Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Neunter Vortrag. Die Seinen nehmen ihn nicht auf.
Der Evangelist Johannes schreibt: „Er kam in sein Eigenthum und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Er schreibt diese Worte in tiefer Wehmuth, denn die Seinen, welche ihn nicht aufnahmen, waren seine eigenen Volksgenossen, und außerdem wußte er, wie viel es ihm selber gekostet hatte, ihn aufzunehmen, wie schwer es ihm geworden, sich von seinem Volke loszumachen, um nicht etwa nur zu Jesu zu kommen, sondern ihn wirklich in sich aufzunehmen. Diese tiefe Wehmuth zieht sich durch das ganze weitere Evangelium hindurch, denn kein Anderer stellt den Kampf zwischen Jesus und den Juden, diesen Kampf auf Leben und Tod in so hellen und ergreifenden Zügen dar. Auch wir können nur mit derselben tiefen Wehmuth diesem Kampfe zuschauen und auch bei uns wird diese heilige Empfindung um so mehr Wahrheit und Kraft haben, je mehr wir inne werden, daß es nicht bloß vergangene und ferne Geschichten sind, die wir betrachten, sondern daß wir selber in diesen heiligen Kampf, um welchen sich Zeit und Ewigkeit, Himmel und Hölle bewegen, mit unserem innersten Leben tief verflochten sind.
Es sind die ersten Anfänge dieses Kampfes, in deren Vergegenwärtigung wir begriffen sind. Die großartige Eröffnung des Kampfes, die wir soeben betrachtet haben, führte uns gleich auf eine Höhe, von welcher herab wir sofort den Ausgang überblicken konnten. Es war das aber ein so überraschender und überwältigender Ueberblick, daß wir, was Alles darin enthalten ist, erst allmälig verstehen lernen, wenn wir nun mit Jesu in das Thal der ruhigen und stufenmäßigen Weiterentwickelung hinabsteigen und so nach und nach gewahr werden, wie er selber in jedesmaligem genauen Anschluß an das Vorhandene seinen großen Gedanken und Entschluß immer weiter zur Reife und Vollendung hinausführt.
Daß Jesus in sein Eigenthum kommt, das wurde auf dem Tempelberge zur unmittelbaren Klarheit erhoben. Jeder anwesende Israelit mußte in ihm den geborenen Herrn und Erben erkennen, der in dem eigentlichen Mittelpunkte des Reiches mit ursprünglicher Machtvollkommenheit zu wirken berufen sei. Aber eben so klar wurde hier auch das Andere, daß die Seinen ihn nicht aufnahmen. Denn diese Aufnahme ist nicht etwa nur eine geringere oder größere Beugung vor seinem Wirken und Reden, sondern vor Allem das Eingehen in seinen Sinn und Geist. Denn eben in diesem seinen Inneren ist er selbst mehr wie in irgend sonst Etwas und eben dieser sein Sinn und Geist ist es, was aufgenommen und angeeignet werden soll, und worin er selber in dem Menschen sein Wohnen und Sein fortsetzen will. Daran aber hat es bei Allen gefehlt, selbst bei den Jüngern, von denen Johannes erzählt, daß sie sein letztes Wort zwar ihrem Gedächtniß einprägten, sein Verständniß aber erst nach der Auferstehung gewannen. Wie allgemein nun, wie tief angelegt diese Nichtaufnahme Jesu mitten in seinem Eigenthum, nämlich in Jerusalem und Judäa, gewesen ist, das wird weiter deutlich aus dem, was auf den Act folgt und was wir heute unserer Erwägung unterziehen wollen. .
Zweierlei werden wir ins Auge zu fassen haben: zuerst müssen wir theils aus allgemeinen, theils aus besonderen Zügen erkennen, wie sich das Nichtaufnehmen Jesu bei seiner ersten Wirksamkeit in Jerusalem und Judäa gestaltet. Dabei werden wir nicht bloß auf Jesum selbst unseren Blick zu richten haben, sondern auch auf Johannes den Täufer, der eben in diesem Zeitpunkte seine Stimme wiederum sehr bedeutsam erschallen läßt. Anderentheils wird es darauf ankommen, zu sehen, wie sich der allgemeinen Nichtaufnahme gegenüber das Zeugniß Jesu behauptet, und auch in dieser Beziehung werden wir das Zeugniß des Täufers zu berücksichtigen haben.
