Augustinus, Aurelius - Nachtgedanken - Zehnte Nacht. Die Weisheit Gottes im Reiche der Natur.
Aber welch ein neuer Schauplatz der Wunder Gottes öffnet sich da vor mir! Um mich von meinem heiligen Schauder zu erholen, wollte ich den staunenden Gedanken von dem Reiche der Natur wegwenden, und sieh' da, in der Nähe finde ich das unermessliche Reich der Gnade. Wer kann sich in das unermessliche Gebiet vertiefen, ohne sich zu verirren? Wer erblindet nicht vor dem hohen Glanze, der alles erfüllt. Ewige Weisheit, ich bete dich an auf deinem Throne; aber ich bebe vor dir zurück. Lass mich mein nichtiges Wesen vor dir verbergen. Und doch rufst du mich und lädst mich ein und willst, dass ich deine erstaunlichen Wunder schaue. Du willst, dass die Beschäftigung meines Lebens nicht allein darin bestehe, dich in deiner göttlichen Macht zu erkennen als Schöpfer und Urquell aller Dinge, die aus dem Nichts hervorgehend in den sechs Schöpfungstagen sich gestalteten, sondern auch in dem großen Werke, das eine neue Ordnung der Dinge herbeiführte. Wo soll ich beginnen? Von dem traurigen Ursprunge des menschlichen Elendes, da deine zürnende Gerechtigkeit über den gefallenen Menschen das Todesurteil sprach, während deine milde Barmherzigkeit den großen Erlöser verhieß, der einst dem Urheber des Todes den Kopf zertreten sollte? Oder von der ehrwürdigen Höhle, wo ich den Erlöser in seiner Kindheit seine Leidensbahn zum Heile der Welt beginnen sehe? Wie viele Gegenstände häufen sich da auf einmal vor meinem Blicke! Ich sehe den Hügel Golgatha am hellen Tage mit schwarzem Gewölk umzogen, ich sehe, wie die erschrockene Sonne sich verfinstert, wie die Felsen sich spalten, ich sehe … Ewige Weisheit, du führst mich dorthin, wo der Menschengeist ohne höheres Licht blind ist und keinen Schritt tun kann. Du leitest meinen Weg.
Die Unschuld des Menschen war hienieden nur ein Schimmer, auf den ein tiefes Dunkel folgte. Wie der Engel im Himmel, so störte der Mensch auf Erden die schöne Harmonie, womit der unermessliche Chor aller Geschöpfe seinen Urheber verherrlichte. Du trübe Nacht erinnerst mich an den kläglichen Zustand, in welchem sich das Menschengeschlecht nach der ersten Sünde des Stammvaters befand. Wenn die Sonne müde herabsinkt und im Schoße des Meeres oder hinter dem Schatten der Gebirge Ruhe sucht, dann schwinden mit ihr das schöne Licht und die Gestalten und Farben der Dinge. Ein düsterer Schleier umhüllt die Erde, und alles, was da lebt in Wald und Luft und Wasser, sinkt in die Arme des Schlafes. Gräuliches Nachtgevögel kommt indes hervor aus zerfallenem Gemäuer, aus alten Schlössern und Städten und aus unwirtlichen Felsenklüften. Die Dunkelheit, welche die schlafende Natur bedeckt, ist ihr angenehmes Element, und das ist die Zeit ihrer heillosen Herrschaft. Kühn schwingen sie die Flügel durch die stille und dunkle Nacht und eilen hinterlistig nach Raub und Beute. Ihr Gesang ist nur ein klägliches Geheul, welches den Schrecken der stillen Nacht vergrößert und den armen Vöglein den Untergang verkündet.
