Augustinus, Aurelius - Nachtgedanken - Zwölfte Nacht. Die Rechte der Menschheit. Die Nächstenliebe.

Augustinus, Aurelius - Nachtgedanken - Zwölfte Nacht. Die Rechte der Menschheit. Die Nächstenliebe.

Was dem Tier der Instinkt, ist dem Menschen die Vernunft. Jener führt die vernunftlosen Tiere nach dem Willen der Natur, welches auch der Wille des Schöpfers ist. Diese entdeckt dem Menschen das ewige Gesetz desselben Herrn, welches ihm einen Wirkungskreis anweist, der seinem Wesen angemessen ist, auf dass er denselben mit Kenntnis und freiem Willen ausfülle. Gleichwie das vernunftlose Tier stets dem Naturtriebe folgt, so sollte der Mensch in all seinem Tun getreu der Vernunft folgen. Aber wo ist der Mensch, welcher hierin das leistet, was er sollte? Ein Fehler, der uns körperlich entstellt, wird wie ein Schandfleck angesehen. Ach, wenn die Gestalt des Geistes sichtbar wäre, so würde man mit weit größerem Abscheu den Menschen ansehen, der vernunftwidrig handelt. Wer träge in der Ungewissheit seiner Pflichten hinschläft, ist er nicht. ein Blinder, der bei jedem Schritte anstößt und schmerzliche Wunden davonträgt? Wer sich von seinen Leidenschaften beherrschen lässt, ist er nicht ein Wahnsinniger, der im Anfalle der Raserei handelt? Und wer seine Wünsche nach dem Laster richtet, was wird der anders als ein hässliches Ungeheuer, halb Mensch, halb Vieh, ein unsterblicher Geist mit tierisch-wilden Sitten, Gottes Ebenbild mit viehischen Neigungen? Dass wir der Wissenschaft und der Vernunft fähig sind, ist nur erst der Anfang der Größe und kann durch unsere Schuld sich in Schmach verwandeln. Darin besteht unsere Würde, dass wir unserer Bestimmung gemäß leben. Was nützt es, dass der Himmel uns die Wahrheit vor Augen gestellt und die himmlische Schönheit und Tugend vor unseren Blicken enthüllt hat, wenn wir gefühllos und kalt gegen ihre Schönheit unsere Schritte anderswohin lenken? Was nützen uns die hohen Gaben, womit er uns auszeichnete, wenn wir durch sträfliche Niederträchtigkeit denselben entsagen oder sie missbrauchen zu Werkzeugen sündhafter Absichten? Ach, dann wäre es wohl besser für uns, vernunftlos sein von Natur, als durch Schuld und Verbrechen. Aus weiser Absicht versagte der Schöpfer den Tieren die Klugheit und Geschicklichkeit des Menschen. Sie würden sonst eine gar zu furchtbare Geißel für uns sein. Aber was der Schöpfer aus Liebe zu den Menschen nicht tat, das tut der Mensch durch eigene Schuld und Bosheit. Was sind die Bösewichte anders als ebenso viele wilde Tiere mit der Geschicklichkeit des Menschen? Die Bären und Tiger in den Wäldern sind unschädlich in Vergleich mit diesen, die in der menschlichen Familie wohnen und in Menschengestalt die Erde verwüsten. Die Raubtiere sind bewaffnet mit Hauzähnen und Krallen, und werden nur dann gereizt, Schaden zu stiften, wenn sie sich selbst verteidigen, oder ihren Hunger stillen wollen. Sie lieben ihr eigenes Geschlecht und vergießen nicht das Blut von ihresgleichen. Ein Mensch ist des anderen Wolf und zerreißt seinen Bruder. Den Verstand, der ihm gegeben ist, um auf Erden das lebendige Ebenbild der unendlichen Güte zu sein, wendet er oft nur dazu an, seinesgleichen grausam zu behandeln. Aus dem Schoße der Felsen zieht er das Eisen hervor und schmiedet daraus die Werkzeuge des Todes für seine Mitmenschen. Wo die Stärke nicht ausreicht, bei seinen schrecklichen Unternehmungen, da ruft er die Kunst zu Hilfe. Er weiß mit süßer Speise seinem Nebenmenschen heimlich den Tod einzuimpfen. Er weiß ihn mit der Lockspeise geheuchelter Freundschaft in die Schlinge zu locken, die er ihm selber gelegt. Er versteht mit täuschenden Blumen dem unglücklichen Schlachtopfer seines Hasses den Dolch zu bedecken, die Grube zu verbergen, die er ihm unter seinen Füßen gräbt. Menschheit, Verwandtschaft, Freundschaft, süße Namen, heilige Bande, was seid ihr dem verwilderten Menschen? Der Grausame tritt alles unter seine Füße.