Mit der Höhe des Tempelberges verläßt Jesus auch die Höhe seines gewaltigen königlichen Handelns, er fängt an in Jerusalem zu lehren und begleitet in der Weise der alten Propheten seine Lehre mit Wunderthaten (s. Joh. 3, 2). Ohne Wirkung war diese Thätigkeit keinesweges, im Gegentheil Johannes berichtet, daß Viele in Folge dessen an seinen Namen glaubten, indem sie die Zeichen sahen, die er verrichtete (s. Joh. 2, 23). Da wir nun früher gesehen, daß die ganze Offenbarung Jesu eben auf Glauben angelegt ist, so könnte man denken, daß bei diesen Vielen die Absicht Jesu erreicht worden sei und diese als ihn Aufnehmende betrachtet werden müßten. Indessen wie der Geist des neuen Testaments den Bogen der menschlichen Sprache auf das Höchste gespannt hat, wie überall, so auch in Bezug auf das Wort Glauben, so hat andererseits die neutestamentliche Sprache Biegsamkeit genug, um in die mannigfaltigen Schwankungen und Abschwächungen der gewöhnlichen Rede einzugehen, nur daß überall dafür gesorgt ist, daß der heilige Grundton der Wahrheit sich immerdar geltend macht und regulierend auftritt. So ist es auch hier. Indem Johannes über die Vielen, welche glaubten, gleich hinzufügt, „Jesus aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er wußte, was im Menschen war,“ gibt er sofort zu erkennen, daß er hier nicht im vollen Sinne vom Glauben rede, sondern in der Weise des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Da er nämlich für den Gedanken: „Jesus vertraute sich ihnen nicht an,“ dasselbe Wort gebraucht, welches Glauben bezeichnet, so will er schon durch diese Anspielung andeuten, daß der Glaube der Vielen nicht das gewesen ist, was Jesus vom Glauben verlangte. Jesus kann sich nur denen anvertrauen, welche durch den Glauben göttliches unvergängliches Wesen in sich aufgenommen haben. In dem Menschen von Natur dagegen, so vortrefflich er sonst immer sein mag, ist Nichts, dem Jesus sich hingeben kann, er weiß, daß kein Natürliches Raum hat, sein Vertrauen einzuschließen, er kann nur Göttlichem und Ewigem sich überlassen und dieses geht nur vermittelst des Glaubens in den natürlich gewordenen Menschen ein. Wenn Jesus sich also diesen Juden nicht anvertraut, so hat er vermöge seines menschenerforschenden Blickes erkannt, daß ihr Glaube an seinen Namen diesen seinen Namen wenigstens noch nicht in ihren persönlichen Lebensgrund aufgenommen hat. Die Aeußerung des Johannes, daß Jesus sich den glaubenden Juden nicht anvertraut habe, ist uns auch noch in anderer Beziehung und zwar eben in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Daß Jesus sich den Juden nicht anvertraut hat, kann Johannes nur wissen, wenn er voraussetzen darf, daß Jesus das Bedürfniß hat und kennt, sich Jemandem anzuvertrauen. Von Einem, der an sich selber genug hat, wird man nicht noch bemerken, daß er sich diesem oder jenem nicht anvertraut habe, weil er sie zuvor durchschaute. Johannes, der an seiner Brust gelegen, weiß es, daß die Liebe, die in diesem Herzen wohnt und waltet, eine wirkliche und ganze Liebe ist, die sich nicht bloß mittheilen, sondern auch in dem Anderen ruhen, sich selber finden und besitzen will. Damit kommen wir erst an diejenige Stäte, wo wir das Nichtaufnehmen Jesu von Seiten der Seinen recht verstehen lernen, diese Stäte, in welche wir eindringen müssen, wo wir unseren Standort zu nehmen haben, um das Ganze richtig zu überschauen, ist der unendliche Schmerz der verschmähten Liebe. Weiter erfahren wir, daß Jesus seine Jünger taufen läßt. Daß Jesus seine Jünger in eine Thätigkeit einführt, obwohl er sie erst eben in seine Gemeinschaft aufgenommen und sie noch ohnehin sehr unreif waren, beruht darauf, daß sie von vornherein lernen sollen, daß ihre ganze Unterweisung auf das selbstständige Handeln angelegt ist und alles Erkennen in diesem Kreise nur so weit gilt und Werth hat, als es sich im Leben und Wirken auszuweisen vermag. Unsere Theologie wird erst dann wieder gesund und tüchtig werden, wenn sie diesen Wink der evangelischen Geschichte sich wird vollständig angeeignet haben. Indessen würde Jesus die Jünger nicht zum Taufen veranlaßt haben, wenn