Baumgarten, Michael - Wider Herrn Hofprediger Stöcker. - IV. Die ungeistliche Waffe.
Wir sollen das in die Welt versunkene Israel für seinen Gott zurückerobern, das ist der Kampf, welcher der Heidenkirche, deren Glieder wir sind, von Gott verordnet ist. Es ist klar, dass dieser Kampf nur mit geistlichen Waffen im strengsten Sinne des Wortes geführt werden darf. Hören wir nun zunächst, mit welchen Waffen gegenwärtig unter uns in der Judenfrage gekämpft wird. Die Präsidentenglocke, welche neulich für den bekannten Dr. Henrici gegossen ist, trägt die Inschrift: „schwingt, schwingt mich fort wie heut, das ist der Juden Grabgeläut“. Dieser Henrici hat in der Fürbitte Abrahams für Sodom den jüdischen Schachergeist zu entdecken geglaubt. Die „Deutsche Wacht“, ein Antisemitenorgan, schreibt unter der Überschrift: „Die Kirche und der Judenkrieg“ in Nr. 8 Folgendes: „Betrachtet man das alte Testament unbefangen, so ist es die abscheulichste Verbrecherlegende der Vorstellung Gottes entsprechend, der den Juden hilft, ihren ägyptischen Freunden die goldenen und silbernen Gefäße zu unterschlagen und ihnen befiehlt, ihre neuen Nachbarn in Kanaan zu morden und zu plündern, es findet sich unter all ihren Helden, vom Vater Abraham anfangend, nicht Einer, der nicht von Rechtswegen in das Zuchthaus gesteckt werden müsste, von David, vom König der Sch…. gar nicht zu reden. Ein Volk mit solcher Gottesidee und solchen Idealen würde keinen Vorwand haben, sich über allgemeinen Abscheu zu beklagen, wenn ihm nicht die christliche Kirche einen solchen geliefert hätte.“ Als sich gegen dieses wüste frivole Gerede eine christliche Stimme in dem Evangelischen Kirchlichen Anzeiger Nr. 10 von 1881 vernehmen ließ, hätte man erwarten mögen, dass die antisemitische Redaktion, die doch immer dem Antisemitismus den christlichen Mantel umzuhängen liebt, in sich gehen und den blasphemistischen Artikel desavouieren würde.
Nichts davon, die Deutsche Wacht verteidigt in Nr. 12 unter Bezeugung der Ehrfurcht vor dem Christentum und der evangelischen Kirche die Lästerung in Nr. 10, den folgenden Blödsinn noch hinzufügend: „Die Deutschen würden Christen sein, auch wenn Christus nicht gelebt hätte.“ Dass wir in solchen wüsten Ausbrüchen den ungeistlichen Kampf mit ungeistlichen Waffen vor uns haben, leuchtet sofort Jedem ein. Wir hören das Toben der alten Leidenschaft, jetzt zwar noch hinter dem eisernen Gitter, würde sie loskommen, dann gäbe es ein Blutbad. Dieselbe hat hübsche Namen, sie heißt Germanisch, auch sogar Christlich, aber auch die früheren Judenmörder trugen das Kreuz, wenn auch nicht im Herzen, so doch auf dem Latz. So tief sind wir also schon durch die wilden wüsten Ausbrüche der Antisemitismus heruntergebracht, dass dieses humane Jahrhundert an die Gräuel der mittelaltrigen Judenmassaker erinnert wird. Allein was hat dieses Barbarentum mit Stöcker zu tun? Wie milde, unschuldig und friedfertig klingen seine Erklärungen am 22. November 1880 in dem preußischen Abgeordnetenhause! Allem Anderen vorab lautet sein Bekenntnis: „ich bin als Geistlicher in diese Bewegung eingetreten“, welches Bekenntnis von vornherein alle Gedanken an offenbare Gewalt und Ungerechtigkeit abwehren scheint, jedoch auch andererseits die ganze Beteiligung einer um so strengeren Verantwortlichkeit unterstellt. Hören wir zunächst seine weiteren Bekenntnisse: „ich wünsche in der ganzen Bewegung nichts Anderes als den Frieden“; „ich habe die Bewegung in einen ruhigen, sehr ruhigen Fluss gebracht“; „ich habe die Judenfrage sehr milde behandelt“; „ich denke nicht daran, den jüdischen Mitbürgern irgend Etwas von ihrer staatsbürgerlichen Berechtigung zu nehmen“. So lautet die Rede des Herrn Hofpredigers. Was nun zuvörderst die letzte Versicherung anlangt, so steht dieselbe in offenbarem Widerspruch mit der folgenden Forderung in derselben öffentlichen Rede Stöckers am 22. November 1880: „Wir haben ein Recht zu fordern, dass dieser Staat als eine christliche Gesellschaft angesehen, von christlicher Obrigkeit regiert, nach christlicher Gesetzgebung behandelt wird.