Flieh', unglücklicher Vater, verbirg dich, schütze deine letzten Lebenstage, die dem undankbaren Sohne zu lange dauern. Flieh', O Mensch, vor deinem geizigen Bruder. Und du, gutmütige Braut, hüte dich vor der Hand, die dir ewige Treue geschworen. Unter Lieblosungen bereitet sie dir Gift. Sohn, hüte sich vor der argen Mutter, Gatte vor deiner Gattin, Mensch vor deinesgleichen. Es gibt Leoparden und Löwen in Menschengestalt. Fliehe! o fliehe den Aufenthalt der Menschen. Sieh', da tritt, o Gott, die Zwietracht auf in scheußlicher Gestalt, das Haar durchflochten mit Nattern und Schlangen. Sie heult und tobt und schwingt die schwarze Fackel und entzündet ein verheerendes Feuer. Da erscheint der wütende Zorn, der Hass und die Rachsucht, bewaffnet mit bluttriefenden Dolchen. Da tritt auf der schielende Neid, sich selbst zerfleischend, mit Stricken und Gift in der Hand, oder schleicht heimlich und unbemerkt umher und erfüllt die Luft mit seinem tödlichen Hauche, der neue Verbrechen ausbrütet. Ihnen folgt auf dem Fuße nach heimlicher Verrat, verborgene Nachstellung und endlich der Tod. Ha! wie viele scheußliche Ungeheuer! Ach, es scheint, als hätte die Hölle ihre Tore geöffnet und sich ganz über die Erde ergossen. Aber welch ein entsetzliches Getöse betäubt meine Ohren und zieht den erstaunten Blick auf andere Gefilde, mit Staubwolken bedeckt? O des Jammers! siehe da friedliche Provinzen in vollem Aufruhr, ganze Nationen auf der Flucht begriffen, Felder bedeckt mit Erschlagenen, Städte, worin das Menschenblut in Strömen fließt, schwache Greise mit Säuglingen gemordet, verzweifelte Mütter, trostlose Bräute, alles voll Schrecken und Wehklagen! Schauerlich! sieh, da kommt der Räuber von Königreichen, der Völkermörder, der stolze Eroberer. Gleich der schwarzen Gewitterwolke bringt er Verderben, wo er vorüberzieht. Vor ihm her geht der Schrecken, ihm zur Seite Tod und Verderben. Mit eherner Stirne spornt er das schnaubende Ross über die warmen Leichname und dieses mit seinen eisernen Füßen zertritt schonungslos der Sterbenden Angesicht und die halb erloschenen Augen, die noch zum letzten Male um Erbarmen flehen, und zertritt gewaltsam die blutbedeckte Brust, dass die Seele entflieht. Sieh', er triumphiert, während ringsumher unter tausend Schwertern die Schlachtopfer seiner Grausamkeit fallen, und seine Freude ist umso größer, je größer die Zahl derjenigen ist, die das Land, das er so unglücklich macht, dem frühen Tode liefert. Scheusal, was suchst du mit dem Dolche in der Hand in den offenen Seiten und den zerrissenen Eingeweiden deiner Brüder? Wohl versteh ich dich, du suchst Gol) oder Ruhm. Du wärst also der Mann, dem die Welt den Namen eines Helden gibt, den sie mit Lobsprüchen überhäuft und bis zu den Sternen erhebt?

O Sonne, die du die Erde erleuchtest, und du Mond, dessen Strahlen das nächtliche Dunkel mildern, verberget euer Licht. Verhüllt euch lieber in ewige Nacht, als dass ihr so schwarze Schandtaten beleuchtet. Und doch, o Himmel, ist dies das Geschöpf, welches mit Vernunft begabt aus der Hand des Höchsten hervorging!

