Arndt, Friedrich - Der Wert der Bibel - Der Reichtum der Bibel.
Reich ist die Natur um uns her. Paulus sagt: „Eine andere Klarheit hat die Sonne, eine andere Klarheit hat der Mond, eine andere Klarheit haben die Sterne, denn ein Stern übertrifft den andern nach der Klarheit.“ (1 Kor. 15,41.) Und in der Tat, reich ist der Himmel und das Himmelsgewölbe; Millionen und abermals Millionen von Sternen ziehen unsere Blicke in unermessliche Fernen und übersteigen alle unsere Berechnungen. Reich ist aber auch die Natur auf Erden. Wie reich sind im Frühling die Wiesen und Felder mit Blumen geschmückt, über deren Duft und Pracht wir immer von Neuem erstaunen! Wie reich sind die lebendigen Geschöpfe auf der Erde, in der Luft und im Wasser, die sich ihres Daseins freuen! Und bei diesem Reichtum - welche Mannigfaltigkeit! Da gleicht kein Blatt dem andern, keine Blume der andern, kein Geschöpf dem andern, keine Wolke am Himmel der andern. Bald erscheint die Natur vor uns in ihrer erschreckenden Großartig. feit, wenn der Sturmwind durch ihre Wälder und Felder heult und das Meer in seinen innersten Tiefen aufwühlt, bald tritt sie uns im Blau des Himmels und im friedlichen Sonnenschein, besonders im goldnen Purpur des Abendlichts, in ihrer milden wohltuenden Seite entgegen. Auf gleiche Weise ist die Bibel reich. Sie ist gleichsam ein Garten voll duftender Blumen und köstlicher Früchte; jedes Blatt ein Beet; und darin dieselbe reiche Mannigfaltigkeit und Abwechslung, wie in der Natur. Manchmal, wenn wir sie lesen, ist uns zu Mute, als ob Gottes Stimme wie ein sanftes Säuseln des Windes uns anwehte und himmlischen Frieden ins Herz senkte; manchmal, als ob Blitz und Sturm und Donner des lebendigen Gottes uns erschütterten. Wir schreiten durch die Fluren der heiligen Schrift und bald sehen wir uns umgeben von duftigen Auen, bald von schroffen Abgründen, bald von himmelhohen Bergen, bald von unendlichen Meeren. Ja, die Bibel ist reich und sie macht reich. Das sind die beiden Gedanken, in welchen unsere Betrachtung auseinander gehet.
I.
Die Bibel ist reich. Schlagen wir sie auf, so fängt sie an mit den Worten: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und Gott sprach: es werde Licht, und es ward Licht.“ Das klingt wie eine Erzählung. Und in der Tat, es ist auch eine Erzählung, ja, bald reiht sich Erzählung an Erzählung, Geschichte an Geschichte. Die Bibel tritt uns zunächst entgegen als ein Geschichtsbuch, und zwar als dasjenige, das weiter zurückgeht, als die allerältesten, die wir sonst besitzen. Sie enthält in dem ersten Buche Mose die Geschichte des Ursprungs der Welt, des Ursprungs des Menschen, des Ursprungs der Sünde und des Todes, die Geschichte von der Sintflut und dem Ursprung der neuen Menschheit, der verschiedenen Sprachen und Völker und Religionen, endlich von dem Ursprung des auserwählten Glaubensvolkes Israel. Hat uns das erste Buch Mose bis an diese Grenze geführt, so tritt in den späteren Geschichtsbüchern die Geschichte dieses auserwählten Volkes Gottes vor unsere Augen, aber so, dass die Streiflichter von dieser Geschichte sich über alle angrenzenden Völker, über die Assyrer, Babylonier, Meder, Perser, Phönizier, Ägypter und Araber verbreiten; im neuen Testament werden wir sogar nach Griechenland und nach Rom, der Hauptstadt der alten Welt, geführt. Es wird uns erzählt die Geschichte dieses auserwählten Volkes im Lande Kanaan, wo Milch und Honig fließt, aber so, dass uns dieses Land wieder mit den herumliegenden Ländern in Berührung bringt und uns besonders nach Nordost und Südwest weist. Es ist die Geschichte des menschlichen Herzens, die wir in der Geschichte dieses Volkes lesen, gleichsam ein Tagebuch, geschrieben vom Geist Gottes über die Geheimnisse unseres Innern. Wir werden hineingeführt in alle Höhen und Tiefen unserer Natur, in ihre Licht- und Schattenseiten, ihre Krankheiten und ihre Genesung, in die Herrlichkeit, die Gott ursprünglich in unsere Seele gelegt, aber auch in die Verworfenheit und Versunkenheit, in welche die Sünde uns gebracht hat. Gleichzeitig ist sie die Geschichte Gottes des Herrn, seiner Verheißung, seiner Weltregierung, seiner Weisheit, Allmacht, Liebe und Gerechtigkeit, die uns, von Anfang bis zu Ende in den Führungen und Schicksalen Israels entgegentritt. Man könnte demnach die Bibel die Geschichte Gottes und des Teufels, des Glaubens und des Unglaubens, der Wahrheit und des Irrtums, der Tugend und des Lasters, der Zeit und der Ewigkeit, der Erde und des Himmels nennen. Und in dieser Geschichte welche Charaktere, welche Lebensbilder, großartig und einzig in ihrer Art! Ja, so großartig, dass sie in den späteren Jahrhunderten in unzähligen Gedichten besungen, in unzähligen Meisterwerken der Musik und Oratorien aller Art gefeiert worden sind, dass die Kunst zu ihrer Verherrlichung