Baur, Gustav Adolph - Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.

Baur, Gustav Adolph - Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.

Am 23. Sonntag nach Trinitatis.

Darinnen stehet die Liebe, nicht daß wir Gott geliebet haben, sondern daß er uns geliebet hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden. Ihr Lieben, hat uns Gott also geliebet, so sollen wir uns auch unter einander lieben. - Amen.

In Christo geliebte Gemeinde! Auf Veranlassung des Ausspruches unseres Herrn, daß der Prophet in seinem Vaterlande nichts gelte, habe ich euch neulich daran erinnert, wie durch die Macht der Gewohnheit auch das Außerordentlichste uns leicht gleichgültig wird. Wie sich das in Bezug auf die Person des Erlösers bei seinen Landsleuten gezeigt hat, so zeigt es sich bei uns in Bezug auf sein heiliges Wort, in welchem wir evangelischen Christen ja gleichsam den sichtbaren Stellvertreter unseres Herrn und Meisters erkennen. Wenn dieses Bibelbuch verloren gegangen wäre und heute erst wieder aufgefunden würde: wie würde sich Jedermann beeilen, den merkwürdigen Fund kennen zu lernen! Und nun es einem Jeden ohne Mühe zu Gebote steht: wie bekümmern sich doch so Wenige um die Schätze der Weisheit und Erkenntniß, welche es in sich schließt! Ein Wort aus diesem heiligen Buche aber ist doch wohl für die meisten, welche sich Christen nennen, ein beständiger Begleiter im Leben: ich meine das Gebet des Herrn. Und es schließt ja auch alle die großen und die kleinen Anliegen unseres Herzens in seinen einfachen und doch so tiefen und innigen Worten mit einer wahrhaft wunderbaren Bündigkeit zusammen. Schon dadurch, daß es uns den allmächtigen Gott im Himmel als unseren Vater anreden lehrt, schließt es uns den Himmel auf und verbürgt uns, daß wir als seine Kinder zu unserm Vater im Himmel Zutritt haben sollen. Die ersten Bitten flehen dann daß durch Heiligung seines Namens, durch das Kommen seines Reiches, durch die Erfüllung seines Willens auch unser irdisches Leben schon zu einem Wandel im Himmel geweiht werde. An die Bitte um unser tägliches Brod reiht sich die Bitte um das Himmelsbrod seiner Gnade, welche unsere Sünde und Schuld uns vergibt. Und wenn so durch die barmherzige Liebe des Vaters erst dieser tiefe Seelenschaden geheilt ist, dann lernen wir auch der Macht des Schöpfers vertrauen, daß sie uns erlösen werde von allem Uebel, denn sein ist ja das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Wäre dieses Muster aller Gebete von einem Menschen verfaßt, wir müßten es ein wahres Meisterstück von einem Gebet nennen. Es ist uns aber mitgetheilt durch den Mund des eingebornen Sohnes Gottes, und so ist es uns ein lautredendes Zeugniß von der wunderbaren und einzigen Klarheit und Tiefe seiner göttlichen Weisheit. Und doch, meine lieben Freunde, ist nicht auch dieses unvergleichliche Gebet des Herrn durch die Gewohnheit uns gleichgültig geworden? Sprechen es die Lippen nicht oft gedankenlos aus und ohne lebendige Theilnahme des Herzens? Es sollte nicht so sein, lieben Brüder! Und Eine Bitte steht darin, die uns auf eine sehr ernste Weise mahnt, daß es nicht so sein sollte. Es ist das die fünfte Bitte des Vaterunsers: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Damit geloben wir ja, daß, wie wir beten, daß der Vater im Himmel barmherzig sein wolle gegen uns. so auch wir barmherzig sein wollen gegen unsere Brüder. Müssen wir uns nicht sagen: Wie nach dem Worte des Apostels derjenige, welcher das geweihte Brod und den geweihten Kelch unwürdig genießet, sich selber das Gericht isset und trinket; so erbeten wir uns selbst das Gericht, wenn wir diese Bitte gedankenlos aussprechen und sie uns wicht eine fortwährende ernste Mahnung werden lassen zu erbarmender und vergebender Bruderliebe? Das hält uns denn Jesus Christus in unserem heutigen Texte sehr nachdrücklich vor. Der gnädige Gott aber wolle bei uns sein mit seinem Geiste, damit sein heiliges Wort nicht vergeblich zu uns spreche!