diese Taufe sich nicht an eine Thätigkeit angeknüpft, die bereits im Gange war; wenn nicht diese Taufe die Fortsetzung der Johannistaufe gewesen wäre. Dieser Umstand gewährt uns einen weiteren Blick in die Auffassung der Sachlage auf Seiten Jesu. Er hat erfahrungsmäßig erkannt, daß der Schluß aller Vorbereitungen Israels, die Taufe Johannis keineswegs vollendet sei, er hat erfahren, daß Israel immer noch nicht vorbereitet ist. Was bleibt ihm übrig, als an seinem Theile in dieses Vorbereitungswerk einzutreten? Darum sendet er seine Jünger zu taufen. Auf derselben Erkenntniß beruht es auch, daß Johannes auf seiner einsamen Warte verharrt, obwohl er durch seine Taufe an seinem Theile den Angekündigten von Israel offenbar gemacht hat. Aber auch er muß es erfahren, daß keineswegs die Höhen abgetragen und die Thäler geebnet sind, damit der König seinen feierlichen Einzug halten könne. Darum fährt er in dem ihm aufgetragenen Werke ruhig fort. Die neue Taufe wird nun auf zwei verschiedene Weisen gehandhabt und es offenbart sich schon darin der tiefergreifende Eindruck, der von der Erscheinung Jesu ausgeht, daß die Taufe der Jünger Jesu mehr Eingang findet als die jetzige Taufe des Wüstenpredigers. Aber anstatt daß sich dieses als eine reine Förderung des Vorbereitungswerkes hätte gestalten sollen, zeigt sich die Unempfänglichkeit Israels darin aufs Neue, daß der Eindruck der Taufe der Jünger Jesu vielmehr zur Verwirrung ausschlägt. Zuerst sind es Johannis eigene Jünger, die anstatt sich über den Erfolg der Taufe Jesu zu freuen, vielmehr Anstoß daran nehmen (s. Joh. 3, 26). Als nun nachher auch die Pharisäer diesen Umstand benutzen, um das Ansehen des Täufers herabzudrücken, und Jesu eine Art von Rivalität unterzuschieben suchen, indem sie nämlich die heiligen Zeugen nach dem Maßstab ihrer eigenen Gemeinheit beurtheilen, hebt Jesus dieses Werk der Taufe auf, damit nicht aus dem, was er zur Förderung unternommen, ein allgemeines Aergerniß entstehe und das, was bereits vorbereitet war, noch gar wieder rückgängig machen möchte (s. Joh. 4, 1-3).
Diese äußeren Vorgänge, in denen sich das Nichtaufnehmen Jesu von Seiten der Seinigen offenbart, erhalten ihr volles Verständniß aus den beiden Zeugnissen, welche uns der Evangelist Johannes aus eben dieser Zeit mitgetheilt hat, aus dem Zeugniß Jesu vor Nikodemus und dem Zeugniß des Täufers vor seinen Jüngern. Diese beiden Zeugnisse müssen wir näher betrachten, um das volle geschichtliche Verständniß dieser Situation zu gewinnen. Nikodemus ist Einer von denen, welche an den. Namen Jesu glauben um der Zeichen willen, die sie sahen, denen sich Jesus aber nicht anvertraut. Als einen Solchen will uns Johannes ihn gleich bemerklich machen, da er ihn, nachdem er soeben bemerkt, daß Jesus wußte, was im Menschen war, und sich eben darum jenen Glaubenden nicht anvertraute, den Nikodemus mit Nachdruck als einen Menschen einführt. „Es war ein Mensch aus den Pharisäern, Nikodemus mit Namen, ein Oberster der Juden.“ So beginnt diese ewig denkwürdige Geschichte. An diesem Nikodemus sollen wir lernen, wie es damals zu Jerusalem stand, und an dem Zeugniß Jesu vor diesem Pharisäer und Obersten sollen wir inne werden, worauf es für alle Zeiten vornehmlich ankommt. Nikodemus gehört seiner Geistesrichtung nach zu den strengen Gesetzesbeobachtern, seinem Stande nach ist er ein Führer des Volkes, er gehört also in die Klasse derer, in denen sich der Haß gegen Jesum zuerst entwickelte und schließlich vollendete und welche sodann das ganze Volk in diese ihre Feindschaft hineinzogen. Da nun Nikodemus zugleich ein Glaubender ist und außerdem zu Jesus kommt, um sich mit ihm zu unterreden, so ist er ganz geeignet als ein Repräsentant des jüdischen Volkes zu dienen, an welchem wir deutlich übersehen können, was Jesu gegenüberstand und was das Aufnehmen seiner von Seiten der Juden hinderte. Nikodemus kommt zur Nachtzeit zu Jesu, offenbar weil er es wegen seiner öffentlichen Stellung nicht wagte am hellen Tage den Meister aufzusuchen. So rasch und so scharf hat sich bereits das Mißverhältniß der Volksführer gegen Jesum ausgebildet. Erst kurze