und ihren Darstellungen in Bildfäulen, Gemälden und Kupferstichen, mit denen wir unsere Tempel und Zimmer bis auf diesen Tag schmücken, fortwährend gearbeitet hat. Da tritt uns vor allem ein Abraham, Isaak und Jakob entgegen, diese drei Erzväter der Urzeit; lauter Männer des Glaubens; Abraham, der Glaubensvater, der in seinem ganzen Leben die Gerechtigkeit durch den Glauben offenbarte; Isaak, in dessen Dasein die Stille, die Innerlichkeit, die Beschaulichkeit des Glaubens Gestalt gewinnt; Jakob, in dem der Glaube besonders als Trost, als Denkmal der göttlichen Weltregierung uns entgegenleuchtet. Abraham, über dessen Leben man schreiben möchte: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat;“ Isaak, von dem das Wort gilt: „Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein;“ Jakob, über dessen Gang die Inschrift steht, die er ihm selber gegeben: „Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens,“ und „wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen.“ Bei allen dreien liegt aber die eine Antwort und das eine Bekenntnis im Hintergrunde: „In dem Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke!“ Dann Joseph. Wer kennt diesen Joseph nicht? diesen keuschen Jüngling mit seiner Losung im Munde und im Herzen: „Wie sollte ich ein solch großes Übel tun und wider Gott sündigen?“ dieses reine Gemüt, das in der weiteren Entwicklung seines Lebens eine Weisheit, eine Demut, ein Gottvertrauen, einen Edelmut, eine Herzensgüte in allen Verhältnissen offenbart, dass er sich die Liebe der Mit- und Nachwelt bis auf diese Stunde erwirbt und selbst die harten Herzen seiner Brüder, die sich gegen ihn so schwer versündigt hatten, überwindet, so dass auf ihn das Wort passt: „Ein Held, der vergibt, ist größer als ein Held, der da siegt.“ - Dann Moses, jener kolossale Mann des Altertums, von dem die Schrift sagt: er war der Knecht Jehovahs, treu erfunden in seinem ganzen Haus; der Herr ging mit ihm um wie ein Mensch mit seinem Freunde; er war der Prophet, der seines gleichen in Israel nicht hatte, der die Schmach Christi für größeren Reichtum achtete, denn die Schätze Ägyptens, der sich an den, den er nicht sah, hielt, als sähe er ihn, der der geplagteste Mensch war auf Erden, der älteste Prophet, der älteste Dichter, der älteste Geschichtsschreiber der Welt; welcher unter Israel die riesenhafte Aufgabe gelöst, dass er ein halsstarriges Volk vierzig Jahre durch die Wüste in das Land der Verheißung geführt hat. Dann, wir wollen von den Richtern nicht sprechen, die Zeit gestattet uns dies nicht, Saul, David und Salomo. Saul, über dessen Leben die Warnung steht: „Hüte dich vor Stolz und Hoffart;“ David, der Mann nach dem Herzen Gottes, der reichbegabte Psalmensänger, der wohl in schwere Sünde fallen kann, aber auch aufrichtige Buße tut, Vergebung von seinem Gott empfängt und versichert wird der mancherlei Gnaden Gottes; Salomo, der weise Fürst, der den prachtvollen Tempel auf Morija erbaut und dessen Sprüche in aller Munde leben. Dann Elias und Elisa. Elias, von dem es heißt: „er brach hervor wie ein Feuer und sein Wort brannte wie eine Fackel“ (Sirach 48,1); Elisa, in dem schon der Wiederschein des Evangeliums mitten durch die Gesetzesstimmen glänzt. Und im neuen Testament die Evangelisten und Apostel und vor allen Dingen Paulus, der größte unter den Aposteln, voll hebräischer Tiefe und griechischer Klarheit, der mehr gearbeitet hat als sie alle; ein Muster in allen christlichen Tugenden, der da sagen konnte in tiefer Demut und in voller Wahrheit: „Seid meine Nachfolger, gleichwie ich Christi.“ Welche Bilder, welche Charaktere! Wir beugen uns vor diesen Männern, in denen der Herr selbst mit seinem Geiste wohnt, die ihre Kronen zu den Füßen des Lammes niederwerfen und mit ihren heiligen Liedern, mit ihren Glaubensbekenntnissen, ihrem untadelhaften Wandel, ihrem blutigen Märtyrer-Tode Jesum Christum anbeten, den Kern und Stern der Schrift, den Gottmenschen einzig und unvergleichlich im Himmel und auf Erden. Es ist kein Wunder, wenn kein Geschichtsbuch in der Welt diesem Geschichtsbuch kann verglichen werden, da es der Bibel nicht darauf ankommt, die äußern Großtaten und Leistungen ihrer Helden zu beschreiben, sondern vielmehr die Entwicklung ihres inneren Glaubenslebens und ihres Verhältnisses zu Gott, ihrem Herrn und Heiland, so wie andrerseits die Geschichte des Reichs Gottes auf Erden, seine senfkornartigen Anfänge und seine zwar stille und langsame, aber um so sichere und siegreiche Ausbreitung.
Nebenbei sei noch erwähnt, dass zur Bereicherung menschlicher Kenntnisse auch in andern Wissenschaften, in Geographie, Naturfunde, Sternfunde, Sprachenfunde die heilige Schrift alten und neuen Testaments zu allen Zeiten den Forschern und Gelehrten eine reiche Fundgrube dargeboten hat und noch fortwährend darbietet.