O Mensch, nicht die Natur, sondern deinen bösen Willen sollst du anklagen über deine Verbrechen. Die Natur gab dir ein Herz zur Liebe geneigt gegen deinesgleichen. Sie legte in deine Brust den süßen Keim der Wohltätigkeit und des Mitleids. Sie gab dir ein Herz, welches den Schmerz des Mitbruders fühlt und bemitleidet und geneigt ist, ihm zu helfen. In dem, was dir entweder gefällt oder missfällt, lehrte sie dich, was du dem anderen tun oder nicht tun sollst. Eine gebietende Stimme ruft dazu noch in deiner Brust, dass es sträflich ist, einen anderen Menschen zu misshandeln. Das ist die heilige Stimme der Natur und somit die Stimme des großen Urhebers, der sie gebildet. Dem Griechen, Britannier und Skythen, dem Afrikaner oder Römer - allen redet sie dieselbe Sprache. Jeder versteht diese Sprache, jeder findet sie von unsichtbarer Hand in sein Herz geschrieben. Und du bist's, der dieses köstliche Werk zerstört.

Ihr Sterblichen, ihr selbst seid die Urheber so großen Unheils. Die unbändige Begierlichkeit ist die Wurzel alles Bösen. Daraus entsprossen alle die giftigen Schösslinge, aus denen nachher die größten Verbrechen entstehen. Durch die Begierlichkeit will der Mensch glücklich werden und ein seliges Leben führen, wo nichts als Elend ist. Darum beeilt sich jeder zu sammeln und zu rauben das wenige Gute, was diese Erde erzeugt, und da keiner seinen Hunger damit stillen kann, so betrachtet einer den anderen als lästiges Hindernis, als seinen Nebenbuhler und Feind. Darum zernagt, zerfleischt und verwundet einer den anderen. Darum ist alles voll Aufruhr und Krieg unter uns. Törichte Menschen! warum macht ihr euch zu Bettlern? Warum gebt ihr Raum diesem schändlichen Durst, der euer Herz grausam mordet? Warum streitet ihr untereinander um nichtige Schätze?

Diese grausame Tyrannin hat die Erde mit der finstersten Nacht bedeckt. Sie verbannte vom Menschen den Gedanken, die Erinnerung, dass er für den Himmel geschaffen ist. Sie lenkte seine Sorge vom Geiste auf den Körper. Sie verhüllte ihm den wahren Gott unter der schwarzen Decke des Aberglaubens, den Gott der Tugend, das Muster und den Urheber eines himmlischen Lebens, und stellte ihm falsche Gottheiten vor Augen als Vorbilder und Reizmittel eines schändlichen Lebens; unter solchen Vorgängen befleckte der Mensch die Erde mit hässlichen und mehr als viehischen Schandtaten und wetteiferte an Grausamkeit mit Nattern und Tigern. Der Himmel sah, wie die Hirten der Völker dieselben um sich her versammelten, sie mit Waffen rüsteten und sie wie zu einem glorreichen Unternehmen anführten zum Morde vernünftiger Wesen. Er sah, wie die stärkeren Nationen sich beeiferten, das Blut anderer zu vergießen, die nichts verschuldet hatten, nur dass sie der schwächere Teil waren. Mit den abscheulichen Götzenbildern erhoben sich zugleich schändliche Götzen falscher Tugend, um die Huldigung irregeleiteter Menschen sich anzumaßen. Mut ohne Gerechtigkeit, weil glücklich in den Waffen, Wildheit, die ein schuldloses Volk angreift, mit Sieg gekrönt, erhielt den Namen Stärke und Tapferkeit. Die blinde Welt feierte durch ihren Beifall die grässlichsten Verbrechen unter dem schimmernden Namen von Heldentaten, feierte die Eroberung von Königreichen, die Niederlage von Nationen, und der schmeichelnde Ruf gab größere Ehre demjenigen, welcher der Menschheit die tiefsten Wunden geschlagen. Die gebildetsten Nationen bedeckten mit dem schönen Namen Vaterlandeliebe den Hass gegen alle übrigen Menschen. Die Römer erkannten den Menschen nicht mehr in dem, der kein römischer Bürger war. Ein Ausländer war ihnen ein Feind, ein Sklave ein Lasttier. Während sie beinahe alle übrigen Völker Barbaren nannten, ehrten sie im Triumphe solche Taten, die wohl eher der Todesstrafe würdig gewesen. Während sie den Straßenräuber, der den Wanderer beraubt, zum Tode verdammten, schickten sie selbst ihre Legionen aus, die Völker zu plündern und die Könige zu morden. Während sie mit großem Prunke die Grade des Verbrechens bei der Bestrafung eines Schuldigen abwägten, beschlossen sie den Untergang der Völker aus bloßem Antriebe des Ehrgeizes und der Habsucht. Und am Ende gewohnt, mit dem Kriege zugleich das Räuberhandwerk in der ganzen Welt zu treiben, fanden sie in den Tagen des Friedens kein angenehmeres Schauspiel, als den Anblick von ganzen Scharen, auserwählt, um zu ihrer Belustigung vor ihren Augen sich zu ermorden. Die Tafeln ihrer Großen waren ohne Würze, wenn dabei kein Menschenblut floss.

