus Jesu Christo, weil er die Versöhnung ist für die Sünde, nicht allein für die unsere, sondern für der ganzen Welt Sünde; es lebt eine dankerfüllte Liebe in uns auf, die ein Absenker und Widerschein der Erbarmung unsres HErrn ist, ein Glaube, der seine Macht und Stärke allerdings nicht in sich selber hat, sie aber unter allen Verhältnissen in Einen Punkt zusammenfaßt und behauptet, darin nämlich, daß wir unsern einzigen Mittler und Retter nicht lassen, sondern, wie es in uns und um uns aussehe, immer wieder neu, immer völliger Ihn ergreifen, in Ihn eingehen als in Den, in welchem unsre ganze Gerechtigkeit und Vollendung niedergelegt ist; eine Gerechtigkeit, die für uns wirksam ist in der ganzen göttlichen Weltregierung, und die ebenso in uns sich wirksam macht durch die Heiligung Seines Geistes.
Mit jedem neuen Blick in dieses gottselige Geheimniß, mit jeder neuen Erquickung, Reinigung und Stärkung daraus lernt man Gott danken, daß Er so gnädig ist, und lernt Ihm danken, daß Er, um uns Seine mancherlei reiche Gnade erweisen zu können, uns in die Demuth und immer wieder in die Demuth führt, sei es auch durch empfindliches Mißlingen unseres eigenen Strebens. Man betet an die Größe der Freundlichkeit Gottes, unsres Heilandes, dem kein Mensch so hoch kann fahren, daß er Ihn, den Herrn der Herren, zu sich herabzöge, und dem kein Mensch so niedrig steht, daß Er, der ein Knecht und Diener worden ist zur Erlösung von Menschenseelen, seiner sich nicht annähme. „Ich, der Hohe und Erhabene“ (spricht der HErr, deß Name heilig ist), „der ich in der Höhe und im Heiligthum wohne - ich wohne auch bei Denen, die demüthigen Geistes sind, auf daß ich erquicke den Geist der Gedemüthigten und das Herz der Zerschlagenen. Ich gebe den Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden; die Knaben werden müde und matt, und die Jünglinge fallen; alle Naturkraft versiegt und schwindet; die aber auf den HErrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie wandeln und nicht müde werden.“
Darum, meine Freunde, was soll uns aufhalten, der Selbsterhöhung zu entsagen, uns selbst zu erniedrigen und demüthig zu sein im Angesicht der Gnadengabe unsres Gottes, die sich uns öffnet? Wir wollen unsre Herzen beugen lauter und wahrhaftig, indem wir beten: Heiliger und gerechter Gott rc. (Württemb. Liturgie, S. 425.)