Genug, die Bibel greift in alle Wissens- und Lebensgebiete ein, beherrscht die größten Weltereignisse wie die kleinsten Beziehungen jeglichen Menschenlebens; sie ist ein Licht in der Finsternis, ein Kompass auf dem stürmischen Meer der Weltgeschichte, sie ist Lösung des großen Rätsels, wie Gott Alles beschlossen hat unter den Unglauben, damit Er sich Aller erbarme.
Schlagen wir weiter die Bibel auf, so finden wir nach den Geschichtsbüchern, sowohl im alten als im neuen Testamente, Lehrbücher und prophetische Bücher, und damit verklärt sich die Bibel mehr vor unseren Augen; sie erscheint uns nicht mehr bloß als ein heiliges Geschichtsbuch, sondern auch als ein Religionsbuch. Zwar nicht in der Form eines Lehrgebäudes, wie wir es in unseren Dogmatiken und Katechismen haben, wo eine Lehre nach der andern vorgetragen, jede einzelne Lehre durch Beweise begründet wird und alle unter einander im engsten Zusammenhange stehen, sondern so, dass die einzelnen Wahrheiten und Lehren zerstreut an den verschiedensten Stellen sich vorfinden und nach den verschiedensten Stimmungen und Bedürfnissen geschrieben sind, aber alle wie eine große, eng in einander greifende, felsenfeste, vom Himmel geoffenbarte Wahrheit sich zuletzt zu einem volltönenden harmonischen Ganzen vereinen. Die fünf Lehrbücher des alten Testaments sind: das Buch Hiob, der Psalter, die Sprüche Salomonis, der Prediger Salomonis und das Hohelied Salomonis.
Das Buch Hiob predigt in Geschichtsform die Lehre göttlicher Vorsehung, und dass die Leiden und Trübsale dieser Zeit allerdings einerseits Strafen unserer Sünden sind, aber andererseits zugleich Erziehungsmittel in der Hand unseres Gottes, um unseren Stolz zu beugen, unseren Weltsinn auszurotten, uns zur Buße zu rufen und immer mehr und mehr die Gottesfurcht zur Quelle aller Weisheit machen zu lassen. - Dann der Psalter mit seinen 150 Psalmen. In diesen Psalmen sieht man, wie Luther sagt, so recht den Heiligen ins Herz, hört sie beten in ihrer stillen Kammer zu dem Herrn ihrem Gott und lernt von ihnen die heilige Betkunst. Wenn es da heißt: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir; Herr, höre meine Stimme, lass Deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens. So Du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen? (Ps. 130,143.) Gott sei mir gnädig nach Deiner Güte, und tilge meine Sünden nach Deiner großen Barmherzigkeit, wasche mich rein von meiner Missetat und reinige mich von meiner Sünde!“ (Ps 51,3.4) so lernen wir alsbald Buße tun, und schlagen auch an unsere Brust und sprechen: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Wenn wir lesen, wie der heilige Sänger Gottes Güte und Barmherzigkeit rühmt: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was Er dir Gutes getan hat, der dir alle deine Sünden vergibt, und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöset, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit“ (Ps. 103), dann lernen auch wir einstimmen in solch Lob- und Danklied, preisen tagtäglich die unverdiente Gnade und Barmherzigkeit Gottes und erfahren an uns selbst die Wahrheit des Ausspruchs: Wer Gott in allem Tun von Herzen loben kann, der fängt schon in der Zeit das ewige Leben an. Wenn es weiter heißt: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn du wirst Ihm noch danken, dass Er deines Angesichts Hilfe und dein Gott ist“ (Ps. 42), dann lernen wir uns auch trösten, wenn Gott uns in die Kreuzschule hineinführt und durch Stillesein und Hoffen stark werden. Wenn es heißt: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzet, da die Spötter sitzen, sondern hat Lust zum Gesetz des Herrn, und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht. Der ist wie ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringet zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das gerät wohl“ (Ps. 1); dann lernen wir recht den Unterschied zwischen den Gerechten und Gottlosen, kennen und entscheiden uns gern für die Einen und gegen die Andern. Und wenn wir ein anderes Mal den Angstruf hören: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volks“ (Ps. 22); dann schauen wir Ihn, den Mann der Liebe und der Schmerzen, Hände und Füße durchgraben, Seine Zunge brennend und lechzend vor Durst, die Kriegsknechte geschäftig, das Los zu werfen um Sein Gewand; wir sehen den Heiligen Gottes am Kreuz im Sterben hängen und seufzen:
Was Du, o Herr, erduldet,
Ist Alles meine Last;
Ich, ich hab' es verschuldet,
Was Du getragen hast.
Schau her, hier steh' ich Armer,
Der Zorn verdienet hat;
Gib mir, o mein Erbarmer,
Den Anblick Deiner Gnad'!
Nun kommen die drei Bücher Salomonis. Die Sprüche Salomonis, enthaltend goldene Lebensregeln und Sprichwörter; der Prediger Salomonis, wo Salomo im hohen Alter die Eitelkeit der ganzen Welt besingt und dann ermahnt, Gott zu fürchten und seine Gebote zu halten; und endlich das Hohelied, in welchem er sich versenkt in die geheimnisvolle Verbindung der liebenden Seele zu ihrem Bräutigam im Himmel, wie sie Ihn vermisst, Ihn sucht und findet und ewig in seiner beseligenden Nähe weilt.
