Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Vierundzwanzigster Vortrag. Vor Pontius Pilatus.
Es ist ein christlicher Grundsatz, daß sich in dem Leiden Christi die Sünde und Bosheit der ganzen Welt offenbare und Jeder gut thue, in dieser Geschichte seinen eigenen Antheil an der Sünde der Welt zu erkennen, denn hier werde die Sünde am wahrsten erkannt und eben hier sei die Erlösung von der Sünde in unmittelbarer Nahe. Da es immer die besten und erleuchtetsten Christen gewesen sind, welche so geredet haben, so kann sich nur ein Jeder freuen, wenn er sich damit einstimmig weiß, und so begrüßen auch wir es als ein gutes Zeichen, daß wir gleichsam wie von selbst uns auf den bezeichneten Weg der Betrachtung in der Geschichte von dem Ausgange Jesu angewiesen finden. Oder sollte Jemandem die Gleichheit unserer Betrachtung mit der in frommen Liedern und Andachten geläufigen nicht einleuchtend sein? Das könnte doch wohl nur bei denen der Fall sein, welche das Mangelhafte in diesen gewohnten Beziehungen unserer Gegenwart auf jene heilige Vergangenheit für die Hauptsache halten, denn allerdings unsere Vergleichung der Gegenwart und Vergangenheit ist nicht mechanisch, sondern historisch, und ergibt sich uns aus der Vertiefung, in die vorliegende Geschichte mit innerer Nothwendigkeit.
Der Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit gegenüber, die in Christo Jesu ist, zeigt sich die Sünde der Menschheit als eine Sünde der Juden und als eine Sünde der Heiden, und diese beiden Mächte und Gestalten der Sünde vereinigen sich und so vollbringen sie das Werk der Finsterniß und Bosheit gegen den Heiligen und Gerechten. Die jüdische Sünde besteht wesentlich darin, daß sie das Geistliche in Fleisch verkehrt und darum in Todeshaß entbrennt gegen den, in welchem der Geist ohne Maß sein Wohnen und Walten hat. Wir haben schon früher bemerkt, daß diese Gestalt des Hasses die schlimmste und schrecklichste ist; wir haben gesehen: das ist der Haß Kains, der seinen Bruder erschlägt und die mütterliche Erde zuerst gezwungen hat, Menschenblut zu trinken. In Kam nun ist der Haß mit der Gewalt verbunden, seine eigenen Hände, haben den Willen seines Hasses ausgeführt. Nach der Sündflut hat Gott die Gewalt eingesetzt als Macht gegen den Willen des Hasses (s. 1. M. 9,6). die Inhaberin der höchsten Gewalt, die Obrigkeit, hat als Stellvertreterin Gottes die Pflicht und die Macht, dem Willen des Hasses zu wehren und im Nothfall das Schwert gegen denselben zu brauchen. Dadurch ist nun der Haß und die höchste Macht, welches beides in Kam vereinigt ist, auseinandergesetzt und die Macht als eine Macht göttlicher Gerechtigkeit dem Willen menschlicher Ungerechtigkeit entgegengestellt. Eben durch diese göttliche Auseinandersetzung der in dem Brudermörder verbundenen Potenzen ist die Entwicklung der Menschheit möglich geworden. Aber da der Schaden der Menschheit ein innerlicher ist, so kann er durch keine göttliche Anordnung, und wenn sie auch noch so heilsam und segensreich ist, gründlich geheilt werden. Dies kann nur durch einen Vorgang innerhalb der Menschheit geschehen, der eben so jämmerlich ist, wie der Abfall des Menschen von Gott, zugleich aber die Macht hat, jenen Anfang zu überwinden und den Fehlgang wiederherzustellen. Und um die Vollendung dieses neuen, seligen Anfanges der Menschheit zur Versöhnung der Sünde und Erlösung vom Tode handelt es sich bei dem Ausgange der Geschichte Jesu. Hier geht nun die Menschheit in die höchste Spannung auseinander: auf der einen Seite steht der Sohn des Menschen, der nicht durch den Willen des Mannes gezeuget ist, sondern empfangen ist vom heiligen Geist und geboren von der Jungfrau, sein Leben ist das Werk des Geistes und sein Fleisch ist Organ des heiligen Willens, er ist in voller Wahrheit und Wirklichkeit, was Abel vorbildlich war, der Gerechte (s. Matth. 23,35,. Hebr. 11,4), in diesem Gerechten ist die neue Menschheit beschlossen und ihm gegenüber steht die alte Menschheit, die zwar eine Vielheit ist, aber ihren Gegensatz zu einer einheitlichen Action auswirkt, dergestalt, daß das, was seit der Sündflut auseinandergehalten war, hier wiederum zusammengefaßt erscheint, wie es in Kain verbunden war, so daß die alte Menschheit der neuen Menschheit gegenübertritt als der Kam, der Sohn des Menschen durch den Willen des Mannes und des Fleisches. Was ich meine, ist einfach dieses: in den Juden ist der Ursprung des tödtlichen Hasses gegen Jesum und dieser Haß hat in dem von der höchsten Obrigkeit in Israel über Jesum gefaßten Todesurtheil seine Vollendung erreicht. Aber dieser Haß kann sein eigenes Todesurtheil nicht selber ausführen, durch ihre Unterwerfung unter die römische Herrschaft haben die Juden das Recht des Blutbannes verloren. Soll das Todesurtheil über Jesum ausgeführt werden, so muß die heidnische Obrigkeit dem Haß der Juden ihren Arm leihen. Freilich hat die römische Obrigkeit, wie wir aus der göttlichen Stiftung 1 M. 9,6 ersehen, ihre Macht lediglich im Dienste der Gerechtigkeit gegen den Willen und die That der Ungerechtigkeit. Soll sie also hier dem Willen der höchsten Ungerechtigkeit dienstbar werden, so muß sie zuvor ihre eigene Stellung und