“ Um konkret zu reden so verlangt diese Forderung, dass die 8 jüdischen Reichtagsabgeordneten, welche an der Reichsgesetzgebung beteiligt sind, sofort ausgeschlossen werden; also diesen Mitbürgern Stöckers ihr gutes Recht genommen werde. Wir sehen zugleich, dass die Erklärung Stöckers in derselben Rede: „ich habe kein höheres Ideal für meine kirchliche Anschauung, als die Freiheit, die man mir abspricht“ nicht sehr ernstlich genommen werden darf. Stöcker irrt sich, nicht man spricht ihm die kirchliche Freiheit ab, er selber hat sie sich in derselben Rede abgesprochen, wie auch sonst und namentlich am 4. Februar 1881 in Berlin und am 16. März in Hannover. Wenn nun weiter Herr Hofprediger Stöcker auf Grund seiner Versicherungen über seine Milde in der Judenfrage sich selbst absolviert mit dem Satz: „für alles Übrige bin ich durchaus unverantwortlich“, so können wir das ihm nicht so hingehen lassen. Ist denn die landläufig gewordene Firma: Ruppel, Stöcker, Henrici ein leeres oder boshaftes Spiel? Wie kommt es, dass Stöcker, der über die Judenskandale Buch führt, sich nicht öffentlich und mit heiliger Entrüstung lossagt von den wiederholten Sakrilegien der Deutschen Wacht, in Vergleich mit welcher Strassmanns bittere Äußerungen über einige evangelische Geistliche unschuldig zu nennen sind? Stöcker hat sich nicht losgesagt von den Wüstheiten der Antisemiten, ja noch mehr, neulich las ich in dem „Staatssozialist“, der Stöcker sehr verehrt und verherrlicht, dass Stöcker in einer jüngst gehaltenen Rede das Zusammengehen der Christlich-Sozialen mit den beiden antisemitischen Vereinen für die nächsten Wochen proklamiert habe. Nach dem Staatssozialist Nr. 12 A. 1881 hat Stöcker am 18. März gesagt: „die beiden großen Vereine stehen mit uns im Kampf gegen den gemeinsamen Feind fest zur Seite.“ Also um gegen die Juden zu kämpfen, verbünden sich unter des Hofpredigers Stöcker Führung die Christlich-Sozialen mit den offenbaren Spöttern und Lästerern der Deutschen Wacht! Man erinnere sich an das Wort vom 22. November 1880: „ich bin als Geistlicher in die Bewegung eingetreten!“
Doch die ungeistliche Waffenführung, für welche der Geistliche Stöcker in erster Linie voll und ganz verantwortlich ist, zeigt sich noch weit schlimmer in der Solidarität Stöckers mit der Antisemitenpetition. Und hier ist Stöckers eigenes Gewissen zum Teil auf Seiten unserer Anklage. Er wurde am 22. November 1880 im preußischen Abgeordnetenhause gefragt: ob er die Antisemitenpetition unterschrieben habe und er sagte: Nein. In diesem falschen Nein war der Pulsschlag seines Gewissens. Sein Gewissen sagte ihm: als Geistlicher, als Christ befasse Dich nicht mit dieser Tat. Nichtsdestoweniger hatte er wider sein Gewissen sich beteiligt. Er war aber nicht so ehrlich wie Adam und Eva nach dem Sündenfall. Also er hat jenes Aktenstück unterschrieben, ob das nach den ersten Zehntausend oder vor denselben geschehen, ist absolut gleichgültig. Ebenso wenig ist es eine Rechtfertigung, dass er, wie er behauptet, niemals der Antisemitenliga angehört habe. Sein Geständnis vom 22. November 1880: „ich bin bei der Beratung über die Petition zugezogen, ich habe sie willkommen geheißen, ich habe sie nachträglich unterschrieben,“ dieses Geständnis verhaftet den Herrn Hofprediger solidarisch mit der schweren Sünde und Schuld der Antisemitenpetition.