Vollends die Propheten; vier große und zwölf kleine. Vor allem Jesaja, der König unter den Propheten, und der Evangelist des alten Testaments genannt. Er ist, möchte man sagen, eine Bibel im Kleinen, denn er hat so viel Kapitel, als die Bibel kanonische Bücher enthält. Seine 39 ersten Kapitel, entsprechend den 39 Büchern des alten Testaments, enthalten lauter Buß- und Strafpredigten über den Abfall des Volkes, ganz im Geiste des alten Bundes; und seine letzten 27 Kapitel gleichen den 27 Büchern des neuen Testaments, denn vom 40. bis 66. Kapitel ist von lauter prophetischen Weissagungen auf die Tage des Heils die Rede, bis endlich immer klarer und deutlicher von Dem gesprochen wird, der um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen ist, auf dem die Strafe liegt, damit wir Frieden hätten und durch seine Wunden geheilt würden.
Im neuen Testamente 21 Episteln: lauter Lehrschriften; 14. von Paulus, 7 von Johannes, Petrus, Jakobus und Judas. Und zuletzt das prophetische Buch, die Offenbarung Johannis mit ihren Hieroglyphen und Fernsichten, endend mit jenem wunderbaren Lob, gesungen im himmlischen Jerusalem, dem Schöpfer des neuen Himmels und der neuen Erde. Müssen wir nicht von Neuem ausrufen: Welcher Reichtum an Lehren, Verheißungen, Beispielen und Sinnbildern zur Erkenntnis der ewigen Gottes - Wahrheit!
Die Bibel ist reich als Geschichts- und Religionsbuch, sie ist aber drittens auch reich als Kirchenbuch. Jeder Verein, jede Gemeinschaft, jeder Staat, jeder Bund muss notwendig etwas Allen Gemeinsames, etwas Bindendes haben, eine Urkunde, zu der sich Alle bekennen, der sich Alle unterwerfen, die den Glauben und das Bekenntnis Aller ausspricht. Eine solche Urkunde ist für die ganze christliche Kirche, von Anfang an bis zu dieser Stunde, in allen Jahrhunderten und Jahrtausenden die heilige Schrift gewesen. Darum klingt sie in allen Predigten und Handlungen der Kirche wieder; darum hat jeder Sonntag sein bestimmtes Evangelium und seine bestimmte Epistel, die seit vierzehnhundert Jahren in allen Ländern und unter allen Völkern der Christenheit, in welchem Weltteil sie auch wohnen mögen, an Altären und auf Kanzeln sonntäglich verlesen werden und die große Einheit der gesamten Christenheit in ihrem Glauben und Leben darstellen, so dass wir jeden Sonntag uns sagen müssen: dieselben Worte, die wir in dieser Stunde hören, vernehmen heute Millionen unserer Brüder und Schwestern in allen Teilen der Erde. Welche Gemeinschaft der Heiligen, welches Band der Liebe und Fürbitte! Bei jeder Taufhandlung redet die Bibel; denn jedes Mal werden die Worte gesprochen, welche Jesus sprach, als man die Kindlein zu Ihm brachte und Er ihnen die Hand auflegte und sie segnete. Bei jeder Abendmahlsfeier redet die Bibel in den Einsetzungsworten: „das ist mein Leib, das ist mein Blut“, bei deren wunderbaren, geheimnisvollen Klang uns zu Mute ist, als hörten wir die Stimme vom Himmel: „Heilig, heilig ist der Herr Zebaoth! Alle Lande sind seiner Ehre voll.“ Keine Kopulation kann vollzogen werden ohne das Gottes-Wort: „Was Gott zusammengefüget hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“ An kein Grab und an keinen Sarg können wir treten, wo es nicht hieße: „Von Erde bist du gekommen; zur Erde sollst du wieder werden. Jesus Christus, unser Erlöser, wird dich wieder auferwecken am jüngsten Tage.“ Wie viele Predigten sind in den verflossenen achtzehnhundert Jahren über die Bibel gehalten worden! Wie viele Auslegungen, Erklärungen, Anmerkungen und Anleitungen hat man zur Erleichterung ihres Verständnisses geschrieben! Aber wie viele Predigten auch jeden Sonntag über dieses Wort gehalten werden, wie viele Kommentare über dasselbe geschrieben worden sind: bis jetzt ist sein Inhalt noch nicht erschöpft worden; es ist reich und unerschöpflich ohne Gleichen. Das Größte, das Beste, was die Welt hat, ist nichts gegen die Bibel. Alle andern Bücher ersetzen sie nicht. Sie ist schlechterdings unentbehrlich zur öffentlichen wie zur Privat-Erbauung. Darum ist sie in der Kirche von Anfang an die Richterin, das höchste Gesetzbuch und oberste Tribunal in Glaubenssachen gewesen. Darum müssen sich alle Meinungen und Ansichten diesem Worte unterwerfen. Was mit der Bibel übereinstimmt, das ist wahr und göttlich; was ihr widerspricht, ist Lüge und Unwahrheit, nicht selten geradezu satanisch.