Würde aufgeben; und da sie dieses nicht auf eigene Hand thun wird, so muß sie dazu veranlaßt werden, nämlich von dem Hasse, welcher in der ganzen Action die Triebfeder ist. Das ist es, was wir heute zu betrachten haben, indem wir sehen werden, daß der jüdische Haß die heidnische Macht bestimmt, ihre eigene Stellung aufzugeben und sich dem jüdischen Haß dienstbar zu machen, so daß die Gewalt der römischen Obrigkeit die Hand wird, welche den Willen des jüdischen Hasses gegen Jesum ausführt. Während die Juden in dem Augenblick, da sie Jesum verwerfen, sich der göttlichen Würde ihrer Berufung und Heiligkeit entkleiden und den Willen des Fürsten dieser Welt zu ihrem eigenen machen, beruht ihr Thun und Handeln darauf, daß sie ihre Stellung als Volk Gottes mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit zur äußeren Geltung bringen. Die römische Obrigkeit, obwohl sie die höchste Macht ist in der Welt, macht sich selber unselbstständig und gibt sich einem fremden Willen hin, sie verläßt ihren von Gott angewiesenen Posten und verkehrt den Gebrauch der ihr verliehenen Macht in das Gegentheil. Die Sünde der Juden äußert sich in dem Trotze, der eine äußere Stellung, nachdem sie innerlich aufgegeben, wider Gottes Willen mit Starrheit festhält, die Sünde der Heiden in der Verzagtheit, die den von Gott angewiesenen Beruf feige aufgibt, und dadurch genöthigt wird Etwas zu thun, was sie eigentlich nicht will. Beide Sünden finden wir in Kam vereinigt: im Trotze spricht er zu Gott: „soll ich meines Bruders Hüter sein?“ und ein ander Mal spricht seine Verzagtheit: „meine Schuld ist größer, als daß ich sie tragen kann.“ „Des Menschen Herz ist ein trotziges und verzagtes Ding,“ das ist eine Erfahrung, die Jeder tausendfältig macht. Wenn sich aber Trotz und Verzagtheit vermählen, so gibt es allemal eine Frucht der Hölle. Wir übersehen hier schon, wie sich in dem großen Drama, in welchem sich die Sünde der Welt vollendet und ihre abgrundsmäßige Tiefe an das Licht des hellen Tages stellt, die traurige Erfahrung des täglichen Lebens abspiegelt und nach ihrem wesentlichen Gehalt zu erkennen ist.
So wie die Geburt Jesu unter der Macht des römischen Reiches stand (s. Luk. 2,1), so steht auch sein Tod unter derselben Macht. Wenn der Herr so oft sagt, er sei in die Welt gekommen, so meint er die Welt nicht etwa nur als einen Ort, als einen leeren Raum, sondern recht eigentlich als diesen Organismus, wie er von Gott geschaffen und durch die Sünde der Menschen geworden ist. Daß Jesus in diesen kosmischen Organismus eintritt und in demselben ein ganzes Leben führt, hat für ihn den Sinn, daß er das innere Wesen desselben, welches der widergöttliche Charakter ist, allseitig und vollständig erfährt. Dazu gehört nun auch wesentlich, daß Jesus der höchsten Gewalt der Welt unterstellt wird und dieselbe an seinem eigenen Leibe erfährt, indem sie an ihm ihren Willen thut. Dabei ist für ihn die Aufgabe, daß er den widergöttlichen Willen, den die Gewalt der Welt an ihm ausübt, als göttlichen Willen erkennt und festhält. Bei seiner Geburt ist die Einheit des Willens der Weltmacht und des göttlichen Willens ohne sein Zuthun zu Stande gekommen und aufgewiesen. Das kaiserliche Gebot, dem Maria mit dem Kinde unterstellt wurde, bewirkte, daß Jesus in der Stadt Davids geboren und dadurch sofort nach der Weissagung als Sohn Davids aufgewiesen wurde. Bei dem Leiden und Sterben kann der widergöttliche Wille in der Welt nur dadurch Organ des göttlichen Willens werden, daß Jesus als der Anfänger und Vollender des Glaubens (s. Hebr. 12,2) in der Erfahrung des widergöttlichen Willens den göttlichen Willen unwandelbar festhält. Diese Aufgabe trat sofort für ihn ein, als er in der Morgenfrühe von dem Synedrium dem römischen Procurator überantwortet wurde. Dies war die Fortsetzung und Vollendung des Verrathes, den Judas an ihm begangen. Judas hatte ihn durch die Schnödigkeit seiner Untreue aus dem sicheren Schutze seiner häuslichen Umgebung in die Hände seiner ihm feindlich gesinnten Volksgenossen übergeben. Und wie Judas seinen Herrn und Meister verrathen, so verrathen die Obersten der Juden ihren göttlichen König und stoßen ihn aus dem Hause Israels, indem sie ihn in die Hände der höchsten heidnischen Gewalt überantworten. Diese Gewalt ist die römische, welche nach der biblischen Anschauung das vierte und letzte in der Reihe der großen Weltreiche ist. Dieses vierte Weltreich wird von Daniel, dem Seher der Weltgeschicke, wie wir schon früher angedeutet haben, als das schlimmste und schrecklichste geschildert und ihm, wie auch bereits früher bemerkt, ein eiserner Charakter beigelegt. An der Spitze dieses Reichs steht der Kaiser von Rom und dessen Stellvertreter in Jerusalem ist Pontius Pilatus. Mit der Ueberlieferung an den römischen Statthalter geht Jesus über aus dem Bereiche Israels in den Bereich des Weltreiches, welches Israel gegenüber als das thierische Wesen und jetzt in seinem vierten Stadium als das zermalmende Eisen dargestellt wird. Wir dürfen es nach dem Bisherigen als Selbstverstand betrachten, daß Jesus diesen Uebergang deutlich erkennt und innerlich fühlt, wie er es bald auch leiblich erfahren und fühlen wird.