Zeit ist er in Jerusalem zum ersten Mal als der Gesalbte anwesend, er hat den Tempel gereinigt, er hat sich durch Lehren und Wunderthun als Meister und Prophet in Israel bewiesen, Nikodemus muß das im Namen seiner Genossenschaft anerkennen und spricht dieses Bekenntniß als sein einleitendes Wort ans, so unwidersprechlich und so nöthigend ist dieser Eindruck seiner ganzen Erscheinung und trotz alledem ist Etwas in ihm, was den Obersten der Juden als schlechthin unleidlich erscheint, sie können dieses Etwas offenbar noch gar nicht definieren, aber daß es vorhanden ist, sagt ihnen ein scharfer untrüglicher Instinkt. So ist es denn bereits dahin gediehen, daß Jeder unter den geistlichen Großbeamten in Jerusalem seine Stellung würde gefährdet haben, der offenkundig mit dem göttlichen Meister eine Beziehung eingegangen wäre. Da Nikodemus bei Nachtzeit zu Jesu kommt, zeigt er damit, daß er selber gleichfalls unter der Macht dieses tiefen Mißtrauens und Mißverhältnisses seiner Genossen zu Jesu steht. Dieser thatsächliche Beweis seiner Stellung gilt mehr als sein reiches und correctes Wortbekenntniß. Die Unterredung zwischen Jesu und ihm bringt es auch deutlich zu Tage, daß Modernus aus diesem Bann seiner ganzen Stellung nicht herauskommt. Denn sobald er nun veranlaßt wird,, sein Bekenntniß zu Jesu göttlicher Meisterschaft wahrzumachen, zieht er sich jedesmal in seine eigenen Gedanken und Vorurtheile zurück; allen Versicherungen Jesu gegenüber hat er Nichts als Fragen und Zweifel zu bieten. Es kommt deshalb in dieser Unterredung zu gar keinem Fortschritt und von einem irgend gewonnenen Resultate kann gar keine Rede sein. Es fehlt diesem Pharisäer und Obersten bei seinem nächtlichen Gange an allem Licht, sein besseres Streben selber ist in sich unklar und dunkel. Es zeigt sich daher in ihm die ganze Macht der Finsterniß, welche das Licht nicht aufnehmen will. Desto heller leuchtet nun das Licht des Zeugnisses Jesu, zunächst um die nächtliche Finsterniß der Erde zum Bewußtsein zu bringen. Trotz alles Bekennens, welches Nikodemus in seinem und seiner Genossen Namen abstattet, spricht Jesus das schneidende Wort: „ihr nehmt unser Zeugniß nicht an“ (s. Joh. 3, 11). Noch bestimmter und schärfer lautet die Rede des Täufers über denselben Zeitmoment. Er sagt: „das Zeugniß dessen, der vom Himmel gekommen ist, nimmt Niemand an“ (s. Joh. 3, 32). Also das Annehmen des Zeugnisses Jesu, wie es Johannes der göttliche Herold des gesalbten Königs von seinem Volke verlangt, dieses rückhaltslose Annehmen, wie es dieser himmlischen Persönlichkeit gegenüber allein genügen kann, findet der Täufer bei Niemandem, bei seinen eigenen Jüngern nicht, bei denen nicht, die zu der Taufe der Jünger Jesu kamen, ja er wird auch die Jünger Jesu selber in seine Aussage mit eingeschlossen haben. Da nun auf die rechte und volle Annahme des Selbstzeugnisses Jesu Alles ankommt und ohne dieses etwas Entscheidendes nicht erreicht ist, so ist nach diesen beiden Zeugnissen der Stand der Dinge dieser: alle Zeichen und Wunder vom Himmel, alle Vorbereitung des Täufers, alle Selbstdarstellung Jesu, Alles, was er bis dahin bereits gelehrt und gewirkt hat, das Alles ist ohne den beabsichtigten Erfolg. Jesus und Johannes stehen allein in der Welt und beide sprechen wie aus einem Munde: unser Zeugniß nimmt Niemand an. Das ist ein thatsächliches Urtheil über die Welt, welches auch beide unverhohlen aussprechen, Johannes sagt: „wer dem Sohne nicht folgt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm“ (s. Joh. 3, 36). Er wiederholt also seine frühere Rede von dem Zorne Gottes und bezeugt aufs Neue, daß der Zorn Gottes auf Israel ruht. Jesus spricht von der Welt als einer vom Untergang bedrohten und von Allen als Solchen, die auf ihrem bisherigen Wege umkommen werden (s. Joh. 3, 16). Es dient aber diese Enthüllung des in der Welt vorhandenen Verderbens nur dazu, um die Tiefen und Weiten der göttlichen Offenbarung, die in Jesu ist, in einer bisher noch unbekannten Klarheit und Bestimmtheit heraustreten zu lassen. Das ist das Große in diesem Doppelzeugniß, daß die beiden einsamen Prediger, obgleich sie