So verbreitete sich dunkle Nacht über das Menschengeschlecht, nachdem die ewige Sonne, das Licht unseres Geistes, durch die Sünde des Stammvaters von ihm gewichen war. Schon kamen die zur ewigen Nacht verdammten Geister aus dem dunklen Kerker des Abgrundes und verbreiteten sich über die dunkle und unfreundliche Erde zu unserem Verderben. Der Ewige konnte sich fern von uns halten und uns hilflos als Schlachtopfer der Sünde, als Kinder des Todes verlassen; aber er wollte es nicht. Seine unendliche Güte im Bunde mit seiner hohen Weisheit bereitete das große Werk der Erlösung vor und ließ einen Strahl des Heils uns leuchten, bis er selbst erschien, um uns den Tag zu bringen und das Werk zu vollenden. Glaube, du warst die heilbringende Morgenröte, welche die Schatten des Todes aus der Welt verscheuchte. Du wandtest alsbald den Blick der armen Sterblichen nach dem Aufgange hin, wo die wohltätige Sonne erscheinen sollte, und die Sehnsucht nach ihr ersetzte ihnen ihre wirkliche Ankunft. Endlich erschien der große Erretter und das große Werk ward vollendet.
Dich bete ich an, heiliges Kreuz. Du bist den hartnäckigen Juden ein Ärgernis und den stolzen Heiden eine Torheit. Dank der großen Barmherzigkeit! In dir sehe ich ein Meer von Licht, in dem sich nicht nur die schwachen Sterblichen, sondern auch die erhabensten Geister, die den Thron des ewigen Königs umgeben, verlieren. In dir sehe ich die unendliche Barmherzigkeit und die Strenge, die Strafgerechtigkeit und die Vergebung, den Hass und die Liebe auf eine unaussprechliche Weise vereinigt. In dir finde ich die entgegengesetzten Dinge vereinigt: die Hoheit und die Niedrigkeit, die Unschuld und die Schuld, die Schmach und die Ehre und das größte aller Wunder, einen Gott in Menschengestalt!
Die Hoffart des Menschen war die Quelle aller unserer Übel; die Erniedrigung des Gottmenschen war das Heilmittel. Der erste Mensch wagte es, vermessen sich zu empören und der Gottheit den Gehorsam zu verjagen. Der Erlöser als Beispiel der tiefsten Unterwürfigkeit und des Gehorsams erniedrigte sich und nahm Knechtsgestalt an und trug an seiner eigenen Person die Strafe dieses ungehorsamen Knechtes. Er gab sich selbst der Schmach hin und den Qualen, die jener verdient hatte, und brachte sich der beleidigten ewigen Majestät dar. Das Geschöpf ist wieder zurückgeführt in das rechte Verhältnis zu seinem Schöpfer, bestraft ist der Schuldige; aber bestraft in demjenigen, der sich unschuldig für ihn dem Tode preisgab. Getilgt ist die Schmach, die ein Erdenwurm dem Allmächtigen zugefügt; aber der sie tilgte, war dem Beleidigten gleich. Die Strafe der beleidigten Gottheit ist unendlich; aber größer ist die Genugtuung als die Schuld. Viel größer ist der Gott, der da versöhnt, als der Mensch, der da sündigt; die Güte, die da vergibt, als die Schuld des Beleidigers. Glückliche Schuld des alten Stammvaters, welche das Verderben über das Menschengeschlecht brachte, aber dadurch auch dem Gottmenschen Gelegenheit gab, uns das Heilmittel zu bringen. Sein Blut floss über die tödliche Wunde und brachte den Kranken nicht nur Gesundheit und Leben, sondern überhäufte sie auch mit unzähligen anderen Gütern.
Solange der Mensch im Paradiese unschuldig blieb, war er ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens. Gott sah in ihm die Idee seines Geistes, sein Ebenbild und das Meisterwerk seiner Allmacht. Aber dadurch, dass der Erlöser ihn zu seiner Unschuld zurückgeführt, tritt er in einen neuen Rang, gehört Gott an mit höherem Recht und hat neue Ansprüche auf seine Liebe. Das göttliche Blut, durch welches er wiedergeboren wird, macht ihn zu einem himmlischen Wesen, zu einem Sohne des Allerhöchsten, zum Verwandten und Bruder seines ewigen Wortes, zum Freunde und Geliebten des Heiligen Geistes, der mit dem Vater und dem Sohne eins ist. Aber der Mensch, kennt er auch seine Herrlichkeit?