Lied: 488, 8.
Unser hoffendes Verlangen
Schreckt die Schuld, die uns beschwert.
So viel Böses ist begangen;
Sind wir denn des Guten weich?
Vater, laß dich gnädig finden,
Und vergib uns alle Sünden.
So sei dem. der uns gekränkt, Gleichfalls alle Schuld geschenkt.

Text: Matth. 18. 23-35.
Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm Einer vor, der war ihm zehn tausend Pfund schuldig. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, ließ der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und Alles, was er hatte, und bezahlen. Da fiel der Knecht nieder, und betete ihn an, und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen. Da jammerte den Herrn desselbigen Knechts, und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch. Da gieng derselbige Knecht hinaus, und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an und würgete ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht nieder, und bat ihn, und sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen, Kr wollte aber nicht; sondern gieng hin und warf ihn in's Gefängniß, bis daß er bezahlete, was er schuldig war. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt, und kamen, und brachten vor ihren Herrn Alles, was sich begeben hatte. Da forderte ihn sein Herr vor sich, und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie Ich mich über dich erbarmet habe? Und sein Herr ward zornig, und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlete Alles, was er ihm schuldig war. Also wird euch mein himmlischer Vater auch thun, so ihr nicht vergebet von euren Herzen, ein jeglicher seinem Bruder seine Fehle.

Dieses Gleichniß, meine lieben Freunde, ist recht eigentlich eine Erklärung des Herrn selbst zu der Bitte im Gebete des Herrn: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Nach dieser Erklärung wollen wir denn heute versuchen, in den Sinn dieser Bitte einzudringen. Unser Gleichniß zerfällt deutlich in drei Theile, Der erste Theil zeigt uns, wie liebreich der Herr dem tiefverschuldeten, ja völlig überschuldeten Knechte seine Schuld erläßt; der zweite, wie schlecht der Knecht solche Barmherzigkeit lohnt durch Unbarmherzigkeit gegen seinen Mitknecht; und der dritte, wie der Knecht dadurch der Gnade seines Herrn sich unwürdig macht und sie verliert. Und so lernen wir daraus erstens, wie unser Vater im Himmel nach seiner großen Barmherzigkeit gerne bereit ist, uns unsere Schuld zu vergeben, wie wir aber zweitens auch nicht versäumen dürfen, zu vergeben unseren Schuldigern, weil wir sonst drittens dem unbarmherzigen Gerichte verfallen, welches über den ergehen soll, der nicht Barmherzigkeit gethan hat.

I.