Johannes, der von der bisherigen Verhandlung nur die Einleitung bei Hannas berichtet hat, gibt uns über das Verhör vor dem heidnischen Gericht die anschaulichste Mittheilung. Am frühen Morgen beginnt die Verhandlung vor dem römischen Statthalter in seinem amtlichen Prätorium (s. Joh. 18,28). Billig wundern wir uns, den vornehmsten Mann in Jerusalem so früh in Geschäften zu finden. Die Erklärung dieses auffallenden Umstandes ist wiederum die Gewalt der jüdischen Leidenschaft gegen Jesum. Pilatus kennt bereits das jüdische Volk gut genug, um zu wissen, daß, wenn der religiöse Fanatismus erwacht in Jerusalem, die strengste Haltung der römischen Behörden geboten ist. Er ist daher sofort auf seinem Posten und wir schauen nun den großen Kampf zwischen dem jüdischen Trotz und der heidnischen Verzagtheit und wie die letztere endlich das Feld räumt und ihre Gewalt dem ungestümen Trotz zur Verfügung stellt. An der Spitze der jüdischen Bewegung stehen natürlich die Synedristen und ihnen zur Seite sind ihre Diener (s. Joh. 19,6), welche durch die Vorfälle der Nacht fanatisiert worden sind. Die Autoritäten, denen ihre Subalternen zur Unterstützung dienen, suchen das Volk zu bestimmen (s. Matth 27,20), und so kommt es, daß der ganze Volkshaufe in die leidenschaftlichste Wuth gegen Jesum hineingetrieben wird (s. Luk. 23,23. Joh. 18,40). Um diese plötzliche und entsetzliche Umwandlung des Volkes zu begreifen, müssen wir aber noch ein wichtiges Moment in Anschlag bringen. Als die Volkshaufen vor wenigen Tagen Jesum mit Begeisterung und Jubel als den König Israels begrüßten, sehen sie ihn reitend seinen Einzug halten; als sie ihn am Morgen von Betanien her im Tempel mit Spannung und Ehrfurcht erwarteten,. da bewegte er sich vor ihren Augen als der große Meister, der durch Wort und Werk die Obersten des Volkes beschämte. Jetzt aber sieht alles Volk Jesum gebunden vor dem römischen Procurator (s. Marc. 15,1). Der Umstand, daß Jesus sich hat binden lassen, ist in den Augen der Juden die handgreifliche Widerlegung und Vernichtung alles dessen, was sie Großes „und Hohes von ihm gedacht und erwartet hatten. Wenn wir finden, daß dies Eingehen Jesu in den Leidenszustand nicht bloß für Kaiphas ein unwiderlegliches Argument war, sondern selbst die Apostel erschütterte und irre machte, was sollen wir uns denn wundern, daß das Volk bei diesem Anblick aus dem Rausch der Begeisterung in die Raserei wüthigen Hasses übergeht?
Die Verhandlung eröffnet sich mit der Frage des Pilatus: „welche Anklage bringet ihr wider diesen Menschen?“ (s. Joh. 18,29). Die Hohenpriester antworten: „wäre dieser nicht ein Uebelthäter, wir hätten ihn dir nicht überantwortet“ (s. V. 30). Pilatus entgegnet: „nehmet ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz“ (s. V. 31). Pilatus hat aus dem Ganzen bereits so viel entnommen, daß diese Angelegenheit einen religiösen Charakter habe; und darum will er am liebsten damit unverworren bleiben, darum verweist er die Juden an die Selbsthülfe ihrer eigenen Jurisdiction. Die Juden antworten: „uns steht es nicht zu, Jemand zu tödten“ (s. V. 31). In diesen Worten liegt die Voraussetzung, welche die Juden später ausdrücklich aussprechen: „wir haben ein Gesetz und nach unserem Gesetz muß er sterben, denn, er macht sich selbst zu einem Sohn Gottes“ (s. Joh. 19,7). Die Synedristen aber merken bald, daß es für ihren Zweck nicht ausreichen wird, wenn sie den römischen Procurator lediglich zum Executor ihres Urtheils zu machen suchen, darum stellen sie die Sache so, daß sie die Frage auf das politische Gebiet hinüberleiten und dadurch das römische Staatsinteresse in diese Angelegenheit hineinzumischen suchen. Hier spielt die schlimmste Bosheit in dieser ganzen Agitation. Erstlich ist hier Verrath im ärgsten Sinne des Wortes, die höchsten Hüter und Wächter der dem Volke Gottes anvertrauten Schätze nehmen das edelste Juwel und übergeben es den Feinden des Reiches. Dieses ist das göttliche Königthum, welches diesem Volke verheißen ist, durch welches alle Gewalt des Unrechtes in den Weltreichen gebrochen und der Friede und der Segen in Israel und unter allen Völkern und Stämmen der Erde hergestellt werden soll. Das messianische Königthum, diese Vollendung aller Gnadengaben Jehovas, diesen höchsten Trost aller wahren Israeliten, dieses himmlische Ideal, dessen Name und Schatten hinreicht, um die Juden aller Zeiten zu begeistern, stellen die Hohenpriester und Obersten in Israel dar als einen Aufruhr gegen des römischen Kaisers Majestät, als einen Bruch des Weltfriedens, und diese Anklage erheben sie vor dem Tribunal des kaiserlichen Statthalters in Jerusalem. Noch nie hat ein Verrath eine so kolossale und finstere Gestalt angenommen, wie hier. Und welches ist der Grund? Der unbegrenzte Haß gegen Jesum, um diesen sicher zu verderben, überantworten sie das höchste Kleinod, das ihnen anvertraut, an die Feinde ihres Volkes und Reiches. Aus diesem Grunde sagt Petrus von den Obersten Israels, daß sie dasselbe an Jesu gethan, was Judas Ischariot, daß sie ihn verrathen haben (s. Apostelg. 