Unselige Herrschaft der Sinnlichkeit, du verrätst und unterjochst ihn, ziehst ihn ab von Gedanken und Gesinnungen, die ihn, den Zögling des Himmels, beleben sollten. Wie wenn sich im Tale die Dünste zu weißem Nebel verdichten und dem Wanderer den Himmel, die Sonne und die übrigen Gegenstände, die bei heiterer Luft in weiter Entfernung ringsherum gesehen werden, verhüllen: so wandelt derjenige in Finsternis, welcher in dem sumpfigen Klima der durch die bösen Geister verdunkelten und umwölkten Natur umherirrt. Er sieht nur die bekannten Gegenstände, die seinem Auge nahe liegen, und sein Geist, blind für die höheren Dinge, läuft jenen nach. Erwache, O Mensch, und erschwinge dich in reinere Regionen, erhebe dich in die heitere Luft über die Gipfel der Berge, steige auf Golgatha und du wirst sehen, wie alles, was du jetzt bewunderst und was dein Herz verführt, so tief unter dir liegt. Du wirst sehen, wie weit sich dein wahrer Horizont ausdehnt, welch eine reine Luft du einatmen sollst, welch ein schönes Licht dir leuchten soll.
In diesem Lande der Krankheit, worin du dich befindest, folgt jeder seinen aberwitzigen Träumereien. Die Wollust unter dem falschen Scheine von Glückseligkeit zieht einen unermesslichen Schwarm betrogener Sterblichen nach sich. Das Haar bekränzt mit zarten Blumen, führt sie dieselben unter verführerischer Gestalt in anmutige Gegenden. Wo sie ihren Fuß hinsetzt, erscheint alles mit Rosen besät. Die dichte Schar drängt sich Heran und folgt unruhig ihren Schritten; aber die versteckten Dornen röten den Boden mit ihrem Blute, und hier erliegt einer ohnmächtig, der eine stürzt hier, der andere dort in Abgründe mit grünendem Rasen bedeckt. Ein anderer Haufe trägt in seinen Gesichtszügen das Bild der Sorgen. Ihm folgen die Nachtwachen, die vergeblichen Anstrengungen und der Betrug. Das Gold ist der tote Götze, den er anbetet und wodurch er einst glücklich zu werden hofft. Er sucht und spart und legt beiseite und häuft an für jenen Tag, den er sich noch fern träumt und der nie erscheint, weil der Tod ihm immer zuvorkommt und alles raubt. Einen anderen seh' ich, der ängstlich bemüht ist, sich aus der Menge hervorzutun und sich glänzendes Ansehen in der menschlichen Gesellschaft zu verschaffen, und in einem Augenblicke vielleicht stürzt er hin, um sich mit dem Pöbel im Schoße des Grabes zu vermischen. Kurz, jeder macht sich zum nichtigen Ziele seiner Wünsche entweder die niedrige Lust, oder die Habsucht, oder was sonst seinem Stolze hienieden schmeichelt, und schließt sich elend aus von dem erhabenen Lose, wozu ihn der Himmel im anderen Leben beruft.
Die göttliche Weisheit kam aus Liebe zu uns, um unsere Lehrerin zu werden, um die Täuschung zu zerstreuen, die uns auf den Pfaden des Todes irren ließ, kam, um uns zur Glückseligkeit hinzuführen. Sie ward klein, um sich zu unserer Niedrigkeit herabzulassen. Um uns zu ihrer Nachfolge zu ermuntern, bekleidete sie sich mit unserem Fleische, und um uns in ihrem Beispiele eine bestimmte und deutliche Richtschnur zu geben, war sie wie einer aus uns. Aber in dieser schlechten Hülle, die sie unsertwegen angenommen, wollte sie nicht verborgen bleiben. Ein jeder kann sie schauen. Nein, dazu bedarf es weder eines erhabenen Geistes noch der griechischen Weltweisheit. Sie offenbart sich dem Ungelehrten, dem gemeinen Manne, und selbst die Sinne bestätigen uns ihre verborgene Größe. Durch sie erheben sich die schmachtenden Gichtkranken auf den gelähmten Gliedern, die Lahmen treten auf die früher unbrauchbaren Füße, die Blinden öffnen ihr Auge dem nie gesehenen Tageslichte, die Tauben hören und es löst sich die Zunge der Stummen, und sogar aus dem modernden Grabe kehren die Toten zurück, um ein neues Leben zu beginnen. Wenige Brote vermehren sich in ihrer Hand und werden tausend Hungrigen zur Sättigung; die Sturmwinde und die tobenden Wogen des Meeres vernehmen ihre Stimme und legen sich. Auf Einen Wink von ihr fliehen die Geister des Abgrundes und die ganze Natur gehorcht und dient ihr.
