Beck, Johann Tobias - 23. Beichtrede vor Studierenden gehalten
„Mich hat herzlich verlanget, dieß Mahl mit euch zu halten“ (Luc. 22, 15.) - so, geliebte Freunde, dürfen wir Ihn jetzt unter uns denken, unsern HErrn und Heiland, Jesum Christum, dessen Tod mit Brod und Kelch verkündigt werden soll, bis daß Er wieder kommt. Und es ist nicht bloß ein schönes Bild, wenn wir Ihn so bei uns hier denken in der suchenden und segnenden Liebe, mit der Er die Seinen, die in der Welt waren, geliebet hat bis an Sein Ende - Er selbst, dieser nüchterne Zeuge der Wahrheit, der Feind aller unnützen Worte, der es einschärfte, daß von einem jeden solchen Worte müsse Rechenschaft gegeben werden im göttlichen Gericht, Er selbst versichert es: ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende, namentlich aber, wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Er ist lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und wandelt mitten unter den Leuchtern Seiner Gemeinde, steht vor der Thüre, die in unsere Herzen führt, und klopft an: „So Jemand meine Stimme hören wird, und die Thüre aufthun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir“ (Off. 1,18.20. 2,1. 3,20.).
Darnach verlangt Ihn, herzlich verlangt es Ihn, einzugehen zu uns, - das dürfen und sollen wir glauben, so schwer wir an eine reine göttliche Liebe glauben, weil uns bald unser Herz verdammt, daß wir kleinmüthig verzagen an jeder Liebe, die größer ist als unser Herz, der wir uns selbst nicht werth halten können; bald wieder in der Selbsterhebung des Herzens will es uns dünken, es sei unser würdiger, mit dem uns zu begnügen, was wir aus uns selber zu Stande bringen, und was von Rechtswegen uns zu gebühren scheint, statt uns nehmen zu lassen als Solche, die von fremder Liebe und Gnade etwas bedürfen und empfangen sollen. So, Geliebte, kostet es immer einen Kampf, eine Selbstüberwindung im Menschenherzen, gläubig sich zu öffnen der Liebe Jesu Christi, ihrem Suchen nach dem Verirrten und Verlorenen, ihrem Bitten: laß dich versöhnen! ihrem Anklopfen: thu die Thüre auf, daß ich zu dir eingehe! Das kleinmüthige Herz hält sich dessen nicht werth, während das stolze Herz es nicht begehrt. Aber wer einmal durch die enge Pforte hindurchgebracht und überwunden ist von der Liebe des HErrn, der rühmt es dann auch:
Mir ist Erbarmung widerfahren,
Erbarmung, deren ich nicht Werth;
Das zähl' ich zu dem Wunderbaren,
Mein stolzes Herz hat's nicht begehrt.
Ich beuge mich und bin erfreut
Und rühme die Barmherzigkeit.