2,13). Daß dabei auch offenbare Falschheit ihr Spiel hat, ist dann nicht weiter zu verwundern, ebenso wenig die offenbare Lüge. Ein falsches Spiel ist es, wenn diese jüdischen Volksobersten, welche die Römer und ihren Kaiser hassen und verabscheuen, sich anstellen als besorgt für die Autorität des römischen Kaisers, wenn sie die Miene annehmen, als wären sie loyaler, als selbst der römische Großbeamte in Jerusalem. Ja sie scheuen nicht die offenbare Lüge, indem sie vorbringen, daß Jesus dem Kaiser die Steuer zu entrichten verhindere (s. Luk, 23,2), während er sie vor wenigen Tagen mit den Worten: „gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gotte, was Gottes ist,“ stumm gemacht hat (s. Matth. 22,21.22). Wir sehen hier die Vollendung des priesterlichen und geistlichen Hasses, dieser schwärzesten Brut der Hölle. Es ist dies das entsetzliche Vorspiel der finstersten Nachtseilen der ganzen Menschheitsgeschichte und wir wissen, daß diese verderblichste und gefährlichste Bosheit sich so wiederholen wird, bis sie am Ende der Tage sich noch einmal in einem weltgeschichtlichen Acte vollenden wird. Diese hierarchische Selbstsucht segnet das Werk der Hölle mit dem Namen des heiligen Gottes und kann eben wegen dieses entsetzlichen Selbstwiderspruches alle Formen und Gestalten annehmen, sie kann das blutige Kleid der Revolution mit derselben Leichtigkeit und Gewandtheit tragen, wie das weiße Gewand der Legitimität, da sie weder das Eine will noch das Andere, sondern immer nur ihren eigenen Zweck, und alles Andere ihr nur Mittel ist für diesen Zweck. Darum kann dieser furchtbaren Macht auch Nichts auf Erden widerstehen, sondern nur allein der Glaube, Nun dürfen uns daher auch nicht wundern, wenn Pilatus vor dieser Energie des geistlichen Hasses aus einer Position in die andere verdrängt wird, bis er seinen letzten, Posten schimpflich aufgibt, er, der Stellvertreter des Herrn der Welt, dem die römischen Legionen und Adler zur Verfügung stehen, vor wehrlosen Priestern und zusammengelaufenem Volk!
Das, was den römischen Staatsmann veranlaßt, in die Untersuchung einzutreten, ist, wie gesagt, die politische Verdächtigung, welche die Hohenpriester vorbringen, und concentriert ist dieselbe darin, daß Jesus vorgebe, ein König der Juden zu sein. Es ist demnach die erste Frage des Pilatus an Jesum: „bist du der König der Juden?“ Jesus antwortet darauf mit einer Gegenfrage: „sagst du das von dir selbst oder haben es Andere von mir gesagt?“ (s. Joh. 18,33.34). Es zeigt sich hier wiederum dieselbe Freimüthigkeit in der Rede Jesu, wie vor Hannas, nur daß vor dem Hohenpriester der Vorwurf stärker war, als hier vor dem römischen Landpfleger. Aber ein Vorwurf liegt immerhin in der Frage Jesu an Pilatus. Sowie der Hohepriester wissen mußte, was Jesus frei und öffentlich gelehrt habe, so mußte Pilatus es wissen, wenn Jesus irgendwie eine politische Rolle gespielt hätte, welche dem römischen Procurator als Gegenstand seiner gerichtlichen Untersuchung erscheinen könnte. Jesus will also sagen, deine Frage macht mir ganz den Eindruck einer verdächtigen Denunciation, und damit hat er nicht bloß die Sache richtig getroffen, sondern zugleich seinem heidnischen Richter den Standpunkt einer gerechten Beurtheilung an die Hand gegeben. Pilatus gibt die Wahrheit der Andeutung Jesu völlig zu, jedoch so, daß er nicht ohne Empfindlichkeit seinen Römerstolz merken läßt. Er sagt: „bin ich etwa ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet, was hast du gethan?“ Der vornehme Römer gibt zu verstehen, daß ihm das ganze Judenvolk mit seinen Priestern und seinen Schwärmereien verächtlich sei, und es ihm daher nicht zugemuthet werden könne, zu wissen, ob sie sich mit der Idee von einem König herumtrügen und ob sie etwa einen Mann, den er als einen gebundenen und beschimpften vor sich hatte, dafür hielten oder nicht. Dabei ist immer die Voraussetzung, daß eine solche jüdische Schwärmerei nicht dürfe in die öffentlichen Verhältnisse störend eingreifen, wovon dem Römer bisher Nichts bekannt geworden. Deshalb fragt er schließlich Jesum geradezu: „was hast du gethan?“ Jesus antwortet: „mein Königreich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Königreich von dieser Welt, so würden meine Diener kämpfen, daß ich nicht den Juden überantwortet wäre, jetzt aber ist mein Königreich nicht von hier“ (s. V. 36). Völlig consequent formuliert Pilatus aus dieser Aussage die Frage: „bist du nicht also doch ein König?