Aber die Hauptsache haben wir noch nicht berührt. Die Bibel ist reich, denn sie ist das Geschichtsbuch, das Religionsbuch, das Kirchenbuch der christlichen Kirche; sie ist aber auch aller Menschen Herzens- und Lebensbuch und soll es sein und bleiben bis an das Ende der Tage; das Lebensbuch für Alle, für alle Stände, für alle Alter, für alle Geschlechter, für alle Völker, für alle Jahrhunderte. Alle stehen in der Bibel und Alles steht in der Bibel, und wer sonst blutarm ist und nichts besitzt, hier in diesem Worte ist er mit zwei Testamenten von Gott, seinem Herrn, bedacht worden. Ja, es gibt kein Verhältnis, das nicht in der Bibel berücksichtigt wäre, denn sie predigt eben so sehr durch Vorbilder wie durch bloße Lehren. Die Könige und Fürsten haben in den Königen des alten Bundes, David, Josaphat, Hiskias, Josias einen Fürstenspiegel, aus dem sie lernen können, wie sie ihre Völker zu regieren und glücklich zu machen haben; aber auch die Bettler können von dem Bartimäus, von dem Blindgeborenen, von dem Lahmen, der an der schönen Thür des Tempels saß, erforschen, wie man Kreuz und Ungemach zu tragen hat. Die Krieger und Soldaten können von dem Hauptmann Naeman aus Syrien, und von den Hauptleuten zu Capernaum, unter Jesu Kreuze und Cornelius die Kunst lernen, das Schwert mit der Palme zu vereinigen; aber auch die Landleute und die Handwerker können an den apostolischen Fischern und Zöllnern, wie an den frommen Hirten, Christi Nachfolge studieren. Die Prediger haben das erweckende Beispiel der Propheten und Apostel, um ihre Gemeinden recht zu weiden auf der süßen Aue des Evangeliums und zu befestigen und weiter zu fördern. Die Greise haben an Simeon und Hanna, die Kinder, Jünglinge und Jungfrauen an Timotheus und Titus, die Witwen an der Witwe zu Zarpath und Nain und an der 84 jährigen Hanna leuchtende Muster echt christlicher Gesinnung und unsträflichen Wandels. Die Freien und die Sklaven wissen von Philemon und Onesimus, was ihre Pflicht ist, und die echte Freundschaft feiert in David und Jonathan, in Petrus und Johannes ihre schönsten Triumphe. Der Fröhliche lernt aus der Bibel in Demut bekennen: „Ich bin viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die der Herr an mir getan hat“, und der Dulder erfährt von Hiob, Jeremias und Paulus, vor allem aber durch den Anblick des Mannes der Liebe und der Schmerzen am Kreuz, wie er sein Kreuz geduldig tragen soll. Selbst Sterbende fesseln unsere Blicke in einem Moses, einem Stephanus, einem Paulus, der, weil Christus sein Leben war, auch Sterben seinen Gewinn nennen konnte, und der da Lust hatte, abzuscheiden, um bei Christo zu sein. O dass einmal unser Ende wie ihr Ende, und unser Tod wie der Tod dieser Gerechten sein möchte! - Aber freilich, die Bibel redet nicht nur zu Gerechten und Gottseligen, sondern auch zu Gottlosen und Sündern, und sagt's diesen frei ins Angesicht, dass die Lästerer das Reich Gottes nicht ererben können; sie sagt: „Der Herr bringt die Lügner um, Er hat Gräuel an den Blutgierigen und Falschen; Hurer und Ehebrecher wird Gott richten.“ Sie stellt an Ananias und Sapphira das Ende der Heuchler; an Achan das Ende der Diebe; an Isabel das Ende der Gefallsucht; an Absalom das Ende der ungeratenen Kinder dar. Weil die Bibel für Alle bestimmt ist und jeder in ihr findet, was er bedarf, so muss sie auch von Allen gelesen werden. „Forschet in der Schrift, denn ihr meinet, ihr habet das ewige Leben darinnen, und sie ist's, die von mir zeuget“, spricht der Herr. In der Apostelgeschichte werden die Christen zu Beröa gerühmt, dass sie täglich in der Schrift forschten, ob sich's also hielte (17,11). In den Briefen an die Kolosser (4,16) und an die Thessalonicher (1 Thess. 5,27) ermahnt Paulus die Gemeinden, seine Briefe lesen zu lassen allen Brüdern. Petrus spricht: „Wir haben ein festes, prophetisches Wort, und ihr tut wohl, dass ihr darauf achtet, als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“ Und in der Offenbarung St. Johannis im 3ten Verse des 1sten Kapitels heißt es: „Selig ist, der da lieset das Wort dieser Weissagung.“ So bestimmt verlangt der Herr, dass wir die Bibel lesen sollen. In welchem grauenvollen Widerspruch steht daher die katholische Kirche mit den eben angeführten Stellen, da sie ihren Gemeindegliedern das Bibellesen entweder ganz verbietet oder nur in seltenen Ausnahmen gestattet! Erregt das nicht den Verdacht, als tue sie es aus Besorgnis, dass die Gemeindeglieder, wenn sie die Bibel lesen, den Widerspruch zwischen ihren Kirchenglauben und dem Bibelglauben bald herausfinden und aus ihrer Gemeinschaft austreten würden? Und wie arm und verwaiset müssen sich unsere katholischen Mitbrüder fühlen, dass ihnen der Schatz aller Schätze gewaltsam vorenthalten wird! Weil die Bibel ein Herz- und Lebensbuch ist für alle Zeiten und für alle Menschen, darum ist sie auch immer so frisch und ewig neu und jung. Man kann sie hundertmal gelesen haben, und liest man sie zum hundertersten Mal, so findet man immer wieder Neues heraus, neue Kraft-Stellen, reich an Lehre, Trost und Ermunterung. Wahrlich, wenn es in der Bibel von Gottes Wegen heißt: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gedanken und unerforschlich seine Wege!“ und wenn im neuen Testament die Christen als solche geschildert werden, die da arm sind, aber Viele reich machen: es gilt das Eine wie das Andere auch von der Bibel.