Du siehst sie, o Mensch, du siehst die ewige Weisheit in sterblicher Hülle. So sei denn aufmerksam auf ihre Lehre und folge ihrer Spur. Blick hin auf diese Gottheit, die da Mensch wird und sichtbar auf dieser Erde erscheint. Sie geht einen eigenen Weg, fern von der Weisheit dieser Welt. Sie betritt gleich anfangs den ehrwürdigen Weg der Armut, der Erniedrigung und der Leiden. Die blinden Juden erwarteten, dass ihr Retter unter Jubelgeschrei und mit prächtigem Hofstaate, im Glanze des Thrones unter dem Getöse siegreicher Waffen und umgeben von zahlreichen Kriegsscharen gleich einem Cyrus, Sesostris und Alexander, im Triumph prangend, auftreten würde. Er erschien auf dieser Erde still und verborgen durch den unbekannten Namen einer armen Jungfrau und eines Zimmermannes. Eine ganze Stadt hat für ihn keine Herberge. Eine armselige Hütte ist seine Geburtsstätte. Der Winter, die raue Luft und eine Wohnung ohne Schutz gegen die kalte Nacht bezeichnen die ersten Schritte seiner sterblichen Laufbahn. Er wächst auf, arm und unbekannt, geht umher und streut den Samen des ewigen Lebens wohltätig aus, begleitet von Mangel, von Mühseligkeit und Verachtung, Verleumdung und Schmach. Endlich am Ziele seines Erdenwandels verlässt er uns und verlässt uns mit Schmach gesättigt, von Schmerz aufgerieben.
Erwach', o Mensch, und lerne! Alle die hinfälligen Dinge dieses Lebens sind für ein unsterbliches Wesen nur Träume. Irdische Macht und Größe sind für uns nur stolze Armut. Der Mensch, der sie als das würdige Ziel seines Verlangens ansieht und ihnen nachjagt, würdigt sich herab und steigt vom Himmel, um unsere niedrigen Berge zu erklimmen, macht sich zum Wurme, um unter Würmern groß zu erscheinen. Der Reichtum ist Dunst, eine Blume, die nur einen Augenblick blüht und oft eine Giftpflanze; tödlich ist der Honig, den wir auf dieser Erde sammeln. Er ist eine Lockspeise und ein Fallstrick, der den unsterblichen Geist fesselt, der doch bestimmt ist für den Himmel und für höhere Genüsse. Der Mensch ist bestimmt für andere Güter, andere Freuden und für eine andere Größe. Sie sind über alles Sichtbare erhaben und ruhen im Schoße der Gottheit.
Aber wer leiht uns Flügel, dass wir uns bis dahin erschwingen, wer gibt uns Kraft zu so erhabenem Fluge? Eben diese Weisheit, die schon einmal vom Himmel herabstieg, um uns das Ziel zu entdecken und den Weg zu zeigen, den wir wandeln sollen. In jenem großen Werk ward sie eine Zeit lang unsere Lehrerin und gab uns Kraft und Beistand zur Vollendung desselben. Durch einen neuen und feierlichen Bund macht sie sich anheischig, uns beizustehen und durch ihre Kraft werden wir allmächtig. Auserwähltes Volk des Allerhöchsten, du sahst einst den Sinai bedeckt mit seiner Herrlichkeit. Dunkles Gewölk umhüllte denselben und es blitzte und donnerte ohne Unterlass. Du standest erschrocken am Fuße des Berges. Der Herr redete aus der Wolke, machte mit dir einen Bund und gab dir sein anbetungswürdiges Gesetz, auf steinerne Tafeln geschrieben. Du warst damals sein Volk und er war dein Gott.