“ Und ebenso rund und einfach wie vor dem geistlichen Gericht antwortet Jesus hier vor dem kaiserlichen Tribunal: „du sagst es, ich bin ein König; ich bin dazu geboren, und dazu bin ich in die Welt gekommen, daß ich der Wahrheit soll Zeugniß geben. Jeder, der aus der Wahrheit ist, höret meine Stimme“ (s. V. 37). Zuvörderst wollen wir auch hier nicht übersehen, daß Jesus auch vor Pilatus mit seinem ganzen Ernst auf seine Selbstvertheidigung Bedacht nimmt, .daß auch hier keine Spur von gleichgültiger oder gar eigenwilliger Hingebung in das ihm bestimmte Verhängniß zum Vorschein kommt. Wirksamer für seine Freisprechung konnte er überall nicht reden, als er hier thut, wie sich dies auch aus dem Erfolg ergibt. Was sodann weiter den Inhalt dieses großen Bekenntnisses anlangt, so sagt er nicht bloß, daß er König ist, sondern auch, daß er ein Reich besitze, dieses sei zwar nicht von dieser Welt und werde daher auch nicht mit dem Schwert vertheidigt, Aber es sei doch ein wirkliches Reich, nicht ein eingebildetes, nicht in den Lüften schwebend, sondern innerhalb dieser irdischen Wirklichkeit existiere es, und habe nicht bloß einen weiten Umfang, sondern mache an jeden Menschen den Anspruch der unbedingten Unterwerfung. Pilatus fühlt es sogleich, daß der Anspruch, den das Bekenntniß Jesu von seinem Königreiche macht, auch ihm selber gelte. Dem sucht er sich aber sogleich zu entziehen durch ein Bekenntniß, welches den innersten Grund seines sittlichen Standpunktes enthüllt. Er fragt nämlich: „was ist Wahrheit?“ und damit wendet er sich von Jesu ab. Die verächtliche, halb höhnische Frage des vornehmen Staatsmannes: „was ist Wahrheit,“ zeigt uns den Abgrund, in welchen die hellenisch-römische Bildung, diese höchste Blüte der natürlichen Humanität hineingerathen ist. Auch der verirrten Menschheit ist das Bewußtsein der Wahrheit noch nicht abhanden gekommen, sie sehnt sich nach der Wahrheit wie nach einer verlorenen Heimath, und die Edelsten suchen nach der Wahrheit mit einem Eifer und Ernst, den Gold und Ruhm und Lust nicht zu erwecken vermögen, und wo Einer einen Strahl der Wahrheit aufgefangen, da sammeln sich um ihn lernbegierige Jünger. Nun aber war die jüngste und letzte Weisheit der Griechen, welche die vornehme Römerwelt begierig einschlürfte, daß man den bisherigen Hunger und Durst nach Wahrheit, welcher das Reinste und Beste in der Welt gewesen war, lächerlich machte, indem man sagte, so Etwas, wie Wahrheit gebe es überall nicht. Damit war denn das letzte Band, welches den Menschen mit dem Göttlichen und Himmlischen verknüpfte, zerrissen und es folgte von selbst der Wahlspruch: „lasset uns essen und trinken, morgen sind wir todt“ (s. 1 Kor. 15,32). Aus diesem Taumelkelch einer Weisheit, die von unten stammt (s. Jakob. 3,15), hat auch Pilatus getrunken. Man könnte nun denken, daß dieser weltliche Skepticismus des Römers für die Sache, um die es sich hier handelte, gar nicht ungelegen war. Denn war dem Pilatus die Wahrheit Nichts weiter, als eine träumerische Schwärmerei, so mußte ihm das himmlische Königreich der Wahrheit, zu welchem sich Jesus bekannte, erst recht ungefährlich und völlig unschädlich erscheinen, und er war gar nicht einmal des Gedankens fähig, daß, wenn Jesus innerhalb des Kaiserreichs ein himmlisches Reich der Wahrheit stiften wolle, dieses doch immer mit der absoluten Autorität der kaiserlichen Herrschaft in Conflict kommen könne. Und in der That ist auch die nächste Wirkung dieser Verzweiflung an aller Wahrheit und Gewißheit der Sache Jesu ganz günstig, Pilatus geht nach diesem Verhör zu den Juden hinaus und sagt ihnen: „ich finde an ihm keine Schuld“ (vgl. Luk. 23, 4). Aber Pilatus steht an einem Orte, wo er das Gute und Rechte nicht thun kann, wenn er nicht Macht hat, dem Bösen Widerstand zu leisten, und woher soll er diese Macht nehmen, wenn ihm Nichts mehr als wahr und gewiß gilt? So ist aber im Grunde jeder Mensch gestellt, es braucht Einer nicht gerade ein Tribunal oder einen Thron in Verwaltung zu haben, irgend ein Posten ist ihm immer angewiesen und hier muß er einmal das Böse thun, wenn er nicht Kraft hat, dem Bösen zu wehren. Darum ist die Feigheit ein Laster nicht bloß für Könige und Großrichter, sondern für Jedermann, und je corrumpierter und fauler der Zustand der Welt wird, desto verwerflicher wird die Feigheit (s. Offenb. 21,8).
Verfolgen wir zunächst die innere Haltung des Pilatus, so können wir nicht verkennen, daß dieser Römer kein gewöhnlicher Mann gewesen ist. Seinem staatsmännischen Blick und seinem Rechtsbewußtsein leuchtet es bei dem ersten Eingehen in die Sache sofort ein, daß die Hohenpriester selbstsüchtige Hintergedanken haben, daß dieser ihr ganzer Gerechtigkeitseifer und ihre vorgeschützte Legitimität ein leerer Schein sei. Matthäus schreibt von Pilatus: er wußte, daß sie Jesum aus Neid überantwortet hatten (s. 27,18). Aber auch Gewissensregungen finden wir in Pilatus und es zeigt sich, daß die unvertilgbare Macht dieser Gottesstimme in ihm noch stärker ist, als seine skeptische Theorie und Verzweiflung. Matthäus erzählt die bekannte Botschaft, welche die Frau des Landpflegers diesem während der Verhandlung zugehen läßt: „habe du Nichts zu schaffen mit jenem Gerechten, denn Vieles habe ich heute im Traum erlitten seinetwegen“ (s. Matth. 