Doch lasst uns unsere Blicke abwenden von dieser durch Laster beherrschten Welt. Mag ewige Vergessenheit jene unter glänzender Gestalt verborgenen Grausamkeiten decken, die die Welt im Reiche des Truges gefangen hielten. Gebrandmarkt ist bei den Persern der Name Xerxes, bei den Griechen Alexander, in Ägypten Sesostris, bei den Römern Cäsar. Erloschen ist die Idee von falscher Größe, die der Mensch schon erreicht zu haben glaubte, indem er seinesgleichen zu Boden trat. Erschienen ist endlich das Licht, alles wendet sich ihm zu, und nachdem die Irrtümer verschwunden sind, lernt man endlich, was der Mensch dem Menschen schuldig sei. Der Urheber der Natur ward wie einer aus uns; aber er kam nicht hernieder, um Königreiche zu erobern und Völker unglücklich zu machen und seinen Namen durch Siege zu verherrlichen, er kam, um sich aufzuopfern und alle zu beglücken. Lass uns ein geneigtes Ohr leihen der himmlischen Weisheit, die herabstieg, um die in schauerlichen Abgrund versunkene Welt zu retten.

Das ganze Menschengeschlecht hat einen gemeinschaftlichen Stamm. Die verschiedenen Völker, die die Erde bewohnen, sind die Äste desselben. Obgleich in verschiedenen Bächen von der Quelle abgeleitet, ist es dennoch dasselbe Blut, welches in den Adern des Thrakiers, des Kimbern und des Mohren rollt. Dort, in Armeniens Gefilden, empfing der erste Bewohner der Erde von Gottes Hand Gestalt und Leben. Er ist unser gemeinschaftlicher Vater und wir alle sind Brüder. Warum, 0 Mensch, unterstehst du dich, eine Ungleichheit einzuführen, wo eine gemeinschaftliche Natur herrscht? Bist du groß, mächtig, so ziehe dich die Liebe zu deinem Bruder hin, der tief unter dir seufzt. Was blähst du dich auf beim Anblicke der Niedrigkeit eines anderen! Grausamer! weil sein Zustand Mitleid verdient, verachtest du ihn? Die Natur, die gemeinschaftliche Mutter aller, liebt ihn nicht weniger als dich. Sie bietet uns die Elemente als Gemeingut dar. Sie bringt Getreide hervor für alle und Futter für ihre Herden. Und wenn sie dir ihre Schätze in größerer Fülle zuwendet, so beherzige, dass andere das Notdürftige nicht haben. Sie bereichert dich nicht, um andere hungern zu lassen. Dir vertraut sie das Anteil anderer, weil sie will, dass du in ihrem Namen es ausspendest. Deine Habsucht verzehrt deinen Bruder. Du verlierst den gemeinschaftlichen Ursprung aus dem Auge und hältst dich bloß an jene Ungleichheit, die der Glückswechsel unter die Sterblichen gebracht hat. Wisse also, dass dieser Wechsel von dem unendlichen Geiste, der alles beherrscht, gelenkt wird, aber zum allgemeinen Besten und nicht zum Verderben derjenigen, denen das Glück weniger günstig ist. Hüte dich, seinen Absichten zu widerstreben und die Ordnung seiner hohen Ratschlüsse umzukehren. Durch die verschiedenen Abstufungen in der menschlichen Gesellschaft wollte er allen Tugenden ein freies Feld eröffnen, wollte uns alle mit einem unauflöslichen Bande verknüpfen. Wo wäre wohl die Achtung und der Gehorsam, der den Willen eines anderen als Gesetz befolgt und Ordnung auf der Erde und Harmonie unter den Völkern gründet, ohne die Hoheit, die Würde und das Ansehen, die der Himmel hienieden befestigt hat? Wo wären die edlen Sorgen und Anstrengungen des Großen, wo das großmütige Streben des Fürsten, der da wacht, um das Los der niedrigen Volksklasse zu verbessern, wenn es keinen Unterschied der Stände gäbe? Hätte uns die Natur alles in Fülle gegeben, so könnten wir einer den anderen für unnütz ansehen. Gemeinschaftliche Bedürfnisse knüpfen uns aneinander. Die ewige Weisheit führt den niedrigen durch Not zum Hohen; aber sie will auch, dass dieser durch Liebe sich zu jenem herabblasse. Sie will, dass diejenigen, über welche du erhaben bist, durch Vertrauen, Dankbarkeit und Liebe sich an dich anschließen; aber sie will auch, dass du durch Wohltätigkeit, Milde und Leutseligkeit ihr Vater werdest. Wenn auch in der menschlichen Familie die Grade und Ehrenstufen verschieden sind, so sind wir doch alle gleich vor dem Herrscher des Weltalls. Aber doch rühmst du dich hoher Titel und es scheint, als wenn der ehrenvolle Name, den du von den Ahnen geerbt, dich zu einem Wesen anderer Art machte. Wohlan, Betrogener, zerstreue das schwarze Gewölk, das dir den Blick verhüllt. Jeder Unterschied, den die Zeit zwischen Menschen und Menschen macht, wird auch mit der Zeit wieder aufgehoben werden. Es dauert nur bis zu unserem Austritte aus diesem Leben. Der Eintritt des Menschen in dieses Leben ist nicht sein wahrer Geburtstag. Von unseren Eltern empfangen wir nur eine gebrechliche Hülle, die uns eine kurze Zeit bedecken und dann als unnütz verfaulen soll, um wieder neu geschaffen zu werden. Unser wahrer Geburtstag ist derjenige, an dem der Geist vom Hauche des Allmächtigen sein höheres Leben empfängt.