2.
Das führt uns zu dem zweiten Teil unserer Betrachtung. Die Bibel ist nicht nur reich, sie macht auch reich. Wer ist reich? Zunächst der, der nichts bedarf, der Alles hat, was er braucht, wie dagegen derjenige arm ist, der das nicht hat, was er braucht, und seine Bedürfnisse nicht stillen kann. Nun sehet, die Bibel macht uns reich, weil sie alle unsere Bedürfnisse stillt. Jeder Mensch hat einen Forschungstrieb nach Wahrheit; die Bibel befriedigt diesen Trieb, indem sie uns die von Gott geoffenbarten Wahrheiten über Gott und Menschen, über Gottes Weltregierung und menschliche Willensfreiheit, über Sünde und Gnade, über Erlösung und Rechtfertigung, über Seligkeit und Verdammnis mitteilt, so dass wir weiter keine Fragen auf dem Herzen behalten, sondern an dem Geoffenbarten volles Genüge haben. Jeder hat ferner das Bedürfnis nach Ruhe und Frieden, besonders in Zeiten, wo das Herz durch Sorgen und Leiden gedrückt, oder durch Gewissensschläge gepeinigt, oder durch die Furcht vor dem Tode aller Freudigkeit beraubt ist: die Bibel befriedigt dies Bedürfnis durch ihre großen Verheißungen und milden Tröstungen, indem sie uns lehrt, dass die Trübsal von Gott kommt, dass er nicht mehr auflegt, als wir tragen können, und uns nicht versucht über Vermögen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge müssen zum Besten dienen, dass die Trübsale dieser Zeit nicht wert sind der Herrlichkeit, die an uns soll geoffenbaret werden. Und wenn die Sünde auch noch so sehr nagt und foltert, das Bibelwort: „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünde nicht. Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden;“ bringt sie zum Schweigen, dass nichts Verdammliches mehr ist an denen, die in Christo Jesu sind. Und wenn uns auch noch so sehr vor dem Tode bangt, das Bibelwort: „Christus hat dem Tode die Macht genommen und Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht. Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unseren Herrn Jesum Christum,“ bannt jede Todesfurcht und verwandelt sie in selige Sterbensfreudigkeit. - Jeder hat ein Bedürfnis nach Kraft und Ermunterung in den mancherlei Kämpfen und zur Lösung der verschiedenen Aufgaben des Lebens: die Bibel gibt dem Kämpfer für Gottes Ehre und Reich diesen Mut und diese Ausdauer, mit den Waffen der Gerechtigkeit einzutreten in den heiligen Krieg Jesu Christi und denselben fortzuführen, bis dass alle Feinde zum Schemel seiner Füße liegen werden und unser Haupt, Jesus Christus, der alleinige Herr ist zur Ehre Gottes des Vaters. So macht die Bibel reich, reich schon in äußerer Beziehung, indem sie frei macht von der Anhänglichkeit an die irdischen Güter, genügsam und zufrieden, dass der Mensch nicht um Armut oder Reichtum bittet, sondern um sein bescheidenes Teil Speise, und mit Assaph spricht: „Herr, wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde; und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist Du doch allezeit meines Herzens Trost und mein Teil“; und mit Paulus: „Ich habe gelernt, bei welchem ich bin, mir genügen zu lassen. Ich kann hoch sein und ich kann niedrig sein, ich kann übrig haben und kann Mangel haben, ich vermag Alles durch den, welcher mich mächtig macht, welcher ist Christus.“ Es ist bei diesem Schriftreichtum kein Wunder, dass vor dreihundert Jahren, nachdem Luther die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt hatte, die Nachfrage nach derselben so stark war, dass täglich zehntausend Bogen gedruckt werden mussten, um das Bedürfnis nach diesem Worte zu stillen, und dass schon in 30 Jahren die Bibel in 58 verschiedenen Ausgaben in Deutschland verbreitet worden war.