Aber sieh, von einer anderen Seite vernehme ich ein neues Getöse. Schon wird die Erde erschüttert und es erhebt sich ein brausender Sturmwind. Schon hat ein neuer Moses, nicht mehr ein bloßer Mensch, sondern teilhaftig der göttlichen Natur, mit dem Allmächtigen einen Bund errichtet auf einem anderen Berge, einen neuen Bund für ein zahlreiches Volk, nicht mehr besiegelt mit dem Blut der Böcke und Kälber, sondern mit seinem eigenen Blut. Die Apostel des Neuen Bundes warten nach göttlichem Befehl zu Jerusalem auf die Ankunft des Heiligen Geistes. Schon ist die Stunde herangekommen, wo sie alle in dem geräumigen Saale versammelt ihre Herzen zum Himmel wenden. Sieh', da steigt die Herrlichkeit des Allerhöchsten über sie herab. Der göttliche Geist kommt zu ihnen hernieder unter dem Brausen des Windes und gibt ihnen ein neues Gesetz, nicht mehr die steinernen Tafeln, sondern in die Herzen geschrieben. Schon bereitet er sich vor zur Verkündigung desselben. Feuerzungen kommen auf sie herab; Feuerzungen, daher reden sie zu dem Geiste und entzünden die Herzen. Schon hört man von ihnen fremde Mundarten, man hört sie in unbekannten Sprachen die Größe des Gottes aller Völker verkünden. Schon eilen zu Tausenden herbei Parther, Meder, Phrygier, Ägypter, Römer, und sie alle vernehmen in ihrer Landessprache das Gesetz des Gottes, der vom Himmel herabkam, Ewige Weisheit! wie sehr beschämst du den Stolz des Menschen! Eine kleine Zahl von ungelehrten und gewöhnlichen Menschen, nur mit der Angel und dem Netz bekannt, sind die Helden, welche die Welt unter dein höheres Joch beugen sollen, sind die Verkünder deines neuen Gesetzes, die Führer des neuen Volkes, das aus allen Nationen bestehen soll, die Werkzeuge deiner Großtaten, die Dolmetscher und Diener deines ewigen Willens. Töricht bist du, menschliche Weisheit, schwach du, menschliche Macht und alles, was sich auf euch stützt. Gott allein ist groß, ist allein weise und stark, und groß und weise und stark ist derjenige, welcher seine eigene Armseligkeit erkennt, demütig zu seinen Füßen hinsinkt und von ihm ausgerüstet wird mit hoher Kraft. So befestigt sich das große Reich Gottes.
Göttliches Reich auf Erden, mit welch einem himmlischen Lichte bist du umgeben! Ich sehe die verflossenen Jahrhunderte alle aufmerksam auf dich schauen. Du brachtest ihnen das Licht des Tages. In dir seh' ich erfüllt die Vorbilder, welche die Gottheit unseren Vätern schon bekannt machte. In dir seh' ich den erhabenen Thron des Höchsten und sein Zelt unter uns Sterblichen. In dir sehe ich das Paradies, worin der Mensch für den Himmel geboren wird. In dir sehe ich den himmlischen Adam, für uns ein Muster des Gehorsams gegen den Schöpfer, den Urheber und die Quelle der Wiedergeburt für das Menschengeschlecht, den Urheber und die Quelle der Gnade und des Heils. Er schläft ein und aus seiner offenen Seite bildet der Allmächtige diese höhere Braut, die als Mutter aller lebenden ewiges Leben gibt. Da seh' ich den Baum der Erkenntnis und des Lebens. Einst wollte der stolze Mensch seine Hand ausstrecken gegen das göttliche Verbot und er zog sich den Tod zu. Hier wird der Mensch durch Gottes Güte zum Genuss eingeladen, und durch den Genuss wird er des göttlichen Lebens und der göttlichen Erkenntnis teilhaftig. Hier ist das heilbringende Bad, wodurch der Mensch, der sich den Dienern des Himmels zeigt, von seinem Aussatze gereinigt wird. Hier das Opfer, welches für die Sünden des Volkes außerhalb der Tore dargebracht wird. Hier das Blut des Lammes, das vor dem Untergange bewahrt. Hier ist geöffnet der Vorhang zum Heiligtum des Tempels, das früher verhüllt war. Hier das reine Opfer, das vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergange dem großen Namen des Herrn dargebracht wird. Hier geht das Gesetz von Sion aus und das Wort des Herrn von Jerusalem. Hier ist das Haus Gottes, erbaut von dem Könige der Weisheit und des Friedens, Herrlicher als Salomos Tempel. Hier die heilige Bundeslade des ewigen Bundes. Hier das himmlische Manna, durch welches man unsterblich wird. Hier ist das ewige Priestertum, das Brot und der Wein, welches der königliche Priester Melchisedech dem Herrn darbringt.