fühlen und wissen, daß ihre Stimme bisher in die Welt nicht eingedrungen, sondern wie vor einer Felsenmauer überall zurückprallt, dennoch nicht bloß nicht ablassen, sondern ihre Rede nur steigern. Der sicherste Beweis dafür ist der, daß sie nicht bloß die Thatsache dieser Erfolglosigkeit ohne Selbsttäuschung wahrnehmen und unumwunden aussprechen, sondern es sich angelegen sein lassen, in den Grund dieser Erfolglosigkeit einzudringen und auch diese Erkenntniß von den Wurzeln des Uebels ohne Rückhalt zu offenbaren. Beide Zeugen sprechen sich über den letzten Grund des Verderbens aus. Johannes sagt: „wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde“ (s. Joh. 3, 31). Der Mensch ist von der Erde genommen und durch den Hauch Gottes beseelt. Indem der Hauch und Geist Gottes das belebende und regierende Princip im Menschen ist, ist er damit berufen und befähigt, seinen irdischen Ursprung zu verklären, zum Geistigen und Himmlischen zu erheben. Seitdem aber der Mensch aus der Einheit mit dem göttlichen Geiste herausgefallen, hat er sich dieser Fähigkeit selber beraubt. Jetzt muß er daher nach seinem irdischen Ursprung angesehen werden, und es hat dabei sein Bewenden, daß so wie er von der Erde ist, er innerhalb dieses irdischen Ursprunges verharrt und nicht darüber hinauskommt. Das Höchste, was er leistet, ist seine Rede, in ihr ist noch am meisten von dem ursprünglichen Schöpferhauche übrig geblieben, aber selbst dieses Geistigste des irdischen Menschen bleibt in den Banden seines Ursprungs von unten her. Denn auch das Lichteste in dem menschlichen Worte wirft immer noch einen dunkelen Schatten und das Freieste in der Rede ist doch immer noch gebunden durch eine geheime Macht der Elemente dieser Welt. So schaut Johannes die Gegenwart des Menschen an. Jesus geht nicht bis auf die Schöpfung zurück, wohl aber auf die Geburt, und in diesem Ursprung des individuellen Lebens schaut er den Grund des Verderbens. „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch,“ sagt er (s. Joh. 3, 6). Er will selbstverständlich nicht leugnen, daß im natürlichen Menschen geistige Kräfte und Fähigkeiten sind, aber er behauptet, daß diese geistigen Kräfte und Fähigkeiten in das Wesen des Fleisches hineingezogen werden, so daß von der Totalität des Menschen doch nichts Anderes auszusagen ist, als dieses: sowie er vom Fleische geboren ist, so ist er wesentlich Fleisch. Was nun das Fleisch sei, macht Jesus aus dem Wesen des Geistes verständlich. Der Geist hat sein natürliches Bild in dem Winde, der sowohl in der alttestamentlichen wie in der neutestamentlichen Sprache mit demselben Worte wie der Geist bezeichnet wird. Der Wind ist eine Macht ohne nachweisbaren Ort des Ursprunges wie des Zieles, so gewiß sie sich unmittelbar fühlbar macht, so weist sie in unbekannte Regionen hinaus. Wenn nun dieses das naturgemäße Bild des Geistes ist, so ist fleischlich Alles, dessen Ausgang und Zielpunkt berechnet und nachgewiesen werden kann, und es liegt auf der Hand, daß nach diesem Maßstabe viele Dinge, die einen sehr geistigen Schein haben, als fleischlich gelten müssen. Es ist klar, daß nach diesen Urtheilen das Verderben einen durchaus allgemeinen Grund hat, daß es in der jetzigen Beschaffenheit der allgemein menschlichen Natur begründet ist und demnach Juden wie Heiden auf gleiche Weise darin verstrickt sind. Ferner leuchtet leicht ein, daß unsere beiden Zeugen nur dadurch befähigt fein können, dieser schrecklichen Wahrheit unverwandten Blickes ins Auge zu schauen, daß sie sich dessen klar bewußt sind, es sei eine Gottesmacht vorhanden, welche in diesen Grund des menschlichen Verderbens hinabreicht, um es zu entwurzeln und demnächst in derselben Tiefe des menschlichen Wesens das Leben des Geistes zu gründen. In der That bahnen sie sich durch ihr unerbittliches Gewicht über die menschliche Natur in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit nur den Weg, um das Vorhandensein jener Gottesmacht anzukündigen, und hier wird nun das Zeugniß Jesu ein Selbstzeugniß und das Zeugniß Johannis wird wiederum, wie es von Anfang her gewesen ist, ein Zeugniß für und über Jesum.