Die Bibel macht reich. Wer ist reich? Nicht nur derjenige, der da hat, was er braucht, sondern mehr noch derjenige, der mehr hat, als er braucht, der noch etwas übrig hat zu seiner Bequemlichkeit, und auf Luxus und Annehmlichkeiten des Lebens noch etwas verwenden kann. Auch in dem Sinne macht die Bibel reich: sie gibt uns mehr, als wir bedürfen, über Bitten und Verstehen. Ist eine Bibliothek nicht etwas Köstliches und Kostspieliges? Die Bibel verschafft uns solche Bibliothek, denn wo sie hinkommt, entstehen alsbald Gesang- und Gebetbücher in unglaublicher Menge. Die schönsten Lieder unserer Gesangbücher sind über Bibelstellen, über ganze Kapitel wie über einzelne Verse der heiligen Schrift gedichtet worden, wie das Lied: „Wohl dem Menschen, der nicht wandelt in gottloser Leute Rat!“ über den 1. Psalm; das Lied: „Es woll' uns Gott gnädig sein und seinen Segen geben,“ über den 67. Psalm; das Lied: „Wie lieblich ist doch, Herr, die Stätte, wo Deines Namens Ehre wohnt!“ über den 84. Psalm; das Lied: „Nun lob', mein Seel', den Herren mein,“ über den 103. Psalm; das Lied: „Lobe den Herrn, o meine Seele, ich will Ihn lieben bis in Tod,“ über den 146. Psalm; das Tedeum unserer Kirche: „Nun danket alle Gott,“ über Sirach 50,24-26 verfasst worden ist; und andere Lieder in den Anfangsworten der einzelnen Verse einzelne Bibelsprüche besingen, z. B. die Lieder: „Befiehl du deine Wege,“ „Denen, die Gott lieben“ und besonders das Lied: „Schaffet, schaffet, Menschenkinder.“ Und alle unsere Erbauungsbücher, stehen sie nicht mit der Bibel im engsten Zusammenhang, wie mannichfaltige Sterne zu der einen Sonne? sind sie nicht aus ihr entquollen? wollen sie nicht als Hebel und Hilfen in dieselbe tiefer hineinführen? - Ist der Besitz einer Hausapotheke, namentlich auf dem Lande, nicht etwas gar Wünschenswertes und Hilfreiches in Tagen der Krankheit? Die Bibel ist eine solche Apotheke, die da heilt die Schäden unserer Seele, welche kein Kraut noch Pflaster heilen kann. Ist ein Zeughaus für einen König, für ein Land nicht etwas gar Wichtiges und Unentbehrliches, zu Schutz und Trutz? Die Bibel ist solch ein Zeughaus, solch eine Rüstkammer, aus der wir unsere Waffen holen, zur Verteidigung wie zum Angriff, zur Rechten wie zur Linken; die siegreichen Waffen, mit denen auch Jesus den Teufel geschlagen hat, da Er sprach: „Es stehet geschrieben.“ War es nicht köstlich, wenn Daniel auf seinem Hause einen Söller, ein stilles Gemach hatte, wo er allein sein konnte mit seinem Herrn im Gebet und Beratung? Die Bibel ist auch solch stilles Bethanien, mitten im geräuschvollen Jerusalem des Hauses und Berufs; so oft wir uns dahin begeben, kehrt Jesus bei uns ein, wir finden Ihn da auf allen Blättern und Seiten; wir brauchen uns nur zu seinen Füßen niederzusetzen, um die holdseligen Worte aus seinem Munde zu hören, und alsbald nimmt Er uns an sein Herz und es wird Licht vor unserem Geist, friedlich und stille in unserem Gemüte, wir empfinden Vorgenüsse der Ewigkeit und fühlen, was es heißt: „Schmecket und seht, wie freundlich der Herr ist.“ Wahrlich, wenn die Bibel so reich macht, dass sie noch mehr gibt, als wir bedürfen, so ist es wiederum kein Wunder, dass in den ersten Jahrhunderten, als die Heiden die Christen verfolgten, ihnen die Bibeln wegnahmen und verlangten, sie sollten dieselben verbrennen, damit das Christentum ausgerottet würde, die Christen lieber heldenmütig in den Tod gingen, als dass sie die Bibel auslieferten. Marinus, ein Soldat, hatte sich zum Christentum bekehrt. Sein Hauptmann befahl, er solle demselben entsagen und von der Bibel lassen, widrigenfalls er mit dem Schwert hingerichtet werden würde. Marinus verlangte drei Stunden Bedenkzeit. Da eilte er zu seinem Bischof Theostenes, um sich bei ihm zu stärken. Der nahm ihn bei der Hand und führte ihn in das christliche Versammlungshaus, nahm in die eine Hand das Schwert, das an Marinus Seite hing, und in die andere ein neues Testament, und hieß ihn wählen. Der tapfere Soldat streckte seine Hand aus und griff nach der heiligen Schrift. „So sei standhaft,“ rief Theostenes, „halte fest an dem, den du erwählet hast. Er wird dich stärken und du wirst im Frieden heimfahren.“ Drei Stunden nachher fiel sein Haupt unter dem Schwert. In einer einzigen Provinz wurden 150.000 Christen grausam hingemordet, manchmal 100 an einem Tage und 17.000 in einem Monat. Dennoch wollten die Christen ihre teuren heiligen Schriften nicht herausgeben. „Warum willst du sie nicht ausliefern?“ fragte man den Euplius, einen sizilianischen Märtyrer. „Weil ich ein Christ bin,“ antwortete er, „das ewige Leben ist darin, und wer sie dahingibt, der verliert das ewige Leben.“ - Auf gleiche Weise haben sich unsere protestantischen Väter bewährt in den Zeiten der Verfolgungen und den kostbaren Schatz zu retten und sich zu erhalten gewusst, ihrem Herrn treu zu bleiben bis in den Tod. -