„Darum, so beginnt unser Text, ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte.“ Dieses „Darum“ weist auf das unmittelbar Vorhergegangene zurück. Da hatte nämlich Petrus Jesum gefragt: „Herr, wie oft muß ich meinen Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Ist's genug siebenmal?“ Und der Herr hatte ihm geantwortet: „Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.“ Christus sagt ihm damit, daß unter den Genossen seines himmlischen Reiches die Liebe herrschen müsse, die nicht rechnet und keine äußere Gränze ihres Wirkens kennt, sondern nur die Gränze, welche der heilige Geist selbst ihr steckt, durch den sie ausgegossen ist in unser Herz und der ihr Wirken eigentlich bestimmt. Und zur Erläuterung und Bekräftigung dieses Gedankens hat denn Jesus das Gleichniß erzählt von dem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Es geht aus diesem ganzen Gleichnisse deutlich hervor, daß unter diesem Könige der allmächtige Gott selbst zu verstehen ist. und der erste Theil zeigt uns eben, wie gerne Gott nach seiner großen Barmherzigkeit bereit ist, uns zu vergeben, unsere Bitte: Vergib uns unsere Schuld! gnädig zu erhören. - Und auch das, meine lieben Brüder und Schwestern, sollte uns allen deutlich sein, daß unter dem Bild des verschuldeten Knechtes wir selbst dargestellt werden. Das anzuerkennen, werden wir ja wohl gerade heute am wenigsten uns weigern, wo wir kaum erst mit dem bußfertigen und demüthigen Bekenntnisse unserer Schuld vor dem Angesichte unseres Gottes gestanden haben. Es war aber dieser unglückliche Knecht seinem Herrn zehn tausend Pfund schuldig, das sind mehr, denn zehn Millionen Thaler. Und Christus hat im Gleichnisse die Summe so hoch gegriffen, um uns damit zu sagen, daß dieser Mensch völlig überschuldet war, daß es ihm gänzlich unmöglich war, seiner Verpflichtung nachzukommen. Wir werden nicht läugnen können, Geliebte, daß wir alle in demselben Falle uns befinden. Denn was sind denn wir unserem Vater im Himmel schuldig? Schulden wir ihm nicht Alles, was wir haben und sind; Leben und Gesundheit, Kraft des Leibes und der Seele und alle Güter des äußern Lebens? Ja, das Alles sind wir ihm schuldig. Es ist ein Darlehen, das er uns gegeben hat, damit wir es gebrauchen zu unserem wahren Nutzen, aber auch in seinem treuen Dienst. Noch am neulichen Bußtage hat er uns durch den Mund des Propheten Micha zugerufen (6, 8): „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demüthig sein vor deinem Gott!“ Der Geist, den er uns gegeben hat, soll seinem ewigen Licht und Leben zugewendet bleiben und trachten nach der Erfüllung seines heiligen Willens. Die Glieder und Kräfte unseres Leibes sollen wir nicht der Sünde begeben zu Waffen der Ungerechtigkeit, sondern Gott zu Waffen der Gerechtigkeit, zu einem Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei (Röm. 6,13.12,1). Und mit den Gütern, die er uns geliehen hat, sollen wir wuchern als seine treuen Haushalter. Und hast du deinem Gott nun entrichtet, was du ihm schuldig bist? Es gibt keinen Menschen auf der ganzen Erde, der diese Frage mit Ja! beantworten könnte. Vielmehr müssen wir alle bekennen: Wir haben unsere unsterbliche Seele in den Dienst des vergänglichen Wesens begeben. Wir haben unsere Glieder und Kräfte der Sünde begeben zu Waffen der Ungerechtigkeit. Wir haben die Gaben der väterlichen Huld gemißbraucht im Dienste unserer Selbstsucht und unserer bösen Lust. Ja, wir sind der tief verschuldete, der völlig überschuldete Knecht in unserem Gleichnisse; denn wir haben unserem himmlischen König niemals bezahlt, was wir ihm schuldig sind, und wir können es ihm auch nicht bezahlen. Und darum müßte auch uns, wenn es nach strenger Gerechtigkeit gienge, derselbe Spruch der Verdammniß treffen, welcher ihn getroffen hat, da der Herr hieß verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und Alles, was er hatte, und bezahlen. Der Fluch des Gesetzes müßte den Ungehorsamen treffen und alle, die mit ihm in das Verderben seiner Sünde verflochten sind (5. Mos, 27, 26): „Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt, daß er darnach thut!“ Der gerechte Richter würde damit nur den Kauf bestätigen, welchen wir selbst eingegangen haben, indem wir uns verkauften in die Knechtschaft der vergänglichen Welt, der Sünde und des ewigen Todes. - Warum aber kommt der strenge Urteilsspruch des Königs nicht zur Ausführung? Unser Gleichniß sagt es uns in seinem weiterem Verlaufe: Der Knecht fiel nieder und betete den König an und sprach: „Herr, habe Geduld mit mir! Ich will dir's Alles bezahlen!“ Ach, Geliebte, der König wußte ja wohl, daß der überschuldete Knecht dieses in der Angst seines Herzens ausgesprochene Versprechen gar nicht erfüllen könne. Aber weil er sah, wie dieser arme Mensch niedergeschmettert war von dein Gefühle seiner ungeheuren Schuld, und wie er doch den guten Willen zeigte, seinen Verpflichtungen nachzukommen; so ließ er Gnade für Recht ergehen: „Es jammerte den Herrn desselbigen Knechtes und ließ ihn los, und seine Schuld erließ er ihm auch“ Und Gott sei Dank, meine lieben Freunde: wie wir von dem überschuldeten Knecht haben sagen müssen, daß wir selbst es sind, so können wir dasselbe auch von dem begnadigten Knechte sagen. Daß unser Vater im Himmel nicht mit uns handelt nach unserer Sünde und uns nicht vergilt nach unserer Missethat (Ps. 103,10), das erfahren wir täglich, indem er seine Sonne aufgehen lasset über Gerechte und Ungerechte und lässet regnen über Gute und Böse, und indem er uns trotz des Widerstrebens unseres trägen oder verstockten Herzens noch Gnadenzeit zu unserer Bekehrung gewährt. Aber er thut noch viel mehr, als dieses, Geliebte. Seine Langmuth verzieht nicht allein mit der gerechten Strafe; seine Gnade vergibt uns auch unsere Schuld, Denn er hat ja den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, hat die Strafe auf ihn gelegt, auf daß wir Frieden hätten, und hat also unter uns ausgerichtet das Wort von der Versöhnung, Und wenn unser eigenes Herz uns verdammet, so ist Gottes Gnade größer, denn unser Herz (1. Joh. 3, 29), und spricht uns von der Schuld frei. Wenn wir, wie der Knecht im Gleichnisse, unsere Hände betend zu ihm erheben und seine Gnade anrufen, wenn wir ihm zeigen, wie unsere schwere Schuld uns drückt, wie wir unsere Sünde uns leid sein lassen, und wie wir uns bekehren möchten zu seinem Dienst, so läßt er auch bei uns Gnade für Recht ergehen und nimmt den reuigen Sünder in Gnaden an. So gerne ist unser Vater im Himmel bereit, die Bitte seiner Kinder: Vergib uns unsere Schuld! zu erhören.