Das ganze Menschengeschlecht ist das Werk desjenigen, der die Sterne und das Firmament geschaffen hat. Er ist der Vater aller und liebt auf gleiche Weise jeden Menschen, sei er von niedriger oder hoher Herkunft. Gleichwie der Unterschied der verschiedenen Größe der Pflanzen, die in den Ebenen Thessaliens grünen, vor dem, der sie von der Höhe des Olympus betrachtet, verschwindet, so verschwinden vor dem Allerhöchsten die verschiedenen Abstufungen der Menschen auf dieser niedrigen Erde. Alle sind vor ihm gleich, der Untertan und der König, wer in goldenen Palästen schläft und glänzende Ahnen zählt und wer im verborgenen Tale ruhmlos seine Herde, das kleine Erbteil eines unberühmten Vaters, weidet. Die Größe des Menschen besteht darin, dass er Mensch ist. Kein Erdentitel kommt diesem Namen gleich. Sieh' da, Großer der Erde, deinen wahren Adel, sieh' da den Adel desjenigen, den du. verachtest, weil er in Lumpen gehüllt ist! Willst du dich nun noch eines Vorzuges deiner Geburt über ihn rühmen? Sieh', er ist durch sein Herkommen größer, als du dir's denken magst.

Dieser ewige Herr, der schon dadurch, dass er den Menschen aus dem Nichts hervorzog, sein Vater war, wollte denselben durch neue Bande an sich fesseln. Er nahm unser Blut an, um mit uns ein sterbliches Leben zu haben. Und nachdem er dieses unser Blut in sich vergöttlicht hatte, teilte er uns dasselbe wieder mit, um uns ein göttliches Leben zu verleihen. Darum sind wir in doppelter Beziehung mit ihm Blutsverwandte. In eigener Person gab er uns die hohen Namen Söhne und Brüder. Nun geh' hin und rühme mir deine elenden Titel und verachte den Menschen, der dir gleich ist.

Ach! die Unwissenheit des Menschen und seine freiwillige Blindheit sind die unselige Quelle unserer Übel. Verwüstet ist die Erde, weil der Mensch nicht denkt. Dafür weidet er sich mit Traumbildern und Hirngespinsten. Seine Vernunft ist stumm, weil sie nie gefragt wird. Sie schweigt, weil die unruhigen Leidenschaften immer sprechen und ihre innere Wohnung übertäuben. Die Wahrheit verbirgt sich in einen Winkel, weil er derselben immer ohne Achtung begegnet. Gleich einem Wüstlinge, der die Gesellschaft seiner tugendhaften Gattin, diesen stillschweigenden Vorwurf seiner verbotenen Liebschaft, hasst, lebt er buhlend mit der Lüge, die ihm schmeichelt.