27,19). Ein merkwürdiges Wort von einer Römerin! Wie kommt eine Heidin und dazu die vornehmste Frau in Jerusalem darauf, sich im Traum mit einem jüdischen Rabbi zu beschäftigen? Wie kommt sie dazu, denselben in einem Augenblick, als die Obersten seines Volkes mit dem ganzen Haufen der Juden ihn zum Tode fordern und Niemand für ihn auftritt, einen Gerechten zu nennen? Es muß diese Römerin zu der damals nicht seltenen Klasse griechischer und römischer Frauen gehört haben, welche unbefriedigt von dem heidnischen Cultus der israelitischen Gottesverehrung ihre Aufmerksamkeit zuwendeten. Bei einer solchen Gemüthsrichtung erklärt es sich, daß diese Römerin in den letzten Tagen, in denen die Stadt Jerusalem über den Einzug Jesu und sein Auftreten im Tempel in großer Bewegung war, zumal in ihrer Stellung, Gelegenheit fand, Näheres über Jesum zu hören und zu erfahren, was ihr einen tiefen sittlichen Eindruck machte. Die Bezeichnung des Gerechten für Jesum führt uns auf das tiefste und bedeutendste sittliche Moment, welches das hellenische Alterthum in seinem Nachdenken erreicht hatte. Ich habe schon einmal auf den Ausspruch des Plato verwiesen, daß ein Gott den Anfang und Typus der Gerechtigkeit wiederherstellen müsse. Noch tiefsinniger und prophetischer ist folgender Gedanke desselben Denkers: die gewöhnliche Erscheinung der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit entspreche so wenig der Idee, daß vielmehr diejenige Ungerechtigkeit als die vollendete gelten müsse, welche ganz und gar in den Schein der Gerechtigkeit gekleidet auftrete, und derjenige sei der wahrhaft und vollkommen Gerechte, der eben nichts Anderes habe, als seine innere und verborgene Gerechtigkeit, seiner Erscheinung nach aber verspottet, verfolget, gemißhandelt und getödtet werde. Dazu nehmen wir noch ein Wort des Zweiten der griechischen Forscher, der neben Plato genannt zu werden verdient, des Aristoteles. Dieser sagt, der vollkommene Gerechte stehe so sehr über der staatlichen Ordnung und Verfassung, wie sie sich vorfinde, daß er dieselbe, wo er auftrete, sprengen müßte. Das ist die Weissagung der hellenischen Ethik auf denjenigen, der mitten in der fündigen Welt den Anfang und das Urbild der göttlichen Gerechtigkeit wieder aufgerichtet hat, der seinen Gehorsam vollendet hat als er unter die Uebelthäter gerechnet wurde, an dessen stummer und leidender Unschuld das jüdische Gemeinwesen wie die römische Staatsform als an einem Felsen zerschellet ist. Und wenn nun die Frau des Pilatus mit so sicherem Takte Jesum in dem Augenblick, als er von aller Welt verkannt wurde, einen Gerechten nennt und ihren Gemahl, während er auf dem Richterstuhl saß, eben so dringend als zart warnen läßt, sich nicht an dem Gerechten zu vergreifen, so müssen wir sagen, hier hören wir die Stimme des griechischen Gewissens, wie wir aus dem Munde des Pilatus, der einmal über das andere den Juden sagt, er finde kein Unrecht an Jesu, die Stimme des römischen Rechtes vernehmen. Wir dürfen auch nicht glauben, daß diese Warnung der Frau, welche fast wie eine Stimme aus der Geisterwelt in das Getöse und Getümmel der menschlichen Leidenschaft und Bosheit hineindringt, wirkungslos an dem Ohr des Pilatus verhallt sei. Ausdrücklich zwar berichtet Matthäus Nichts über eine solche Wirkung, aber thatsächlich läßt er sie sehr bestimmt hervortreten. Das letzte Wort, das wir nach der Erzählung des Matthäus über die Verurtheilung Jesu aus dem Munde des Pilatus vernehmen, ist dieses: „unschuldig bin ich an dem Blute dieses Gerechten“ (s. V. 24). Wir sehen, Pilatus hat den charakteristischen Ausdruck seines Weibes aufgenommen und ihre Warnung hat er so weit respectiert, daß ihm Alles daran liegt, wenigstens den Schein seiner Unbetheiligtheit an der Blutthat zu retten.
Weiter erkennen wir die innere Haltung des Pilatus darin, daß er sich über das spätere Schweigen Jesu sehr wunderte (s. Matth. 27,14), Als nämlich die Hohenpriester in ihren heftigen Anklagen gegen Jesum fortfahren, erwartet Pilatus, daß Jesus sich gleichfalls beeifern werde, sich zu vertheidigen, da es sich ja um sein eigenes Leben handelte. Nachdem aber Jesus das große Bekenntniß über sein Königthum vor Pilatus abgelegt und Pilatus darauf mit seinem Zweifel an aller Wahrheit geantwortet, sieht er alle weitere Selbstvertheidigung vor Pilatus für überflüssig an. Pilatus wundert sich so sehr darüber, weil er sich seiner wohlwollenden Gesinnung gegen Jesum bewußt ist, und er diese auch dem Betheiligten deutlich genug zu erkennen gibt, Jesu aber ist es sofort klar, was jenem selbst noch verborgen ist, daß all sein gutes Meinen, trotzdem, daß er auf dem höchsten Stuhle, den es dermalen in Jerusalem gab, seinen Sitz hatte (s. Joh. 19,13), wirkungslos war. Jesus sah schon die verborgene Brücke, mittelst deren die amtliche Vollmacht des Landpflegers wider seinen eigenen Willen mit dem bösen Rath der jüdischen Obrigkeit verknüpft war. Wenn also Pilatus über das Schweigen Jesu sich mehr wunderte als zürnte, so beweist dieses, daß er einen richtigen psychologischen Blick hatte und daß das Bewußtsein seiner Würde nicht kleinlicher Art war. Nur einmal sieht er sich veranlaßt, Jesum an seine Machtvollkommenheit zu erinnern, und auch hierbei ist sein Benehmen durchaus nicht gemeiner Art. Er hört nämlich unter Anderem von den jüdischen Verklägern, daß Jesus sich für einen Gottessohn halte (s. V. 7). Wäre die traurigste aller Fragen: was ist die Wahrheit? der ganze Pilatus, so konnte eine solche schwärmerische Ueberspanntheit, welche er von