Jesus verlangt von Nikodemus und seinen Genossen, obwohl sie ihm ihren Glauben an seine göttliche Sendung bekennen, die Neugeburt von oben, und diese Forderung macht er immer wieder geltend. Er spricht diese Forderung von Anfang bis zu Ende mit solcher Bestimmtheit und Nachdrücklichkeit aus, daß Nikodemus sofort merkt, es sei eine wirkliche Geburt, ein wirklicher neuer Lebensanfang, mit dem innewohnenden Princip seiner Selbsterhaltung von Jesu gemeint. Als er nun dieser bestimmten Forderung immer wieder seine Zweifel und Fragen entgegenhält, sagt ihm Jesus: „du bist der Meister Israels und kennst dieses nicht?“ Als der Meister, der dem Volke gegenübersteht, mußte Nikodemus die Schrift kennen und somit alle die vielen Stellen der alttestamentlichen Bücher, welche auf eine andere als die natürliche Geburt hinweisen und deren Notwendigkeit für das Gott wohlgefällige Leben betonen. Es ist auch nicht wohl zu bezweifeln, daß Nikodemus mit diesen Aussprüchen bekannt war, aber er mit seinen Genossen hatte sich gewöhnt, die auf die Neugeburt bezüglichen Aussagen als bildliche und hyperbolische Einkleidungen einer Besserung und Erhöhung des inneren Lebens zu verstehen. Wir werden uns dieses noch eher vorstellen können, wenn wir bedenken, daß der Ausdruck und Begriff Neugeburt sogar auf dem natürlichen Gebiete vorkommt; so nennen sich die Braminen Dvidschas, d. h. Zweimalgeborene, und Goethe spricht von seiner Wiedergeburt in Folge seines Anschauens der Antike auf klassischem Boden. Ein völlig entsprechendes Analogon haben wir in dem kirchlichen Sprachgebrauch. Hier ist nämlich dieser Ausdruck ein ganz unvermeidlicher und obwohl er durch die neutestamentliche Geschichte und Schrift unwandelbar fixiert ist, so ereignet es sich dennoch, daß im Laufe der Zeiten der Begriff hie und da abgeschwächt und verflacht wird, daß er sich selber fast abhanden kommt. Es müssen daher von Zeit zu Zeit immer wieder Männer kommen, wie Großgebauer und Spener, welche das Geheimniß der Sache erfahren haben und aus ihrer Selbsterfahrung heraus die Grundlinien dieses wichtigen Begriffes wiederum feststellen. Auch unserer Zeit thut es sehr Noth, daß ihr das Auge für diesen Begriff wiederum geschärft werde. Nicht bloß die Rationalisten, sondern auch diejenigen, welche man jetzt als die Gläubigen insonderheit zu bezeichnen sich gewöhnt hat, haben den Begriff der Neugeburt oder Wiedergeburt von der Höhe seiner göttlichen Bestimmtheit sehr herabgedrückt. Es zeigt sich dies besonders darin, daß man wähnt, die Wiedergeburt denken zu können, ohne zugleich das neue Leben als den ganzen Menschen in jedem Augenblick umschließendes als nothwendige und unausbleibliche Folge zu setzen, als ob es eine Neugeburt aus dem Wasser und Geist geben könne ohne neues Leben, oder als ob das neue Leben, welches Christus das ewige nennt, nicht eine unauflösliche und ununterbrochene Continuität ist. Genug, man spricht tausendfach von Neugeburt und Wiedergeburt, ohne das, was nothwendig darin enthalten ist, zu meinen und zu wollen, man hat also den Namen, ohne die Sache zu kennen oder zu wollen. Dieser Wahn, der sehr verbreitet ist, kann nur aufkommen, wenn man die Wiedergeburt nicht eigentlich nimmt, sondern als eine Art erbaulicher Redefigur auffaßt. Einer solchen Auffassung begegnet es nun jedesmal, daß, sobald die biblische Forderung der Wiedergeburt als eine allgemeine aufgestellt wird, diese als etwas Uebertriebenes und im Grunde Unmögliches erscheint. Auf demselben Standpunkte steht Nikodemus. Aus der Eindringlichkeit und Nachdrücklichkeit der Rede Jesu, der einmal über das andere mit seinem Wahrlich, Wahrlich! seine Antwort einleitet, geht ihm klar hervor, daß Jesus die Neugeburt von oben ganz so eigentlich und wirklich nimmt, wie die natürliche Geburt von unten. Da er nun ferner ganz deutlich heraushört, daß Jesus zunächst an ihn selber diese Forderung, ohne deren Erfüllung Niemand das Reich Gottes sehen könne, richtet, faßt er seine Zweifel in aller Concretheit und sagt: „kann denn ein alter Mann, wie ich bin, wiederum in Mutterleib gehen und geboren werden?“ (s. Joh. 3,4). Auf die Frage: „wie mag solches zugehen?“ bleiben die beiden Zeugen die Antwort nicht schuldig und verlangen sie von allen Meistern in Israel zu allen Zeilen, daß sie sich aus dem Kreise ihrer natürlichen Anschauungen nicht vermittelst eingelernter Formeln und abstracter Gedanken, sondern jedesmal vermittelst ernstlicher und rückhaltsloser Hingabe ihrer ganzen Seele in den Gesichtskreis derer erheben, welche bezeugen, was ihnen geoffenbaret ist. Johannes bezeugt: Jesus ist der vom Himmel Gekommene, er ist der Einzige, der nicht von der Erde stammt. Jetzt aber ist er auf der Erde, er ist in den Kreis des Erdenlebens getreten und steht nun mit uns auf gleichem Boden (s. Joh. 3, 31). Der vom Himmel Gekommene redet auf der Erde, aber er allein redet nicht von der Erde, sondern er redet die Worte Gottes. Darin liegt die Möglichkeit, daß wir von der Erde Stammende und von der Erde Redende wiederum des göttlichen Wortes und somit des göttlichen Lebens, aus dem wir gefallen sind, theilhaftig werden, so nämlich, daß wir sein Zeugniß aufnehmen und an ihn glauben. Damit werden wir des ewigen Lebens theilhaftig und entgehen dem Zorne Gottes. Weiter, führt das Zeugniß Jesu vor Nikodemus. Jesus kündigt sich an als den Sohn des Menschen, der vom Himmel gekommen, der im Himmel sein wesentliches Sein habe. Diesen himmlischen Ursprung bezeichnet er weiter als seine Gottessohnschaft und zwar als die ausschließliche, denn den eingeborenen Sohn Gottes nennt er sich. Hier kommen wir also zu der Neugeburt von oben in ihrem ursprünglichen Sinn und Wesen. Die Geburt des eingeborenen Gottessohnes ist eine Geburt nicht von unten, sondern von oben, und soll es sonst eine Geburt von oben geben, so muß sie aus der Kraft dieser einzigartigen ursprünglichen Geburt von oben hergeleitet werden. Und in die Möglichkeit einer solchen Herleitung bekommen wir einen Einblick durch die Versicherung Jesu, daß Gott diesen seinen eingeborenen Sohn dargegeben habe aus Liebe zur Welt. Darin liegt zunächst, daß der himmelentsprossene eingeborene Gottessohn ohne Rückhalt und Vorbehalt in die irdische Welt eingetreten ist, womit also jedenfalls feststeht, daß in die Reihe der irdischen Menschheit, die vom Staube genommen ist und fleischlich sich fortzeugt, der, in welchem die himmlische und göttliche Geburt ursprünglich und ausschließlich wohnt, eingegangen ist. In dem Geben des Sohnes von Seiten Gottes liegt aber weit mehr, nämlich daß der Sohn seine Besonderheit und Ausschließlichkeit nicht für Ich behalten will, denn nur so kann er als Gegenstand eines göttlichen Gebens um der Liebe zur Welt willen bezeichnet werden. Demnach ist also die himmlische Gottesgeburt in die irdische Welt eingetreten, um hier den Schatz ihres Gotteslebens aufzuthun. Wozu dieses? Offenbar um an die Stelle der Geburt und des Lebens von unten her das göttliche und himmlische Leben zu setzen. Und wie wird diese Macht der göttlichen Vergebung von der irdischen Menschheit angeeignet? Um dies zu veranschaulichen, braucht Jesus das Vorbild der ehernen Schlange, welche als ein Gotteszeichen von der Erde erhöhet wurde, um allen von der tödtlichen Schlange Gebissenen, wenn sie dieses Zeichen anschauten, Genesung und Rettung zu bringen. Jesus kann seine Hingabe von Seiten Gottes nur dann mit jener aufgerichteten