II.

Ich habe gesagt, meine geliebten Freunde, daß auch der begnadigte Knecht in unserm Gleichnisse wir selber sind. Aber dieses Wort wird doch wohl noch einer Einschränkung und näheren Bestimmung bedürfen. Es hatte seine volle Richtigkeit, insofern, wie der König im Gleichnisse diesem Knechte, so der Vater im Himmel uns seine Gnade zugewandt hat. Er läßt uns täglich seine Güte und Langmuth erfahren, er hat uns den vollen Reichthum seiner herrlichen Gnade aufgeschlossen in seinem eingeborenen Sohn. Das aber wolle Gott verhüten, daß wir diese Gnade nicht besser anwenden, als dieser Knecht. Denn wahrhaft begnadigt ist doch nur das Kind, auf dessen Gemüth die Gnade des Vaters die rechte Wirkung hervorbringt. Das heilige Feuer der göttlichen Liebe muß in dem Herzen des Begnadigten den harten Fels der Selbstsucht zersprengen, das Eis der Lieblosigkeit hinwegschmelzen, das Unkraut des Hasses und Neides, der Bitterkeit und Unversöhnlichkeit verzehren; mit Einem Worte: wem die große Bitte: Vergib uns unsere Schuld! erhört worden ist, der darf auch nicht versäumen, der muß sich vielmehr von ganzem Herzen willig zeigen, auch zu vergeben seinen Schuldigern. So ist es bei jenem Knechte nicht gewesen. Sondern als der hinausgieng. so erzählt unser Gleichniß weiter, da fand er einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig - hundert Groschen, also wenige Thaler nur, einem Menschen, dem eben erst Millionen erlassen worden sind! Aber, wenn auch zu den Ohren, zu dem Herzen dieses Menschen hat nie das Wort gesprochen-. (Luc. 6, 36) „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Er würget seinen Mitknecht und hat nur das harte Wort für ihn: .Bezahle mir, was du mir schuldig bist!„ Und ob dieser auch vor ihm niederfällt und ihn bittet: „Habe Geduld mit mir, ich will dir es alles bezahlen!“ Obgleich er also aus dessen Munde dieselben Worte vernimmt, welche er eben in der Angst seines Herzens selbst ausgerufen und auf welche er Erlassung gefunden hatte seiner eignen ungeheuren Schuld; es hilft nichts! Obgleich er selbst Gnade im vollsten Maße empfangen hat: seinem Schuldiger auch nur ein wenig Gnade zu erweisen, dazu kann er sich nicht verstehen, sondern er geht hin und wirft ihn ins Gefängniß, bis daß er bezahlete, was er schuldig war. Noch einmal: Gott verhüte, daß wir diesem Schalksknechte gleichen, der die ihm selbst zu Theil gewordene Gnade durch seine Unbarmherzigkeit so schmählich verläugnet! Und doch, meine lieben Brüder und Schwestern: ist Jemand unter uns, welcher sich von der Sünde dieses argen Knechtes so rein weiß, daß er wagen dürfte, den ersten Stein gegen ihn aufzuheben? Haben wir jederzeit nur dem Vorbilde des wahren Knechtes Gottes nachgelebt, der nicht wieder schalt, da er gescholten ward, der nicht drohete, da er litte, der Liebe hatte für seine Feinde, Segen für die, die ihm fluchten, Wohlthun für die, die ihn haßten, Fürbitte für die, die ihn beleidigten und verfolgten? Die Geldsummen, von welchen in unserem Text die Rede ist, sind nur gleichnißweise angeführt. Die Einwendung gegen die Empfehlung der Barmherzigkeit gegen unsere Schuldiger gilt also hier nicht, daß in Geschäftssachen doch Ordnung sein, daß da ein Jeder den übernommenen Verpflichtungen nachkommen müsse und daß man es darum mit der Nachsicht nicht zu weit treiben dürfe, weil mau sonst selbst nicht bestehen könne und weil sonst allem Verkehr und Handel und Wandel die unentbehrliche Grundlage des