diesem Standpunkte aus in jener Ansicht Jesu von sich selber erkennen mußte, für ihn gar kein Interesse haben. Aber einestheils der unmittelbare Eindruck, den Jesus auf ihn macht, anderentheils der Wink seiner Frau, die offenbar Einfluß auf ihn hat, Beides treibt ihn aus seiner skeptischen Gleichgültigkeit und Verschanzung heraus. Als er von dem Gottessohn hörte, fürchtete sich Pilatus noch mehr, schreibt Johannes (s. 19,8). Man sieht also, die Furcht, Jesu zu nahe zu thun, ist die Grundstimmung des Procurators beim Anfang der Verhandlung und die Furcht nimmt noch zu, als er das vernimmt, was die Juden ihm als das schwerste Verbrechen anrechnen. Man sollte denken, wenn der, welcher in Jerusalem die höchste Gewalt in Händen hat, sich so sehr fürchtet, sich an Jesu zu vergreifen, so müßte es mit der Sache Jesu gut stehen. Aber wenn man es noch nicht weiß, so kann man es hier lernen, daß die Furcht der Mächtigen keine Macht ist, sondern die größte Ohnmacht. Als nun Jesus auf die Frage des Pilatus: „von wannen bist du?“ keine Antwort gibt, sagt Pilatus: „zu mir redest du nicht? Weißt du nicht, daß ich Macht habe dich zu kreuzigen und Macht habe dich loszulassen.“ Allerdings spricht sich hier das Selbstbewußtsein des Römers von seiner absoluten Machtstellung aus, aber selbst in diesem Wort fühlt man den Respect durch, den er für Jesum auch jetzt bewahrt und der ihn auch jetzt hindert, ihm mit verletzendem und rohem Uebermuth zu begegnen. Jesus macht ihn aber auf Etwas aufmerksam, woran er noch nicht gedacht, er sagt ihm: „du hättest keine Macht wider mich, wäre sie dir nicht von oben gegeben; darum hat der, welcher mich dir überantwortet, größere Sünde“ (s. V. 11). Die Meinung ist die, daß Pilatus seine Vollmacht über Jesum als eine von oben her gegebene ansehen müsse und deshalb für den Gebrauch derselben verantwortlich sei. Weiter sieht Jesus es bereits als ausgemacht an, daß Pilatus von seiner Vollmacht wider ihn Gebrauch machen werde, und deutet ihm an, daß er sich damit versündigen werde, nur daß seine Sünde nicht so groß sein werde als die des Hohenpriesters, der Jesum an die Heiden verrathen hatte und in diesem Verrathe noch immerfort begriffen war. Auch diesem, wenn auch immerhin mit Schonung ausgesprochenen, doch im Grunde scharf rügenden Worte Jesu gegenüber beharrt Pilatus in seiner inneren Haltung; er verräth in keiner Weise ein verletztes oder erbittertes Gefühl, vielmehr ist sein Gewissen getroffen, wenn Johannes in seiner Erzählung fortfährt: „von dem an suchte Pilatus ihn zu entlassen“ (s. V. 12). Pilatus läßt es übrigens nicht beim guten Willen, Jesum loszulassen bewenden, er macht wirklich Anstrengungen; wir bemerken einen dreifachen Versuch, seinen Willen durchzuführen. Der erste und wohlberechnetste Versuch ist die Gegenüberstellung Jesu und des Barrabas zur Auswahl für die Freilassung. Da der römische Statthalter nämlich am Osterfest den Juden einen Gefangenen loszugeben pflegte, stellte er ihnen die Wahl zwischen Jesus und einem Menschen, den die Evangelisten und Apostel als einen Ausbund von Ruchlosigkeit beschreiben (s. Matth. 27,7. Marc. 15,7. Luk. 23,19. Joh. 18,40. Apostelg. 3,14). Pilatus dachte sich ohne Zweifel, daß dieser Plan anschlagen müßte, er konnte sich nicht denken, daß das jüdische Volk einen Verbrecher dem vorziehen würde, gegen den Niemand etwas Böses vorzubringen vermochte. Aber er hat sich verrechnet und das gab ihm einen ganz neuen Begriff von der furchtbaren Gewalt des Hasses gegen Jesum, die in den Juden tobte; und einer solchen Entschlossenheit des Willens gegenüber mußte er seinen eigenen entgegenstehenden Willen sehr ohnmächtig finden. Indessen machte er doch einen zweiten Versuch. Als er hörte, daß Jesus seine Hauptwirksamkeit in Galiläa gehabt, sandte er ihn an Herodes, den Fürsten von Galiläa, der in Jerusalem anwesend war, indem er seinen Widerwillen gegen den Idumäer bezwang (s. Luk. 23,6-12). „Herodes, als er Jesum sah, ward er sehr erfreut, denn er wollte ihn längst gerne sehen, weil er Vieles über ihn gehört hatte, und er hoffte irgend ein Zeichen von ihm verrichtet zu sehen.“ Herodes fragte Jesum mit vielen Worten aus, erhielt aber keine Antwort, Hier ist das Verstummen Jesu am beharrlichsten und der großen Freude und Erwartung des Herodes gegenüber, mit dem er die erste Berührung hatte, vielleicht am merkwürdigsten; man sollte nämlich denken, wenn auch immerhin diese Stimmung des idumäischen Fürsten keine reine war, so hätte Jesus diese Gelegenheit benutzen können, sein Gewissen zu treffen, wie wir dieses so oft an ihm erfahren haben. Aber eben weil wir wissen, daß Jesus keine derartige Gelegenheit für sein heiligendes und belebendes Wort ungenutzt vorübergehen läßt, so bleibt uns nur übrig, in seinem beharrlichen Schweigen vor Herodes und seiner Begleitung das Gericht zu erkennen, welches Jesus über einen Zustand völliger Unempfänglichkeit hält. Herodes ist ein Mensch, dessen inneres Wesen aus wüstem Leichtsinn und finsterem Aberglauben zusammengesetzt ist, außerdem ist er befleckt mit dem Blute Johannes des Täufers; seine