Beck, Johann Tobias - 6. Rede am Grabe eines vom Schlag überraschten, äußerlich beengten Familienvaters.
Mergentheim, den 5. September 1831.
Psalm 39, 5.
Aber, HErr, lehre doch mich, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß.
In Christus Geliebte! So lange wir hier unten wallen, befinden wir uns in einer Schule, welche ein guter, weiser Meister eingerichtet hat gerade für das, was uns noth thut. Wir bleiben nicht für immer in derselben, sondern jetzt dieser, jetzt ein Anderer wird hinweggenommen, und - was dann dort drüben folgt, das hat kein Auge noch gesehen. Auch darüber, wie weit Jeder, der auf den Ruf von oben diese Erden-Schule verläßt, gelernt habe, was er hier unten lernen sollte und konnte - auch darüber steht uns kein Gericht zu, die wir Alle im Lernen noch begriffen sind; das Gericht ist dem Meister übergeben, und der wird recht richten. Wir sollen lernen, lernen auch vom Hingang derer, die mit uns wanderten durch diese Zeitlichkeit; und ob uns viele oder wenige der Jahre zugemessen sehen: die Aufgaben, welche unsrem inneren Menschen vorgelegt sind, sind einfach - dem Kinde schon sind sie beizubringen, klarer und leichter noch, als wenn die vielen Menschenkünste einmal ihr Spiel anfangen - auch werden die göttlichen Aufgaben immer auf's Neue uns vor die Augen gerückt und an's Herz gelegt, und doch, so alt wir werden, Keiner lernt sie aus.
Zu diesen von Gott uns gestellten Aufgaben, g. A., gehört namentlich auch die: bedenken zu lernen, daß unser Leben ein Ziel hat, und wir davon müssen. Die sich selbst nicht kennen, die meynen, ein oder zweimal von diesem „davon Müssen“ gesprochen, wäre genug - daß jede Leiche davon zeugen soll, halten sie für überflüssig. Wie aber, wenn der Regen soll in das Ackerland dringen, und der Sonne Strahl den Boden durchwärmen - wäre es denn genug, daß nur einigemal des Jahres die Sonne schiene und der Regen käme? Die Wahrheit, daß es ein Ende hat mit unsrem Pflanzen und Bauen hier unten, mit unsrem Suchen und Sorgen, Genießen und Leiden, Tändeln und Arbeiten - die Wahrheit, auch ein und abermal gesagt, auch hell uns vor die Augen gemalt, ist damit noch nicht beherzigt, noch nicht angewandt auf unser Tagewerk, noch nicht in Frucht verwandelt für unser eigenes Sterben.
Wir sollen vertraut werden mit dem Tod als einem Engel, der uns zu Gott führt, nicht bloß bekannt werden mit ihm als einem König der Schrecken, der uns niedermäht; um aber vertraut zu werden mit Etwas, dazu gehört anhaltender Umgang, und um den Engel Gottes zu erkennen in der Todesgestalt, dazu gehört ein vielgeübter Blick des Glaubens, der nicht sieht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, der Siegel und Pfand hat von der Herrlichkeit, welche über dem Grabe liegt, dem eine göttliche Freundes-Stimme im Herzen ruft: „ich lebe, und ihr sollt auch leben!“
Es ist dieß eine Perle, l. Freunde, des eifrigen Suchens werth für uns Alle, deren Seelen einmal Todesschatten überschatten wird! Sie bleibt verborgen vor deinen Augen, so lange Herz und Sinn gleichsam sich festgerannt haben in dieser Zeitlichkeit - da will der Mensch sich nicht gewöhnen an den Gedanken: „ich muß davon!“, und was für den Gang in die Ewigkeit zu besorgen ist, verschiebt er in gesunden Tagen auf die kranken Tage, und in den kranken Tagen auf das Sterbebett!