Vertrauens würde entzogen werden. Und doch, meine lieben Freunde, werden wir auch in dieser Beziehung wohlthun, nie zu vergessen, daß alle diese guten äußeren Ordnungen am Ende nur um des Menschen willen da sind, und nicht der Mensch um ihretwillen. Wenn es gilt, durch eine kleine Nachsicht einen Menschen in seinem Fortkommen wesentlich zu fördern, oder auch durch eine große Nachsicht einen Menschen von dem Untergange zu erretten, so ist es gewiß wohlgethan, von der Strenge jener Ordnungen etwas nachzulassen. Ja, ich möchte sagen, es ist dieß nicht bloß christlich und edel gehandelt, sondern auch klug, da ja kein Mensch wissen kann, ob nicht durch die Wechselfälle des Glückes über kurz oder lang er selbst in die Lage gebracht werden kann, ans das Wohlwollen Anderer rechnen zu müssen. Was aber der Herr unter dem Bilde der Schulden, die dem Schuldner erlassen werden, eigentlich meint, das sagt er uns am Schlusse mit deutlichen Worten, indem er die Seinen ermahnt, daß ein jeglicher von Herzen seinem Bruder seine Fehle vergeben soll. Er warnt uns damit, nicht den Splitter im Auge unseres Bruders zu richten, während wir den Balken in unserem eigenen Auge übersehen, und fordert uns auf, unser Gericht vielmehr gegen unsere eigenen Fehler zu wenden, und das Gericht über die Fehler Anderer dem zu überlassen, der da richtet Ganz besonders aber denkt er an die Fehler Anderer, aus welchen uns unmittelbar ein Nachtheil erwächst, an die Verkennung, die wir zu erfahren haben, an die Beleidigungen und Verfolgungen, die uns widerfahren, an die Zurücksetzung, die uns kränkt, an die Hindernisse, welche der Muthwillen oder die Bosheit Anderer einem redlichen Streben bereitet. Wer voll uns hätte nicht erfahren, wenn dergleichen uns trifft, wie da unser Herz im wilden Zorne aufwallt, oder sich zusammenzieht in grollender Bitterkeit, und wie es uns, sobald die günstige Gelegenheit sich bietet, versucht, volle Rache zu üben und den gedemüthigten Bruder den bitteren Kelch der Wiedervergeltung bis auf die Hefe ausleeren zu lassen? Und die Rache ist ja süß! Ja, die Rache ist süß, so sagt eine heidnische Gesinnung, die von dem Vater im Himmel nichts weiß und nichts weiß von seiner großen Barmherzigkeit, Für ein Christenherz aber gibt es nichts Süßeres, als die Versöhnung. Wenn einen Christen der Versucher zur Unversöhnlichkeit und zur Rache aufstacheln will, so gedenkt er, wie viel ihm der Vater im Himmel vergeben hat, wie viel er ihm täglich und stündlich noch vergeben muß; er gedenkt, wie das, worüber er mit seinem Bruder abzurechnen hat, verglichen mit der großen Schuld, die ihm erlassen worden ist, in der That nicht mehr bedeutet, als ein paar Groschen gegen Millionen Thaler. Und wenn dann die Thräne im Auge deines Schuldigers dir sagt, daß er selbst seinen Fehler sich leid sein läßt und daß er die Versöhnung mit dir aufrichtig sucht: wahrlich, du müßtest nie etwas in deinem Herzen erfahren haben von der großen Barmherzigkeit, womit dein Vater im Himmel deine Sünde und Schuld dir vergeben hat, wenn du nicht mit freiem und freudigem Herzen die Hand zur Versöhnung reichtest, wenn du nicht sprächest: „Da der allmächtige Gott meine große Schuld mir so gnädig vergeben hat, so darf ja auch ich nicht säumen, sondern muß von ganzem Herzen meinem Schuldiger vergeben; seine unerhörten Thränen und Bitten müßten mir ja sonst furchtbare Ankläger werden, vor dem Richterstuhle des heiligen und gerechten Gottes.