O wer von diesem Weg der göttlichen Erbarmung sich abgewandt hält, der gibt sich selbst auf im eigentlichsten Sinn, bringt den kostbarsten Theil seines Selbsts um's Leben, verunehrt sich selbst, indem er Gnade von Christus anzunehmen seiner Ehre zuwider wähnt. Ist doch das, meine Freunde, was Jesus Christus ist, nur unser eigen Bild und zwar in seiner Vollkommenheit und Reinheit, während es in uns in unreinen Banden und im Sterben liegt: darum dürfen wir wohl den Muth haben, aber auch die Demuth, Christum zu ergreifen, wie Er uns ergreift. Was wir Niedriges an Ihm und um Ihn sehen, darf uns nicht abstoßen, als wären wir darüber erhaben - es ist nur das treue, unverschleierte Abbild dessen, was wir selber sind, was wir aber in unserem Stolze mit schlechter Kunst und Lüge uns und Anderen verbergen wollen; es ist der treue Spiegel unserer Schwäche, Krankheit und Noth, unserer geheimen Schäden und Gebrechen, die in so vielen Jammergestalten der Menschheit immer und überall klar zu Tage kommen, aber auch außerdem Jedem von uns sich zu fühlen geben in Zeiten, wo ihn die Wahrheit in ihrer nackten Wirklichkeit übernimmt. Wie kann uns da ein Blick in uns selbst innerlich und äußerlich so unglücklich und wehrlos machen, kann uns zu ahnen geben, wie eine Hölle in uns gährt, die wir, wenn auch lange, doch nicht für immer, nicht unter allen Umständen werden niederhalten können; und wie muß am Ende auch der scheinbar Glücklichste und Kräftigste alle seine Plane, Anstrengungen und Werke ersterben lassen in unmächtigem Welken und Zergehen! Alle diese demüthigenden und bannenden Niedrigkeiten des Menschenlebens, mit denen die weltliche Weisheit und Kraft nicht anders sich abzufinden weiß, als durch Leugnen und Vergessen, durch Verstellung und Schein, durch eitles Fliehen und Fernehalten - sie alle ließ der HErr in Seiner Liebe an Sich kommen, nahm sie auf Sich, trug sie an Sich und Andern in aller Demuth, Sanftmuth und Geduld, und achtet die Schmach bis heute nicht, die eben dieses niedrige Bild Seines Lebens Ihm immer noch zuzieht von denen, deren eigenes wahrhaftes Lebensbild es nur ist, um deren willen Er alleine hinabstieg bis in die untersten Lagen und Zustände des Lebens. Und gerade darob, daß Er so teilnehmend und mitleidig, so anspruchslos und demüthig, so offen und unverstellt, als der wahre Menschensohn sich gibt, gerade darob können wir Ihn verkennen! können diesen Einzigen nachsetzen dem Hausen von Scheinmenschen, von schauspielerischen Weisen und Helden, die ihre und ihrer Brüder Sünde und Elend nur überfliegen wollen mit Worten und Gedanken. So lange wir so urtheilen, meine Freunde, ist die Wahrheit nicht in uns; wir werden wie eine Woge umhergeworfen von der Menschen Täuscherei und betrügerischem Spiel, und machen dafür den zum Lügner, der wahrhaftig genug war, von Lügnern sich kreuzigen zu lassen. Er kann uns nicht ergreifen und uns nicht angehören in Seiner Hoheit, so lange wir nicht zugestehen, daß die Niedrigkeit, die wir an Ihm sehen bis zum Tod am Kreuze, uns angehört, der Ausfluß und Ausdruck unserer eigenen Natur ist, der Fluch, den wir mit uns herumtragen und von uns aus nicht los werden. Wir müssen uns demüthigen in unserem Sinn, wie Er in That und Wahrheit demüthig war; wir müssen in Seiner Last und Mühseligkeit, die Er so unschuldig trug, unser Eigenes zu erkennen, und dagegen halten, wie wir den viel geringeren Theil, den wir zu tragen haben, bis heute nur mit eigener Verschuldung tragen, theils in Folge, theils im Geleite von mannigfaltigen inneren und äußeren Versündigungen.