Die Natur und die Gnade machen uns alle zu Kindern desselben Vaters. Vergebens glaubt der Mensch, seinem Gott zu gefallen, wenn er einem einzigen seine Liebe versagt, wenn er einen einzigen mit hartem und lieblosem Herzen verachtet. Der Ewige ist uns Bürge für die Ehre, die er uns zugesagt hat. Seine unendliche Majestät gibt er zum Unterpfande, damit jeder sie ehre. Scheint dir dein Nebenmensch gering und niedrig, so bedenke, mit wem er verwandt ist. Du, der du trotzig von deinem Throne auf den Armen herabblickst, weißt du, wen du in ihm beschimpfst? Deine Beschimpfung fällt auf Gott selber zurück. Er ist es, der unter diesem betrübten Antlitz sich verbirgt, der dort um jenes Mitleid fleht, dessen der Mensch bedarf; er ist es, den du dort liebreich aufnimmst, oder schmählich abweisest. Kommen wird der Tag, da der Herr, nicht mehr verachtet und beschimpft von seinem Geschöpfe, auf den Wolken herabsteigen wird, um Rechenschaft über alle Werke der Menschen zu fordern. Sammeln werden sich um ihren König die himmlischen Heerscharen, und die ganze Welt wird sich zur Rache bewaffnen für ihren Schöpfer. Er sitzt auf dem Throne seiner Majestät, von den Flügeln des Windes getragen, und es erscheinen vor ihm alle Bewohner der Erde. Du wirst sehen, wie sie nach ihrem Verdienste abgesondert und einander gegenübergestellt werden. Dann wird der höchste Richter sich zu denen wenden, die zur Rechten stehen und wird mit jenem Blicke, mit welchem er die Stürme besänftigt, den Himmel erheitert und die Bewohner desselben beglückt, zu ihnen sprechen: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, besitzt das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist; ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt mich beherbergt; ich bin nackt gewesen und ihr habt mich bekleidet; ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht; ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.“ Matth. 25, 34-37. Aber dann wird er sich mit veränderter Miene und Sprache zu denen wenden, welche zur Linken stehen. Wenn durch den Donner die hohen Gebirge erschüttert, die Wolken zerrissen werden, die Erde bebt und das Meer aus seinem untersten Grunde aufgeregt wird und die Klüfte von seinem Widerhall laut dröhnen, so ist das nur ein leiser spielender Zephyr im Vergleich mit jener göttlichen Stimme, die den Gottlosen den ewigen Untergang ankündigt. „Ich bin unter euch hungrig und durstig, ohne Herberge, nackt, krank und gefangen gewesen und ihr Unbarmherzigen kamt mir nicht zur Hilfe. Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist.“ Matth. 25, 31-43. Sieh' da den Richterspruch, sieh', es steht vor deinen Augen Belohnung und Strafe, Verdienst und Schuld. Aber wie kann ich meinem Gott zu Hilfe kommen, fragst du, und wann versage ich ihm meinen Beistand? Wenn du einem Menschen, wer er auch immer sei, alles dieses tust, oder nicht tust. Er selbst hat es gesagt, als er auf dem Ölberg die letzten Ereignisse erklärte, womit sich dieses irdische Leben des Menschen schließt. Alles, was er damals vorhersagte, sollte durch seine Jünger verkündet werden, damit jeder sich bestrebte, dem schrecklichen Verderben zu entrinnen. Was immer der Mensch dem geringsten seiner Brüder tut, das hat er seinem Gott getan. Das sind Worte des Allerhöchsten. Himmel und Erde werden vergehen; aber von seinen Worten wird kein Jota unerfüllt bleiben.

Von dem Angesichte eines Gesetzes, das uns eine solche Liebe und Wohltätigkeit gegen alle Menschen empfiehlt, komm' nun, du Weltweiser, mit einem Herzen von Eis und rühme mir deine Menschenliebe. Du willst, dass die Vernunft die Menschen wohltätig mache. Auch ich will es. Aber du willst das große Licht so erhabener Gesetz von der Vernunft trennen und maßest dir an, dieselbe aufzuklären durch dein Machtwort und durch das Wort derjenigen, die sich mit dir als Lehrer der Sterblichen aufwerfen. O Törichtester und Sinnlosester aller Menschen! Du willst, dass es hienieden hell sei; aber du willst die Sonne auslöschen und die Welt mit dem düsteren Scheine von Fackeln erleuchten, die oft trügerischer sind als die Finsternis selbst. Nur zu oft hat die Erde es gesehen, in welche schauerlichen Abgründe das Menschengeschlecht versinkt, sobald die Vernunft den treuen Beistand des göttlichen Gesetzes verliert.

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autoren/a/augustinus/augustinus-manuale/augustinus-nachtgedanken_12_nacht.txt · Zuletzt geändert: von aj
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