III.

Ja, Geliebte, so ist es: die Thränen und Bitten des unbarmherzig zurückgestoßenen Bruders werden unsere Verkläger vor Gottes Gericht. „Es wird aber ein unbarmherziges Gericht über den gehen, der nicht Barmherzigkeit gethan hat“ - dieser Spruch unseres Jacobus (2, 13) wird uns im dritten Theil unseres Gleichnisses erläutert und eingeschärft an dem Beispiel des unbarmherzigen Knechtes. „Da aber seine Mitknechte solches sahen, heißt es da, wurden sie sehr betrübt, und kamen und brachten vor ihren Herrn Alles, was sich begeben hatte.“ Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmet habe? Und sein Herr ward zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlete Alles, was er ihm schuldig war.“ Denn wer durch die Gnade, welche Gott ihm erwiesen hat, nicht auch Barmherzigkeit gegen seine Brüder üben lernt, der geht durch seine eigene Schuld der Gnade Gottes verlustig; der verfällt dem Gerichte, welches er in dem Gebete auf sich herabruft: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern! - Wenn wir sonach sagen müssen, daß nur der, welcher seinen Schuldigern von Herzen zu vergeben willig ist, auch bei Gott Vergebung für seine eigne Schuld finden kann, so müssen wir uns doch hüten, diesen Gedanken mißzuverstehen. Wir dürfen ihn nicht so verstehn, als ob wir durch unsere vergebende Liebe, oder gar durch äußere Werke der Barmherzigkeit Gottes Gnade uns verdienen könnten. Wie könnten auch unsere Werke verdienstlich sein vor Gott, da wir doch mit allem, was wir sind und haben, seine Schuldner sind, da wir doch, wenn wir Alles gethan haben, sagen müssen (Luc. 17, 10): Wir sind unnütze Knechte; wir haben gethan, was wir zu thun schuldig waren;“ ja da wir uns sagen müssen, daß wir infolge unserer Sünde völlig außer Stande sind, zu leisten, was wir Gott schuldig sind und was sein heiliger Wille von uns fordert. Vielmehr geht es mit der Vergebung Gottes ganz so zu, wie in unserm Gleichnisse. Gott schenkt sie uns zuerst aus freier Gnade, indem er unsere Sünde und Schuld uns nicht zurechnet. Aus freier Gnade hat er in seinem eingeborenen Sohne uns die Erlösung von der Sünde und die Versöhnung begründet, damit wir seine Gnade im Glauben an Jesum Christum ergreifen. Daß dieses aber wirklich von uns geschehen ist, das. meine lieben Brüder und Schwestern, müssen wir dadurch bezeugen, daß wir auch Barmherzigkeit gegen unsere Brüder fühlen und üben. Fehlt dieses Zeugniß, so ist das ein Beweis, daß unser Glaube kein lebendiger Glaube ist und daß wir darum auch an der vergebenden Gnade Gottes keinen wahren Antheil haben. Einem rechtschaffenen Christen wird durch die Gnade Gottes sein dunkles, kaltes und hartes Herz erleuchtet, erwärmt und erweicht. Durch den heiligen Geist wird die Liebe Gottes in sein Herz ausgegossen und auch die Liebe zu den Brüdern in ihm erweckt. Als ein Bild solcher rechtschaffenen Christen stehen in unserem Gleichnisse die Mitknechte des unbarmherzigen Knechtes da. Der heilige Geist in ihnen wird durch die Gesinnung und das Thun dieses Unbarmherzigen betrübt und bringt ihre Klage vor den gerechten Richter. Denn wie der heilige Geist den Gläubigen, wenn dieser nicht weiß, wie er recht beten soll, vor Gott vertritt mit unaussprechlichem Seufzen; so können wir auch den heiligen Geist betrüben, daß er uns vor Gott verklagt. Und daß wir ihn vor Allem betrüben durch eine die Gnade Gottes verläugnende unbrüderliche Unbarmherzigkeit, das bezeugt uns das Wort des Apostels (Eph. 4, 30 ff.): „Betrübet nicht den heiligen Geist Gottes, damit ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung, Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung sei ferne von euch sammt aller Bosheit. Seid aber unter einander freundlich, herzlich und vergebet einer dem andern, gleichwie Gott euch vergeben hat in Christo.