Freude, Jesum zu sehen, ist eine rein kindische Regung, ein Kitzel für seine Langeweile, ohne allen sittlichen Gehalt. Darum würdigt der Herr ihn keiner Antwort und belehrt und corrigiert damit diejenigen, welche es für christlich halten, das heilsame Wort Gottes Jedermann aufzudrängen, ohne zu fragen, ob eine Empfänglichkeit vorhanden sei und welcher Art diese Empfänglichkeit sei. Die Folge dieses beharrlichen Schweigens Jesu vor Herodes ist, daß er wie ein gutmüthiger und lächerlicher Schwärmer verspottet wird und zur Beschimpfung seiner vermeintlichen Königswürde mit einem weißen Gewande angethan wiederum zu Pilatus zurückgeschickt wird. Uebrigens zieht Pilatus daraus die Folgerung, daß auch Herodes keine Schuld auf ihn zu bringen vermag (s. Luk. 23,15) und er also seinen Zweck, ein neues Argument gegen die Verkläger Jesu aufzubringen, erreicht habe. Als aber dieses ohne Eindruck auf die Juden bleibt, sucht Pilatus durch Nachgeben in einem Geringeren seinen Hauptzweck zu erreichen. Er hätte bedenken sollen, daß er damit eine schlüpfrige Bahn betrete, auf welcher das Haltmachen außerhalb seiner Macht stände. Er wählt den Ausweg, daß er Jesum der Geißelung Preis gibt oder, wie er es beim Lukas ausdrückt, der Züchtigung (s. Luk. 23,16). Vor seinem juristischen Gewissen wird Pilatus diese Ungerechtigkeit damit entschuldigt haben, daß Einer, dem er zwar nichts Straffälliges beweisen könne, der aber doch die Wuth eines ganzen Volkes wider sich aufgebracht habe, sich irgend Etwas müsse zu Schulden kommen lassen haben, um dessen willen eine blutige Züchtigung und somit eine Befriedigung des allgemeinen Volksunwillens gerechtfertigt erscheinen könnte. Jesus wird also den römischen Kriegsknechten zur Geißelung übergeben und fühlt nun an seinem Leibe, daß er in die Gewalt des Thieres mit eisernen Zähnen gerathen sei. An diese Geißelung schließt sich nach dem Bericht des Johannes die grausame Verhöhnung seines israelitischen Königthums in der Aufsetzung der Dornenkrone und der damit verbundenen Mißhandlung (s. Joh. 19,1-5), welche rohen Gewaltthaten sich nach der Urtheilssprechung. wie Matthäus und Marcus erzählen, wiederholen und verschärfen (s. Matth. 27,27-31. Marc. 15,17-20). Nachdem dies Statt gefunden, macht Pilatus seinen letzten ernstlichen Versuch, Jesu das Leben zu retten. Indem er Jesum nach der Geißelung mit den Attributen seiner verhöhnten Königswürde dem Volke vorstellt, spricht er: „siehe, ich führe ihn zu euch hinaus, damit ihr erkennt, ich finde an ihm keine Schuld; sehet welch ein Mensch!“ (s. Joh. 19,4.5). Aber anstatt damit das Mitleid zu erregen, wie Pilatus offenbar beabsichtigt, wird durch diesen Anblick die Wuth der Hohenpriester und ihrer Diener nur noch gesteigert, sie schreien: „kreuzige, kreuzige ihn!“ (s. Joh. 19,6). Damit ist nun die Kraft des Pilatus erschöpft, seine schwächlichen Erklärungen: „was soll ich machen?“ (s. Matth. 27,22), „soll ich euren König kreuzigen?“ (s. Joh. 19,15), wollen nicht viel mehr bedeuten. Aus dieser seiner Ohnmacht wird er nun endlich zu einem Entschluß gedrängt dadurch, daß die Juden, im Fall er bei seinem Vorsatze, Jesum zu befreien, beharre, seine Loyalität zu verdächtigen suchen; „lässest du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht, wer sich selbst zum Könige macht, widerspricht dem Kaiser; wir haben keinen König denn den Kaiser“ (s. Joh. 19,12.15). Es ist nicht wohl denkbar, daß Pilatus durch diese jüdischen Insinuationen an sich sollte eingeschüchtert worden sein. Da sich auf alle Weise zeigte, daß das Königthum Jesu in seinem eigenen Volke keinerlei äußerliche und bedrohliche Gestalt und Wirkung habe, so hätte sich Pilatus von dieser Verdächtigung leicht reinigen können. Aber er hatte wegen anderer Willkürlichkeiten und Gewaltthaten kein gutes Gewissen und mußte deshalb die Anklage der Juden fürchten, welche ihm später auch wirklich gefährlich geworden ist. In seinem bösen* Gewissen, mit welchem sein Skepticismus im Bunde steht, liegt der geheime Strick, der ihn mit seiner ganzen Machtstellung wider besseres Wollen und Wissen an den bösen Willen und Rath der Juden ausliefert. Um seines bösen Gewissens willen, welches ihn auf dem Stuhl kaiserlicher Machtvollkommenheit verzagt und feige machte, ist er wie Ahab verkauft, das Böse zu thun (s. 1 Kön. 21,20.25). So klagte Mirabeau, als ihm die Aufgabe gestellt war, dem Strom der Revolution einen Damm entgegenzusetzen, über die Sünden seiner Jugend und mußte untergehen. Feigheit und Verzagtheit ist die Macht, welche den Pilatus zwingt, das Werkzeug des gräßlichsten Justizmordes zu werden, den die Sonne gesehen hat, und das Waschen seiner Hände in Unschuld ist nichts Anderes als das Selbstzeugniß, mit welchen er diese seine eigene Schande zum ewigen abschreckenden Denkmal besiegelt hat.
So ist denn Jesus gerichtet nach dem Gesetze Israels und nach dem Recht des römischen Reiches. Es sind dies die höchsten Normen der menschlichen Ordnung in der Welt, und diese beiden höchsten Normen der Gerechtigkeit bilden die beiden Balken, aus denen das Kreuz Christi gezimmert worden ist.