O Brot, o Wein, in welchem die göttliche Weisheit die großen Wunder ihrer Macht zusammenfasst und die Schätze ihrer Liebe gegen uns verbirgt, können wir auf Erden etwas Größeres verlangen, als was du uns im Himmel eröffnest?
In dir ist verborgen, der das ganze Weltall mit seiner Herrlichkeit erfüllt und die Bewohner des himmlischen Jerusalems beglückt. Also ein Gott, der um unsertwillen herniederkam und Mensch ward, ein Gott, der durch seinen Tod uns Heil und Leben brachte in seinem Blute, gibt sich jetzt unter einer niedrigen Hülle uns zur Speise? Großer Gott! da ergreift mich Staunen und bringt mich außer Fassung. O Nacht! die du einst den Erlöser der Welt mit seinen Jüngern am Tische sahst, als er zum Vater zurückkehren wollte; die du sahst, wie er die letzten Augenblicke seines sterblichen Lebens mit dem anbetungswürdigen Geschenke bezeichnete, das alle Gaben übertrifft, o ewig denkwürdige Nacht! Durch dieses heilige Geschenk tragen wir den Keim der Unsterblichkeit in uns, besitzen den Preis und das Unterpfand der ewigen Erbschaft, besitzen den Urheber und die Quelle der Glückseligkeit, tragen in unserem Busen denjenigen, der diese weite Welt umfasst, den allmächtigen und unendlichen Gott. Komm'! 0 Mensch, und erkenne, zu welch einer Größe dich Gott erheben will. Du kannst sie ermessen aus der tiefen Erniedrigung, zu der er sich um deinetwillen herabgelassen hat. Betrachte dieses Wunder und aus dessen Größe schließe auf den Endzweck. Wer öffnet mir die Himmel, damit ich dort die Majestät des Menschen bewundere! Wer enthüllt mir auch nur zum Teil die Größe dieses Wesens, das dorthin verpflanzt wird! Du Kind des Allerhöchsten, teilhaftig der göttlichen Natur! vergiss deine Abkunft und dein Geschlecht mit seinen niedrigen Wünschen. Schließ dich an deinem neuen göttlichen Erzeuger, lebe seiner würdig, werde ihm ähnlich, folge ihm nach und rüste dich mit seinem Geiste. Verschmähe die Erde und erhebe dein Herz zum Himmel und lebe für jene Seligkeit, die dich dort erwartet; lebe für jenes Reich, wo Derjenige, welcher jetzt unter den Gestalten des Brotes und des Weines aus Liebe zu dir sich verbirgt, als Gott der Herrlichkeit sich offenbaren wird, und wo die Kreatur, nach seinem Bilde geschaffen, hienieden dem Erdenwurme gleich, den Besitz der hohen Kindschaft erlangen wird.
Ewiger Gott! ich habe dich betrachtet und angebetet im Schatten der niedrigen Wohnung des Naturreiches; betrachtet hab' ich dich im geheimnisvollen Reiche der Gnade. Wie groß erscheinst du da! Ha, was wirst du mir erst sein im Reiche der Herrlichkeit!