Diese Petition, die es auf eine Million Unterschriften abgesehen, hat bei ihrem ersten Erscheinen lauten Unwillen und Widerspruch in weiten Kreisen hervorgerufen, man hat im Namen der Humanität, Bildung und Gerechtigkeit energisch gegen dieses schmachwürdige Aktenstück protestiert. Was mich betrifft, so treibt mich der Geist, als Christ und als Theologe die volle Schale meines Zornes über dieses Schriftstück, an welchem ein hochstehender evangelischer Geistlicher in hervorragender Weise beteiligt ist, auszuschütten. In Nr. II. verlangt die Petition, dass die Juden „von allen obrigkeitlichen (autoritativen) Stellungen ausgeschlossen werden und dass ihre Verwendung im Justizwesen, namentlich als Einzelrichter eine angemessene Beschränkung erfahre“. Wahrlich, es ist eines christlichen Geistlichen unwürdig, erst diese Petition zu unterschreiben und dann öffentlich im Parlament zu behaupten: „Ich denke nicht daran, den jüdischen Mitbürgern irgend Etwas von ihrer staatsbürgerlichen Berechtigung zu nehmen.“ Weit mehr aber, als die Petition selbst, entrüstet mich die motivierende Einleitung, für welche, da sich darin der Geist der Petenten ausspricht, Stöcker gleichfalls verantwortlich ist, weil er nach seinem Geständnis an der Beratung Teil genommen hat. In dieser Einleitung wird Christ und Jude entgegengesetzt und die Klage ausgesprochen, dass christliche Weltanschauung und christliche Überlieferung durch den fremden Stamm, dessen Weltanschauung materialistisch sei, gefährdet sei, dass das Ideal echter Frömmigkeit sich bereits zu verrücken beginne. In dieser Not wenden sich die Petenten an den „in Preußen und Deutschland mächtigen Einfluss des Reichskanzlers“, und was sie begehren, bezeichnen sie mit dem unvergesslichen Ausdruck „Emanzipation des deutschen Volkes von einer Art Fremdherrschaft“. Die Anrufung der staatlichen Hilfe wird noch verstärkt in einer Nachschrift, die mir zu Gesicht gekommen und die also lautet: „Wir versenden die Petition an sämtliche Organe, an die königlichen Landräte, Superintendenten usw. Wir haben allen Grund, das die von uns formulierten Bitten eine aufmerksame Berücksichtigung der Staatsregierung finden werden.“ Ein zum Himmel schreiendes Testimonium paupertatis spiritualis1)! Also „Emanzipation des deutschen Volkes von den Juden“ soll der mächtige Reichskanzler herbeiführen! Ich zweifle, ob in deutscher Sprache jemals ein Wort gesprochen ist, welches der deutschen Nation ein solches Brandmal der schimpflichsten Knechtschaft aufdrückt. Aber noch mehr kommt mein geistliches Blut in Wallung, wenn ich das schmachvolle Bekenntnis lese, dass christliche Weltanschauung, christliche Überlieferung, und echte Frömmigkeit von jüdischer Weltanschauung gefährdet und überwunden wird. Und Ihr wollt Christen sein, die berufen sind, den Namen ihres Herrn als die weltüberwindende Kraft Gottes zu bewähren vor Juden und Heiden! Ihr macht ja dem Namen Christi unnennbare Schande, so hört doch auf, Euch Christen zu nennen und sprecht mit Strauß: „Wir sind keine Christen mehr.“ Dass Ihr in der Tat nicht mehr Christen seid, offenbart Ihr weiter damit, dass Ihr für die Rettung der christlichen Weltanschauung, christlichen Überlieferung und echten Frömmigkeit Euch an die Hilfe der Staatsmacht wendet. Wisst Ihr denn nicht, das Ihr Euch dadurch in den Augen der Juden vollends lächerlich und verächtlich macht? Die Juden erhalten ihren Beschneidungsritus, ihre Speisegebote, ihre Festfeiern und Sabbate ohne Staatshilfe durch die Macht der Sitte. Was sollen die Juden von einem Christentum denken, welches sich bereits selbst als überwunden bekennt und um seine weitere Lebensfrist die Staatshilfe anbettelt?
Esra, den die Rabbiner den Ersten der Schriftgelehrten nennen, sagte zu seinen Volksgenossen, als es sich um eine gefahrvolle Reise handelte: „Ich schämte mich, von dem König Heeresmacht und Reiter zu fordern, uns zu schützen, denn wir hatten dem König gesagt: die Hand unseres Gottes ist über Alle, die ihn suchen“ Das ist semitisch, und jene Petition ist antisemitisch. Es hat sie aber leider ein evangelischer Hofprediger unterschrieben!
Der Oberkirchenrat in Berlin sollte ein Einsehen haben. und für Preußen einen Bußtag ausschreiben, und anordnen, dass die Christen wegen dieser unerhörten Schmach ihres Herrn, die in der Mitte der deutschen Christenheit zum Himmel schreit, Buße tun und Gott um dieser großen weit verbreiteten Sünde und Schuld um Vergebung anrufen sollen!
Ja, diese Petition ist die ungeistliche Waffe, mit welcher sich der Hofprediger Stöcker in seiner Behandlung der Judenfrage am Christentum versündigt hat.