Nehmen wir die Wahrheit an, wie sie uns beugt, uns aus unserem falschen, nichtigen Selbstruhm herausführt: dann kann sie auch uns heiligen, kann uns aus uns selbst erhöhen in das göttliche Lebensbild, wie es in dem ewigen Sohn für uns niedergelegt ist schon vor Grundlegung der Welt, und wie es im fleischgewordenen Sohn für uns erschienen ist in dieser abgefallenen und zerfallenen Welt. Was noch Edles und Hohes in unseren Seelen ringt mit den Niedrigkeiten unserer Natur und Welt, und theils in erfolglosem Streben nach Sieg und Erlösung sich abmüdet, theils in eitlen Selbstbespiegelungen sich verirrt und verzehrt: das kommt in Jesu Christo uns entgegen in einer Liehe, die keinen Flecken der Selbstsucht an sich trägt, und in einer Kraft, die sich durch alle Niedrigkeiten hindurch zum Siege verklärt hat; was in uns Ewiges und Göttliches, wie ein Fünklein unter der Asche glimmt, das hat sich in Ihm ausgebreitet als göttliche Sohnesherrlichkeit in menschlich vollendeter Tugend, Wahrheit und Gerechtigkeit. Es ist das Unsere, was uns auch in der Hoheit Jesu Christi entgegenkommt, ohne Ihn aber uns vollends verkommt, nachdem es schon von frühe an in dem eitlen Wandel nach väterlicher Weife uns abhanden gekommen ist; es ist unser unvergeßliches und doch unerreichbares Urbild, unser verlorener Ruhm, den wir vor Gott haben sollten, unser vergeudetes Erbe, dessen Entbehrung uns im tiefsten Grunde des Herzens darben macht, nicht im Frieden uns leben, nicht selig uns sterben läßt mitten im geistigen und leiblichen Gut, das wir uns aufhäufen. In Ihm, dem Hirten und Bischof unserer Seelen, soll das Verlorene uns wieder werden in einer Fülle, wie wir es noch nie hatten, wie es uns verordnet ist im ewigen Gedanken Gottes als das vollendete Ziel aller Seiner Wege und Gerichte! Wohl bleiben unsere Gedanken und Wege nicht nur weit zurück hinter diesem ewigen Gottesgedanken mit seinem heiligen Ziel; wir streiten sogar täglich dawider, entweihen es und stoßen es ab in der Ungöttlichkeit und Unreinigkeit unseres Herzens und Lebens, und so kehren wir seine heilige Schärfe wider uns in immer neuer Versündigung. Aber eben in diesen Widerstreit zwischen uns und Gott, zwischen unserem Seyn und unserem Ziel, eben in diesen für uns unauflöslichen Widerstreit tritt Jesus Christus als Mittler ein; Er nimmt uns, wie wir sind, damit wir uns Ihm geben können, wie wir sind, als Sünder, als Schwache, Verirrte, die das Ziel verfehlen, damit wir aufhören, uns selber zu rechtfertigen in falscher Scham und Ehrsucht, uns fort und fort verstricken zu lassen in Schein und Lüge, wodurch wir ein Greuel bleiben vor dem wahrhaftigen Gott! Für uns als Sünder ist Er geworden, was Er durch alle Seine Selbsterniedrigung Hohes geworden ist, unsere Gerechtigkeit, Heiligung, Erlösung. Er kann und will unser Stammgut, Sein göttliches Lebensbild uns wieder zuwenden, kann und will es aber in Keinen geben, derselbe lasse sich denn erst vergeben und immer neu vergeben, was er sündigt im falschen Triebe seines ungöttlichen Eigenbildes - das ist der Anfang der Wahrheit, die uns heiligen, frei machen, wiederbringen soll aus dem lügnerischen Scheinleben, in dem wir uns selbst die Ehre geben und unserem trüben, nichtigen Schattenwesen, statt Ihm, der da war und der da ist und der da kommt, von dem, durch den, zu dem wir und alle Dinge sind, der da ist in Allem, durch Alles und über Allem, der allein Heilige und allein Weise und allein Gewaltige! Er war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Er hat uns übersehen die Zeit der Unwissenheit: nun aber, da Er uns wissen läßt den ewigen Friedens- und Lebensweg durch Jesum Christum, nun gebietet Er Allen, Buße zu thun, und hält Jedermann den Glauben vor, ohne den kein Fleisch vor Ihm bestehen kann.