“ O, meine Lieben, laßt uns doch den heiligen Geist nicht betrüben! Laßt uns seinem heiligen Walten nachgeben und folgen, damit er sich bezeuge in herzlicher, unverfälschter und versöhnlicher Bruderliebe! - Und laßt uns alle stets deß eingedenk sein, daß auch uns der Tag bevorsteht, da der himmlische König mit seinen Knechten rechnen wird! Wir sollten zu dieser Abrechnung in jedem Augenblicke unseres Lebens gerüstet sein; denn Keiner weiß ja, wann ihr Tag für ihn eintreten wird. Auch läßt es der treue Gott an Mahnungen dazu nicht fehlen. Die Stimme unseres Gewissens verstärkt er durch die mancherlei Gerichte und Trübsale, die er uns schickt und die uns erinnern sollen an die Vergänglichkeit dieses irdischen Lebens, damit wir, nachdem wir genug darnach getrachtet haben, unseren Frieden mit der Welt zu machen, uns nun auch einmal sammeln zu der Frage: Wie stehst du mit deinem Gott? Möchten wir doch diese Mahnungen nicht vergeblich zu uns reden lassen, meine geliebten Freunde! Möchten sie uns immer, möchten sie uns heute und zu dieser Stunde zu dieser Frage treiben: Ist kein Bruder da, der etwas wider dich hat? Bewahrest du gegen keinen in deinem Herzen einen bitteren Groll? Läßt du dich nicht oft hinreißen zu lieblosem Richten, zu schnödem Abweisen desjenigen, der deine Liebe sucht? Ja, Geliebte, laßt uns willfertig und versöhnlich sein gegen unseren Widersacher bald, dieweil wir noch bei ihm auf dem Wege sind, damit unsere Unbarmherzigkeit nicht unsere Verklägerin werde am Tage des Gerichts, damit wir nicht, weil wir selbst keine Barmherzigkeit üben, auch der Gnade unseres Gottes verlustig gehen und es uns ergehe, wie dem unbarmherzigen Knecht. Und wahrlich, meine lieben Brüder und Schwestern, wenn wir die Gnade Gottes von uns stoßen und aus eignen Mitteln bezahlen sollen, was wir ihm schuldig sind, so steht es schlecht um unsere Rechnung; so sinkt an der Wage in der Hand des Richters die Schale, welche unsere Sünden enthält, tief, tief hinab; so heißt die Summe unserer Rechnung: der ewige Tod! Laßt mich denn Alles, was wir aus dem Worte unseres Herrn heute gelernt haben, noch einmal zusammenfassen in die Worte des Apostels, dessen starkes und stolzes und trotziges Herz auch gebrochen worden ist durch die Macht der ewigen Liebe, so daß er aus einem Verfolger Christi und seiner Gemeinde der treueste und liebevollste Diener seines Herrn und seiner Brüder geworden ist. Paulus schreibet in dem Briefe an die Kolosser (3,12-45): „So ziehet nun an, als die Auserwählten Gottes, Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth, Geduld und vertrage einer den andern und vergebet euch unter einander, gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr. Ueber Alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Gottes regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen seid in Einem Leibe, und seid dankbar.“ - Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/b/baur_gustav/baur-23_nach_trinitatis.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain