Augustinus, Aurelius - Nachtgedanken - Achte Nacht. Die Glückseligkeit.
Wer als Sklave in ein fremdes Land weggeführt wird, fern von aller Hoffnung, seine Heimat je wiederzusehen, findet seinen einzigen Trost darin, dass er im Geiste die Gegend besucht, die er körperlich nicht besuchen darf. Diesem Troste weiht er die einsamen Stunden und mildert seinen Kummer durch milde Täuschung. Zuweilen steht er auf dem Gipfel eines Berges und rings umherblickend, sieht er jenes Ufer, welches kein Auge erblickt, seinem Geiste aber lebhaft vorschwebt. So unbeweglich und gleichsam außer sich, kommt es ihm vor, als sei er im väterlichen Hause bei den lieben Eltern und Geschwistern. Schon sieht er die Ersehnten, schon hört er ihre wohlbekannten Stimmen und fragt nach tausend Dingen und erzählt vielerlei. Zuweilen setzt er sich an das Ufer eines Flusses, und das traurige Antlitz zur Erde gesenkt ruft er sich schweigend und gedankenvoll die süßen Erinnerungen seiner Glückseligkeit zurück, die unschuldigen Freuden seiner Kindheit, seine Mutter, seine Freunde, die Zeit und den Ort seiner Belustigungen. Und dann durchgeht er im einzelnen die späteren Jahre und erstickt zuweilen durch Schluchzen und Wehklagen den bitteren Schmerz.
Auch ich suche, fern von dein lieben Vaterlande, nach welchem dieses kummervolle Herz seufzt, mich den Augen der Sterblichen zu entziehen, um meine Gedanken dorthin zu senden und meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Du sanfte, stille Nacht, wo die Welt durch Ruhe en müden Körper erquickt, du begünstigst freundlich mein Vorhaben. Der Himmel ist mein Vaterland. Zum Himmel sind alle meine Neigungen gerichtet, nur gar zu müde des irdischen Treibens, wo nichts als Betrübnis und Bitterkeit herrscht. O du, der du von dort die ganze Natur beherrschst, und der du dich von uns mit dem süßen Vaternamen nennen lässt, leite uns liebevoll in deine ewige Wohnung. Du, ohne dessen Beistand niemand sich dorthin erschwingen kann, führe meinen Geist an die seligen Ufer, für die deine ewige Güte mich bestimmt hat. Aber schon fühle ich mich über mich selbst erhoben. Der prachtvolle Anblick der Sterne zieht mich schon an und erhebt meinen Geist, belebt mit himmlischer Kraft. Glücklich, ihr Verstorbenen, deren kühle Asche im Grabe ruht, wofern ihr abgeschieden seid würdig jenes Aufenthaltes! Erloschen ist der Kummer, der Schmerz hört auf, verbannt ist die Furcht und getrocknet auf immer die Klageträne. Auf euere Mühsale folgt die Ruhe; die Gefahr ist in eine Siegespalme, der Kampf in Triumph verwandelt und der Schmerz in Freude und Ruhe.
Ach, wir Armen, die wir uns stets in einem fremden Lande befinden, von gefährlichen Nachstellungen rings umgeben und in der Ungewissheit, entweder für immer zu siegen oder für immer zu Grunde zu gehen! Welcher Trost bleibt uns in dieser traurigen Lage, als den tränenvollen Blick oft nach jenem seligen Lande dort oben zu erheben und danach zu seufzen! Seliges Land, wo alle Zufriedenheit herrscht, du schönes Land des Friedens und der Freude, über dem kein düsteres Gewölk, kein stürmischer Wind sich erhebt, ich sehe dich, ich schaue dich, ach! nur zu fern, von diesem dürren Felsen; aber wann wird's mir gegönnt jein, mit sicherem Fuße dich zu betreten? Wann wird mein Geist diese düstere Hülle verlassen und wann werden diese Glieder in den Schlaf sinken, um nicht mehr zu erwachen, bis der Engel mit der Posaune ruft?
Aber ach! die Nacht wird dunkler, Schrecken befällt mich und das zitternde Herz starrt mir vor Furcht in der Brust und ein kalter Schweiß rinnt mir von der Stirn. Stolzer Gedanke, der du mir eine ewige, aber zugleich ungewisse Zukunft vorhältst! Ich sehe dich abgebildet in der Unermesslichkeit des Himmels und in seiner unwandelbaren Dauer. Also über ein Kurzes wird für mich die Zeit aufhören und in ihren Schoß wird mich die Ewigkeit aufnehmen! Also nach wenigen Augenblicken wird mein Los entschieden sein! Entweder eine glückliche Ankunft im Hafen der ewigen Ruhe, oder ein ewiger Schiffbruch in einem Meere voll Unglück, ohne Rettung! und muss ich dann zum Übermaß der Qual selbst der Urheber meines Schicksals sein, ich, von Geburt an ein Sklave der Sünde, zum Bösen stets geneigt und zum Guten so träge? Ach! bei solchem Gedanken flieht mich der Schlaf, heiße Tränen quillen aus meinen Augen und ich bin trostlos.
O schwarze Nacht, wohin hast du meine Gedanken geführt! Aber während ich zittere und über mein ungewisses Los schaudere, wird dasselbe vielleicht für manche von meinen Gefährten in hartem Todeskampfe auf immer entschieden. O Himmel, in diesem Augenblicke gelangt vielleicht irgend ein seliger Geist zu deiner goldenen Schwelle, und in diesem Augenblicke öffnet sich vielleicht das schwarze Tor des Jammerreiches für andere unglückselige Geister! Aber warum grämst du dich, o meine Seele, und wirst immer zaghafter und erliegst unter der Last einer düsteren Schwermut? Blick hin auf deinen Herrn und gib dich freudigen Gedanken hin. Groß ist deine Gefahr; aber groß auch deine Hilfe. Groß ist die Kraft, die dich stürzen will; aber weit größer noch die Macht deines Gottes, der dich aufrecht erhält, und unendlich ist seine Güte. Deine Schicksale liegen in der Hand eines Vaters, der an Liebe seinesgleichen auf Erden nicht hat. Aus allen seinen Werken strahlt seine Herrlichkeit hervor; aber vor allem aus den Werken seiner Liebe. Er zog dich aus dem Nichts hervor, bloß um dich glücklich zu machen. Zum Unterpfande seiner Liebe setzte er dich zum Herrn über alles, was da lebt und sich regt auf der Erde, in der Luft und in der Tiefe der Wasser. Er stieg aus dem Schoße der ewigen Herrlichkeit hernieder, um dich heimzusuchen, und um dich zu gewinnen vergoss er all sein Blut. Und du wirfst dich weg und setzt ein undankbares Misstrauen auf deinen Gott? Auf, erhebe dich aus dieser schmerzlichen Niedergeschlagenheit, seine Zunge besinge sein Lob und deine Stimme vereinige sich mit den Harfentönen der Engel.
Ewiger Gott, in dein väterliches Herz versenke ich mich und ersticke jeden bitteren Zweifel über mein ewiges Los. Ich will in meinem Herzen nichts anderes dulden, als deine unschätzbare Liebe. Du, o süßes und stilles Vertrauen auf den Geliebten, bewache mein Herz, und will ein trüber Gedanke sich einschleichen, so sag' ihm: Du darfst nicht; denn die Liebe besitzt und erfüllt es ganz.
So erhebe dich nun von neuem zum Himmel, meine Seele, und betrachte die ewigen unermesslichen Güter, die dein Gott dir versprochen hat. Glaube und Liebe geleiten Sich ins verhüllte Land. Du wirst also einst, gehorchend dem Winke des lieben Vaters, diese Hülle, die dich jetzt umgibt, verlassen, in Staub zerfallen und zu dem Mittelpunkte des Seins - zum höchsten Gute dich erheben. Der Himmel, der dich jetzt in so weiter Entfernung schon in Erstaunen setzt, wird nur der Anfang deiner Bewunderung sein, sowie er nur die Scheidewand ist, die dir die höheren Regionen verbirgt. Von innen wird sich dir öffnen das unermessliche Reich der ewigen Herrlichkeit.
Denke dir einen Menschen, der von seiner Geburt an bis zu den kräftigen Jugendjahren in einer dunklen Höhle heranwächst. Nie sah er ein anderes Licht und lernte keine anderen Gegenstände kennen, als eine düstere Lampe und was dieser finstere Aufenthalt umschließt, und nun wird er plötzlich versetzt in die freie Natur. Je stärker das Auge für den Eindruck des ungewohnten Lichtes wird, um so mehr entdeckt es ringsumher tausend unbekannte Gegenstände, die es bewundert. Jeder Grashalm, jede Blume, jede Frucht, jeder Baum ist ihm ein Wunderding und erweckt in seinem Herzen Aufmerksamkeit und Liebe. Bei jedem Schritte bleibt er erstaunt und neugierig stehen und betrachtet. Jetzt betrachtet er die Vögel, die zwischen dem Laube spielen, und mit unverwandtem Blicke merkt er sich ihre Gestalt und verfolgt jede ihrer Bewegungen. Jetzt betrachtet er starr das Bächlein, das sich murmelnd durch grünende Ufer schlängelt. Jetzt dreht er sich um beim Säuseln des Lüftchens und forscht nach der Bewegung des zitternden Laubes. Die bejahrten Eichen des nahen Waldes, die ihre dichten Äste ineinander schlingen, die unermessliche Ausdehnung des benachbarten Gebirges, die in der Höhe schwebenden Wolken versetzen ihn vor Freude und Erstaunen in Entzückung. Unterdessen neigt sich die Sonne zum Untergange und endlich verschwindet sie. Da eröffnet sich seinem erstaunten Blicke eine neue Szene. Unterdessen sieht er, wie die Luft sich verdunkelt und tausend Lichter am Himmel sich anzünden. Er sieht an dem Horizont ein neues Licht aufsteigen, es ist die Schwester der Sonne, die ihren nächtlichen Lauf beginnt. Er schaut und bewundert und kaum traut er seinen eigenen Augen, und indem er jeden Augenblick seinen neuen Aufenthalt mit den früheren vergleicht, ruft er aus: Jetzt erst fang' ich an zu sehen, jetzt erst fang' ich an zu sehen!
Größer noch wird mein Erstaunen sein, wenn ich den irdischen Kerker verlasse und jenes Land betrete, das mir Gott zur ewigen Wohnung bestimmt hat. Sehen werde ich die Auserwählten im Reiche der Herrlichkeit; sehen werde ich die zahllosen Scharen der himmlischen Geister und das Heer des ewigen Königs. Sehen werde ich den glücklichen Aufenthalt derjenigen, die eine Zeit lang in körperlicher Hülle diese Erde bewohnten; sehen die ewigen Hügel und die immer grünenden lieblichen Gebüsche, getränkt von der reichen Quelle der ewigen Wonne. Sehen werde ich die schönen Gestade, stets prangend mit unverwelklichen Blumen; atmen werde ich jene Luft, worin Unsterblichkeit weht. Sehen werde ich das himmlische Jerusalem, die prächtigen Tore und die hohen Mauern von Jaspis und Saphir und anderen Edelgesteinen, die kein menschliches Auge kennt und die der beschränkte Geist hienieden sich nicht einbilden kann.
Mein Gott, ich bin ein Kind, die Sprache fehlt mir, ich stammle kindische Töne. Dieser unzulängliche Sinn will mich nicht verlassen auf dem rauen Pfade. Dennoch rede ich zum Teile die Sprache, die du selbst geredet hast, um mir einen Begriff von jenen erhabenen Dingen zu geben. Wohl weiß ich, dass du so geredet hast, um dich zu meiner Niedrigkeit herabzulassen. Wohl weiß ich, dass unter der Hülle der symbolischen Worte hohe Geheimnisse deiner Allmacht, deiner Größe und Liebe verborgen sind. Aber wer weiß denn, dass deine göttliche Sprache zum Teile nur bildlich ist? Glaube, o teurer Glaube, da kommst du mir zu Hilfe. Du nennst mir das unermessliche Land, wohin die Kinder Gottes wandern. Welches sind die Freuden jener seligen Inseln? Gibt es dort Blumen? Duften dort ausgesuchte Wohlgerüche? Sollten wohl Nektar und Ambrosia, welche die Heiden ihren Göttern zur Speise gaben, es wirklich sein für diese Bewohner? Hier erquickt uns das schnelle Säuseln der sanften Zephyre. Da gibt es sanfte Winde, welche diese seligen Bürger erquicken. Da gewähren anmutige Hügel, grünende Täler, liebliche Fluren und die Aussicht auf das Meer und der Anblick des Himmels ein unbeschreibliches Vergnügen. An welchen Gegenständen weidet sich dort das Auge? Gleichen sie wenigstens zum Teile den irdischen, oder werden sie für uns ganz neu erscheinen? O, wie sie auch immer sein mögen, so müssen sie wohl sehr groß sein, und um so lieblicher, je besser dort unser Los sein soll. O heiliger Glaube, gib mir Aufklärung über meine Zweifel. Sage mir, ob auch dann noch sinnliches Vergnügen statthaben wird, wenn der Körper, der so edel gebildet ist, sich wieder vereint mit jenem geistigen Wesen, das in uns denkt und will.
Der Glaube spricht; aber dunkel und sparsam sind seine Aussprüche. Er sagt mir, dass wir in dem neuen Leben den Engeln des Himmels gleichen werden, die nicht zur Ehe nehmen und nicht zur Ehe geben. Hiermit werden alle niedrigen Freuden, wie der sinnliche Mensch sie denken mag, von unserem künftigen Zustande ausgeschlossen. Übrigens entspricht dieser Zustand offenbar meinen Wünschen und lädt mich ein, den betretenen Weg zu verfolgen. Der Glaube sagt mir, dass in dem neuen Leben dieser mein Leib geistig sein werde, unverweslich, verklärt, unsterblich. Aber er sagt mir auch, dass es noch ein Körper sei, ein lebendiger, unsterblicher Körper. Also kein blinder, kein stummer, kein tauber und seiner edelsten Sinne beraubter Körper. Wie groß und wie rein müssen denn dort seine Freuden sein, wenn er deren schon so viele hienieden in seiner Verbannung findet!
Alsdann wird er frei sein von allen irdischen Mühsalen, nicht mehr fühlend die Last des schleichenden Alters. Eine ewige Jugend, eine blühende Schönheit wird diese Glieder beleben. Keine Müdigkeit wird ihn mehr zur Ruhe einladen, um die erschöpften Kräfte durch Schlaf zu ersetzen. Dort wird kein Wechsel mehr sein zwischen Leben und Sterben, kein schlafloses und starres Liegen auf weichem Polster. Die Freude des Tages, auf den keine Nacht folgt, erhält uns dort in einem wonnevollen ewigen Wachen. Dort weiß man nichts von Ermüdung. All unser Tun wird nur Freude sein und süße Ruhe; eine immer gleiche und immer unversehrte Kraft wird und bleiben. Keine lästige Krankheit wird uns mehr umschlingen, keine stechenden Schmerzen uns quälen. Jede Krankheit, jeder Schmerz bleibt auf ewig von dieser Schwelle verbannt; ewige Gesundheit erfreut uns. Kein quälender Hunger, kein brennender Durst fordert Erquickung für die matten hinwelkenden Glieder, das Leben fordert nicht mehr seinen täglichen Tribut, den wir ihm zollen, damit es uns nicht verlasse. Dieser unsterbliche Mund wird auf immer gesättigt mit solcher Süßigkeit, wie keine irdische Speise, kein irdischer Trank sie geben können. Hienieden wird oft der Landmann durch die brennende Sonnenhitze von seiner Arbeit vertrieben und sucht vergebens Schutz unter einer schattigen Buche; oft macht der kalte Nordwind, dass uns die Glieder erstarren. Dort herrscht ewiger Frühling, dort weht immer milde Luft; dort ist der Himmel ewig heiter, es gibt keine Sturmwinde, keine Platzregen, keine Gewitterwolke. Dort gibt es keine Blitze, kein Wetterleuchten, das den nahen Sturm verkündet, oder begleitet. Ewiger Friede herrscht unter den einträchtigen Elementen. Da gibt es keinen Wechsel zwischen Tag und Nacht. Ein ewiges Licht erleuchtet dort alles; kein düsteres Gewölk verfinstert den Horizont. Reine lästigen Regengüsse machen die Luft schwer, trübe und den Tag traurig; kein dunkler Schleier verwirrt die Gegenstände. Hienieden verlebt der eine froh seine Tage in geräumigem Palaste, in der Mitte der heiteren Kinder des Glückes, und hundert seufzen unter niedriger Hütte oder unter freiem Himmel unter den darbenden Mitgenossen des Elendes. Die Armut ist gezwungen, dem Verbrechen gleich, entweder zu fliehen, oder sich zu verbergen. Die Niederträchtigkeit verfolgt und unterdrückt sie überall. Dort wird der Name „Armut“ ganz unbekannt sein. Jeder wird unermessliche Schätze besitzen und mehr, als sein Herz verlangen kann. Seiner wird mehr die Verachtung seines niedrigen Standes in dem Angesichte des Großen und Mächtigen lesen! Die eitlen Titel von irdischem Adel werden alsdann mit dem Körper vermodert sein. Größere Ehrentitel werden dort der wahren Tugend zu teil.
Dort werden wir alle Himmelsfürsten, Große des göttlichen Reiches und Vertraute des höchsten Königs. O ihr alle, die ihr auf Erden, mit schlechten Lumpen bedeckt, in der Kälte des Winters zittert, traget euer Schicksal mit Freude. In jenem ewigen Reiche warten euer die höchsten Ehrenstellen. Ihr werdet die Auserwählten des ewigen Königs. Er stieg auf die Erde hernieder und wollte euch gleich sein. Dort wird die kurze Ungleichheit der irdischen Abkunft aufgehoben oder verwischt. Dort wird jeder die Abzeichen des ewigen Adels tragen. Der Geist und der Körner, aus dem Grabe wiedergeboren, um in Gott zu leben, beide rühmen sich des himmlischen Ursprungs, der göttlichen Abkunft. Alsdann werden wir alle Söhne des Allerhöchsten sein. Die Tugend allein, die wir von der Erde mit hinübernehmen, wird die verschiedenen Grade und den Unterschied an Größe bestimmen. Unsere Herrlichkeit wird unserer hohen Bestimmung angemessen sein. Eine höhere Majestät wird unsere Stirn schmücken. Eine himmlische Anmut wird auf unserem Gesichte lächeln. Göttlicher Glanz wird uns dem Herrn der Herrlichkeit ähnlich machen. Mit Luft wird dieser irdische Körper glänzender als die Sonne und in seinen Bewegungen schnell wie der Gedanke, der in einem Augenblicke von der Erde zu den Gestirnen fliegt, jene unermesslichen Regionen der Ewigkeit, wo es nimmer Abend wird, durchwandern, und was wird er dort sehen?
Dinge wird er dann sehen, die jetzt kein Menschenverstand begreift und wogegen alles, was wir jetzt sinnen und denken, wie nichts erscheint. Aber von dieser unbekannten Herrlichkeit werden die Sinne das Wenigste erreichen. Diese sind nur die schwachen Regungen des Geistes, der noch in dunklem Kerker verschlossen ist. Ihrer sind wenige und jeder hat seinen engen Horizont, beschränkt auf eine Reihe von Gegenständen, die der Geist entdeckt und tiefer ergründet. So gehört dem Auge die Gestalt, die Farbe, die Ausdehnung der Körper an; so verbreitet sich das Gehör über die Töne. Aber dann wird uns dieser irdische Körper nicht mehr im Wege stehen. Dort wird der Geist wohnen, frei und gleichsam umgeben von einer glänzenden Hülle durchsichtigen Kristalles. Und wer weiß, wie weit sich dort unsere Kenntnisse über die erschaffenen Dinge erstrecken werden? Gewiss können wir in diesem Körper kaum ein Fünschen davon umfassen, und alles, was unsere Sinne begreifen, ist vielleicht wie ein Tropfen gegen das unermessliche Meer. Wohl gibt es tausend andere unerschaffene Wesen, die uns jetzt eben so fremd sind, als dem Blinden das Gesicht und dem Taubstummen die Sprache, weil uns die Sinne dafür fehlen. Wer weiß, welche Geheimnisse verborgen sein mögen in dem unermesslichen Firmamente, das uns leer scheint, und in den hohen Lichtkugeln, die wir nach Sonnenuntergang über uns funkeln sehen? Die Erde ist ein so keiner Teil des Universums. Dennoch eröffnet uns die Natur eine so reiche Szene erstaunlicher Wunder. Die Sinne entdecken hier wenig. Wir wissen wenig, und kaum die äußere Hülle von dem, was wir zu wissen wähnen. Das Wesen der Dinge, die inneren Gründe ihrer Beschaffenheit sind uns Geheimnisse. All unser Wissen ist nur eine unvollkommene Äußerung unserer Unwissenheit. Dort werden wir erkennen, dort werden wir schauen. Wir schauen da die geschaffenen Dinge nicht bloß, wie die Hand des Schöpfers sie ausgesät; auf eine weit vorzüglichere und erhabenere Weise ist uns da alles gegenwärtig. Wenn man mitten in dem Dunkel unaussprechlicher Geheimnisse Licht suchen darf, so werden wir dort vor unserem Geiste, versenkt in das Meer des göttlichen Lichtes und Gott ähnlich geworden, alles enthüllt sehen, wir werden es sehen in Gott und sozusagen wie Gott. So sah der Mensch an dem ewigen Worte, während es in Menschengestalt auf Erden wandelte, diese Gegenstände mit dem Auge des Körpers; aber er sah zu gleicher Zeit den verborgenen Gott mit jenem unermesslichen Blicke, dem alles offenbar ist.
Mitten in jener erhabenen Wohnung wird unser Auge den ewigen Sohn des Vaters schauen in seiner Menschengestalt, umstrahlt vom Glanze der Gottheit. Aber unser Geist wird, geleitet von göttlichem Lichte, tiefer bis zur Urquelle durchdringen, in das unendliche Wesen der Gottheit, die er ohne Hülle schauen wird. Er wird Gott in der Menschheit schauen und in dem Gottmenschen die unendliche Majestät, die uns endliche Schönheit, die Güte, die Weisheit, die Gerechtigkeit, die Liebe und die übrigen grenzenlosen Vollkommenheiten. Hier verstummt jede erschaffene Zunge, und jeder endliche Verstand wird blind und betäubt. Die Erde hat kein Bild, die Natur keinen Schattenriss, um dieses selige Los zu schildern. Eisen ins Feuer geworfen und glühend wie Feuer, Wolken von der Sonne beleuchtet und strahlend wie die Sonne sind nur unschickliche Bilder, um die Wonne des Menschen im seligen Genuss der Gottheit darzustellen. Alles, was die Erde Annehmliches darbietet, alle Freuden, die das Menschengeschlecht seit dem Anbeginne der Welt genoss, sind zusammen in Vergleich mit jener unaussprechlichen Wonne nichts als Bitterkeit. O Glaube, dem die Geheimnisse des höchsten Königs anvertraut sind, du kannst über diesen erhabenen Zustand Aufschlüsse geben. Aber hier verstummt selbst der Glaube. Schon alles hat er uns gesagt, da er lehrt, dass wir Gott schauen werden; da er lehrt, dass wir Gott besitzen und dadurch, dass er sich uns schenkt, gleichfalls vergottet werden. Hier schweigt der Glaube und bedeckt mit einem Schleier dasjenige, was dem Menschen hienieden zu wissen nicht gegönnt ist. Aber welch einen unermesslichen Abgrund zeigt uns der Glaube in diesen wenigen Worten! Immerfort, o Sterblicher, sollen diese deinem Geiste vorschweben, und durch Nachdenken über das, was dir schon gegeben ist, sollst du deine künftige Größe kennen lernen. Aber du möchtest alles wissen, was der Glaube dir jetzt noch verhüllt. Sterblicher, du kannst es, wende dich nur an die Liebe. Sie wird voll Milde deine Wünsche befriedigen. Sie wird dir den Schleier lüften; aber nicht eher, bis du deine irdische Hülle der Erde zurückgelassen hast. Liebe deinen Gott und du wirst einst sehen, wie süß es ist, ihn zu schauen. Das zu wissen ist nur dem gegeben, der auserwählt ist, es zu erfahren, und nur der erfährt es, welcher hienieden zu lieben versteht. Die Liebe allein öffnet dem Menschen den Zutritt zu so großen Gütern; darum, o Mensch, wende dich an die Liebe!