O wir haben viel zu lernen, meine Freunde, und viel zu verlernen, daß wir zum lebendigen Gott kommen und Sein Leben bleibend in uns haben; wir bedürfen viel Vergebung und viel neue Begabung, müssen Vieles uns aus- und anziehen, in uns tödten und lebendig machen lassen - aber die Hauptsache ist: sei und gib dich in Gottes Augen, wer und wie du bist; sei wahr, erkenne und bekenne deine Sünde und nimm den Einzigen an, der als ein Heiland der Sünder in der Weltgeschichte auftrat: so kommt Gottes Treue und Gerechtigkeit dir entgegen mit ihrer Reinigungskraft, die einen ungerechten Menschen gerecht macht; mit ihrer Gnadenkraft, die in der Schwachheit ihre vollendende Macht zeigt, mit ihrer Erneuerungskraft, die alles Alte verschlingt in eine neue Lebensschöpfung.
Wir haben den vor uns und bei uns, in dem Alles schon vollbracht und gegeben ist, was die Menschennatur aus ihrer Niedrigkeit erlöst und erhöht in das göttliche Leben, was die so tief uns anklebende Sünde sühnet und wegnimmt, und das heilige Geistesleben aus Gott uns einpflanzt. In dem Einen, Jesus Christus, erleben wir ein Sterben, das uns frei macht, und ein Auferstehen, das uns unsterblich macht; wir haben in Ihm das Ueberwinden des Alten bis zum Vergehen desselben, und das Neuwerden bis in's Ganze; und Er sucht uns und kennet uns und kommt uns entgegen als Sünderfreund und Bundesmittler; es verlangt Ihn, herzlich verlangt es Ihn, einzugehen in Sein Eigenthum und mit uns das Mahl zu halten, in welchem Er, der alle Dinge trägt mit Seinem Wort der Kraft, als wesentliche Speise und wesentlicher Trank Sein reinigendes und verklärendes Leben uns zu empfangen gibt, daß wir leben um Seinetwillen und vollkommen werden in Eines mit Ihm und mit dem Vater.
Nun Ihm, dem HErrn, der uns zuerst geliebet hat und der die Wahrheit siehet im Verborgenen und dem Demüthigen Gnade gibt, Ihm lasset uns entgegengehen und unser Herz im Gebet und Bekenntniß ihm öffnen:
HErr, Du erforschest mich und kennest mich; es ist Alles bloß und aufgedeckt vor Deinen Augen. Du weißt meine Thorheit, und meine Sündenschulden sind Dir nicht verborgen; ich aber erkenne sie nicht genugsam. Erleuchte mich zur weiteren Erkenntniß meiner selbst; stärke mich aber auch durch Deinen Trost, daß ich den Anblick meiner großen Sündenschuld und meiner tiefen Verderbniß ertragen könne, und bei diesem Anblick nicht im Unglauben vor Dir fliehe. Mein Gewissen klagt mich an wegen meiner Jugendsünden und wegen anderer Uebertretungen; gedenke aber, HErr, der Sünden meiner Jugend nicht zu meiner Verurtheilung, und gedenke meiner Uebertretungen nicht zu meiner Verdammniß, sondern gedenke meiner nach Deiner Barmherzigkeit um Deiner Güte willen. Mache auch durch Deine überschwengliche Gnade gut, was ich verderbet habe; bringe diejenigen zurecht, die ich geärgert und verführt, oder mit denen ich gesündigt habe, damit sie mit mir Genossen Deiner Gnade werden. Vergib allen denjenigen, die mich beleidigt haben, und neige mein Herz zur neuen Liebe gegen meine Beleidiger. Gib mir auch den Glauben, welcher der Sieg ist, der die Welt überwindet, damit mich weder ihre Lockung noch ihre Verachtung von Dir abziehe, weder Menschenfurcht noch Menschengefälligkeit meine Bekehrung zernichte. Ach Gott! Du allein bist groß; an Deiner Gnade ist Alles gelegen; Du hast uns Christum, Deinen Sohn gegeben und wirst auch durch denselben die Welt richten. Darum demüthigen wir uns vor Dir und sprechen mit Deinem übrigen Volk das gemeinsame Bekenntniß der Buße. (Beichte aus der Liturgie, S. 424.)1)