Frühe säe deinen Samen, den Samen der Ewigkeit, wenn die Frucht nicht unter der Hand dir entgehen soll. Der gestorbene Mitbruder, den wir hier in die Erde niederlegen - so stumm er in seinem Sarge liegt, er ist doch ein redender Zeuge an jedes Menschenherz: „rühme dich nicht des morgenden Tags, denn du weißest nicht, was heute sich begeben mag.“ Wir wissen es Alle, wie schnell und unerwartet ihm sein Ziel kam - eine Stunde noch vor seinen, Schlaganfall hätte Menschenverstand seine Lebenszeit auf mehrere Jahre noch schätzen können, und bald darnach mußte man die Stunden zählen, die sein Odem noch anhielt. HErr, lehre uns bedenken, daß wir davon müssen, uns, die wir nicht wissen, was heute noch sich begeben mag, viel weniger, was morgen sein wird!
Darum bestelle dein Haus für hier und dort, so lange es Tag ist: es kommt die Nacht, da du Nichts mehr thun kannst, und Andere für dich auch Nichts thun können. Lege einen Schatz dir an im eigenen Herzen, damit du in dir selbst eine gute Beilage habest zur Zeit der Noth; es wartet deiner eine Lage, wo von außen Nichts mehr dir kann beigebracht werden, keine Tröstung, kein Glaubenswort, kein Hoffnungsstrahl, und wo von innen, aus dir selbst heraus, an Andere Nichts mehr gebracht kann werden, keine Bitte, kein Wink, keine Frage, wo du allein bist mit dir und deinem Gott. Was hilft es da, diesen Gott gemieden zu haben, so lang Er dir rief, und seine Gnade dich einlud zum Leben in Ihm! Was hilft es da, in der Außenwelt Friede und Freude gesucht zu haben, und du hast den Frieden nicht gefunden, der das Seinige hat, wenn alle Sinne vergehen, und auf einen Freund sich stützt, wenn alle Menschenfreunde rathlos dich ansehen.
HErr, lehre uns bedenken, daß wir davon müssen! Keiner übergeht sein Ziel, Keiner, vom Weibe geboren, kann Bürgschaft geben auf morgen - was Gott scheidet, kann der Mensch nicht binden noch halten. Darum baue deine Hoffnungen und Plane nicht auf Menschenleben: du bauest sonst auf Sand! Kinder - euer Vater, eure Mutter lebt nicht ewig; ihre Sorge und Hilfe kann schnell ein Ende nehmen! Gattinnen, ihr wisset nicht, wie lange ihr eine Stütze habt am Manne; er muß folgen, wenn der HErr ruft! wer irgend auf Fleisches-Arm sich verläßt, kann sein Herz nicht stillen, wenn es den Weg des Fleisches geht. Bauet denn, ehe der Stoß kommt, auf den, der ein ewiger Fels ist, ein Vater der Wittwen und Waisen, ein Schirmherr Aller, die Ihn suchen und bei Ihm bleiben.
„In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ - so sprach der, der hier nicht hatte, wo Er sein Haupt hinlegte, und hinging, den Seinen die Stätte beim rechten Vater zu bereiten. So weit Gott spricht: „es werde und bestehe,“ so weit reicht des Christen Vaterhaus, und ob du auch von deiner bisherigen Stelle verdrängt werdest, und geführet wirst, wo du ungerne hingehst, nicht Haus noch Gut hier unten eigentümlich hast - du bist und bleibst im Vaterhaus, und dein Herz findet Leben und Ruhestätte bei dem Vater, wenn es den Sohn nur hat und seinem Geisteszuge folgt.
Ach hier unten - wir treiben uns da, Geliebte, auf einem engen, schmalen Räume herum, wenn der Geist des HErrn unsrer Seele nicht Raum macht im Aufsehen zu einem Himmelreich! ach hier unten - nur zu oft drückt und dränget Einer den Andern: droben ist Freiheit, und die Stimme des Drängers wird nicht mehr gehört; hart sind der Menschen Gerichte, und wo sie Macht hätten, verschlößen sie Manchem das Vaterhaus: aber in diesem sind viele Wohnungen, und der bis in den Tod die Menschen liebte, schließt sie auf den mühseligen und beladenen Herzen, die zu Ihm kommen und seiner Stimme folgen.
Dem, der die Tobten lebendig macht, der uns erkauft aus des Todes Nacht, und zum Himmel ziehet durch Freud' und Schmerzen - sey Preis und Ruhm! und in allen Herzen walte sein Geist. - Amen.