Schlange vergleichen, wenn er aufs Neue betonen will, daß sein Kommen in die Welt ihn zur völligen Selbstlosigkeit bringt. So wie Jesus in der Welt sich selber aufgibt und sich Nichts vorbehält, so kann natürlich eine Aufnahme feiner nur durch eine eben so völlige Selbstlosigkeit geschehen. Der Selbstlosigkeit der wirkenden Liebe Jesu muß die Selbstlosigkeit des empfangenen Glaubens auf Seiten des Menschen begegnen. Es ist dies gleichfalls in dem Vorbilde der ehernen Schlange enthalten, denn die Gebissenen konnten nicht eher von dem erhöheten Zeichen göttliche Kraft zur Genesung erwarten, als bis sie sich selber zuvor aufgegeben hatten. Nun begreifen wir, wie Jesus sagen kann: wer glaubt an den Sohn, der hat ewiges Leben. Denn der Sohn ist selber nichts Anderes in der Welt, als die Macht und Gabe des göttlichen Lebens in seinem Ursprung, und der Glaube ist eben diejenige Empfänglichkeit des menschlichen Geistes, welche einer solchen Selbstbezeugung und Selbsthingabe des göttlichen Wesens und Lebens entspricht. Wer also an den Sohn glaubt, der nimmt die Macht der ewigen Gottesgeburt in sich auf, d. h. also der wird von oben oder wie Jesus auch sagt aus dem Geiste geboren. Was die Empfängniß der Maria im Glauben für die Menschheit ist, nämlich die Versetzung der ursprünglichen Neugeburt in die Mitte der Welt und der Menschheit, das ist die Aufnahme Christi, als dieses in den geschichtlichen Verlauf eingetretenen Gotteslebens, im Glauben für den Einzelnen, nämlich die Wiedergeburt dieses Einzelnen zum ewigen Geistes- und Gottesleben. Damit ist die Frage des Nikodemus erledigt.
Wir sehen also, dieses Doppelzeugniß der beiden einsamen Propheten behauptet sich sieghaft gegen die Unempfänglichkeit und Verschlossenheit der gesamten Menschheit. Auf dem dunkelen Hintergrunde der allgemeinen Stumpfheit und Abwendung strahlt das Licht dieses göttlichen Zeugnisses um so heller. Je mehr sich der Meister in Israel in du Ecken und Winkel seiner natürlichen Borniertheit verschließt, desto höher und weiter thut Jesus die Thore der göttlichen Verkündigung auf, bis er das große Wort von dem verschwiegenen Geheimniß der Ewigkeit ausspricht, das große Wort von der göttlichen Liebe,, die den Eingeborenen hingibt, indem sie die Welt in ihre Arme schließt. Da mag immerhin die ganze Welt eine verlorene sein und Alle, die athmen, dem Verderben verfallen, Gottes Liebe, die über der Welt schwebt und waltet, und der Eingeborene, der der Welt zu eigen geworden als das ewige Leben, ist mächtiger, als der Abgrund des Verderbens. Und was insbesondere Israel anlangt, in welchem sich das Widerstreben der allgemeinen fleischlichen und irdischen Natur des Menschengeschlechts zunächst offenbaret, so ist es der Bußprediger, der eben jetzt mitten unter dem Rollen seiner Donnerrede: „Niemand nimmt sein Zeugniß auf,“ das lieblichste Wort seiner Lippen seinen erstaunten Jüngern ins Ohr ruft: „wer die Braut hat, der ist Bräutigam, der Freund aber des Bräutigams, der da stehet und höret, der freuet sich mit hoher Freude über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude ist erfüllet“ (s. Joh. 3, 29). Keiner hat hier so tief in das Verderben Israels und der irdischen Menschheit hineingeschaut, wie Johannes, und eben jetzt hat sein Wehe über, diesen Jammer der Welt den tiefsten Grad erreicht und dennoch ist zu derselben Zeit seine Freude über die Stimme Jesu, als des Vorhandenen und Gegenwärtigen, größer, als sein Schmerz, und auf diesem Boden seiner vollkommenen Freude stehend, vermag er das wunderbar herrliche Ende aller Geschichte Israels und der Heiden als das von Anfang her bereitete Freudenfest mit klarem Blick zu schauen und mit festem Wort zu verkündigen.