Rührend ist auch die Geschichte, die sich einmal in der Lausitz zugetragen hat. In der Zeit des siebenjährigen Krieges waren in ein Dorf die Feinde eingedrungen, hatten die Häuser geplündert, und nachdem sie das, was sie gebrauchen konnten, mitgenommen, hatten sie den ganzen Ort niedergebrannt. Da stand der alte Pfarrer des Orts, sein Weib war längst entschlafen, mit seinem zwölfjährigen Sohn vor seinem brennenden Haus und warf mit ernstem Auge und gefalteten Händen einen Blick nach dem Grabe seiner Habe: der Knabe, erst schluchzend neben ihm, war plötzlich verschwunden. Dieser Umstand bringt den Vater aus seiner festen Stellung und Stimmung, er läuft hin und her, drängt sich durch die Massen, fordert Freunde auf, sein Kind zu suchen, beschwört die Umstehenden, lieber Hab und Gut in Asche sinken zu lassen, nur dass sein Sohn lebe; siehe, da springt plötzlich der Knabe wie von Engeln getragen, ein Paket gefasst mit beiden Händen, aus dem brennenden Haus, das wie dumpfer Donnerschlag prasselnd hinter ihm zusammenstürzt. Mit versengten Kleidern und Haaren kommt er atemlos zum jammernden Vater, dem die Freude die Stimme erstickt, der nur zu Umarmungen, nicht zu Vorwürfen Zeit hat. Die Menge umdrängt die rührende Gruppe und fragt und forscht, bis der Knabe endlich die Worte stammelt: „Aber, Väterchen, sei nur nicht böse, dass ich dir solche Unruhe gemacht; als ich mit dir vor unserem brennenden Haus stand, da fuhr mir's wie ein Blitz durch die Seele; Eins, dachte ich, musst du retten; mag's kosten, was es will. Das schöne Geburtstagsgeschenk war ja auf dem Tische liegen geblieben, weißt du, Vater, das Buch, aus dem ich dir gestern Abend noch den aufgegebenen Spruch hersagte: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Denn so du durch's Wasser gehest, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen, und so du durch's Feuer gehest, sollst du nicht brennen und die Flamme soll dich nicht anzünden.“ Sieh, Vater, daran dacht ich, und darum wagt ich's. Hier ist das Buch!“ und damit wickelte er aus einem Tuch seine Bibel! Nun, Geliebte, denkt euch noch den alten Vater mit einem: „Gelobt sei Gott!“ und bei der umstehenden Menge kein Auge tränenleer, so habt ihr die Vollendung dieser ergreifenden Szene; damit aber auch die Anfrage an euch: würdet auch ihr um eure Bibel so Großes wagen?
Ja, die Bibel macht reich, müssen wir noch einmal sagen. Wer ist reich? Es ist der, der das hat, was er braucht, der mehr hat, als er bedarf, aber auch der, der von seinem Mehr abgibt an Diejenigen, die nichts haben, an die Armen und Bedürftigen, und die Seligkeit des Spruches erfährt durch eigene Erfahrung: „Geben ist seliger als Nehmen.“ Wer reich geworden ist in seiner Bibel, den treibt's zur Wohltätigkeit, und es wird ihm Bedürfnis und Freude, Tränen zu trocknen, Wunden zu heilen, Seufzer zu stillen, der Not ein Ende zu machen und vor allen Dingen sich der Seelen zu erbarmen, ihnen das Wort des Lebens zu geben, damit sie die Gotteskraft desselben erfahren und dadurch reich werden in Gott, reich mitten in ihrer Armut. Wo die Bibel gelesen wird, da entstehen gleich Bibelgesellschaften, Bibelvereine, Bibel-Verbreitungs-Anstalten, die das Wort von Ort zu Ort, von Haus zu Haus tragen und Jedermann zugänglich machen. Als Petrus Waldus im Mittelalter einmal in eine furchtbare Gewissensangst geraten war, und keinen Trost und keinen Frieden finden konnte, weil seinen Freund plötzlich der Schlag gerührt hatte, und er sich nun die Frage vorlegte: wenn dich nun der Schlag gerührt hätte und du an seiner Stelle vor Gottes Richterstuhl hättest treten müssen, würdest du dann auch selig geworden sein? und er nun nach Trost verlangte und keinen Trost und keine Ruhe finden konnte in den äußeren Übungen der Kirche, im Fasten, im Wallfahrten, im Almosengeben, da bekam er eine Bibel in die Hand und nun gingen ihm die Augen auf. Er lernte aus der Bibel einen andern Glauben kennen, als ihn die römische Kirche lehrte, und nun kam Friede in sein Herz, und es trieb ihn sofort, das teure Bibelwort weiter zu verbreiten, und da es noch keine Buchdruckerkunst gab, so ließ er dasselbe abschreiben und in wenigen Jahren kam eine solche Erweckung zu Stande, dass Hunderte und Tausende in seine Fußtapfen traten. Als Luther die erste Bibel gefunden und ihren inneren Wert an seinem eigenen Herzen erfahren hatte, da hatte er kein größeres Verlangen als, sobald als möglich das teure Wort in die deutsche Sprache zu übersetzen, um es so dem Volk zugänglich zu machen. Als im Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts Gott seinen Geist wehen ließ über die Erde nach großer Trübsal, da war es im Jahre 1802 ein englischer Prediger Charles in der Provinz Wales, der eines Tages ein Kind, das zu seiner Gemeinde gehörte, fragte, über welchen Text er am vorigen Sonntag gepredigt habe? Das Kind, welches nie in der Predigt und Bibelstunde gefehlt und immer sehr aufmerksam zugehört hatte, antwortete: „Ach, das Wetter war so schlimm, dass ich keine Bibel kriegen konnte, um den Text nochmals zu lesen und zu lernen.“ Darauf erzählte das Mädchen, dass weder seine Eltern, noch seine Verwandten und näheren Freunde in der Stadt eine Bibel besäßen, und dass sie deshalb bisher gewohnt gewesen, jede Woche zwei starke Stunden weit über die Berge zu wandern zu Verwandten, die im Besitz einer walisischen Bibel seien, und da lese sie allemal das Kapitel, aus dem der Text entnommen war, und lerne den letzteren auswendig. Da brach dem wackeren Geistlichen das Herz. Er dachte darüber nach, wie dieser großen geistlichen Not des Volkes abzuhelfen sei, und kam auf den Gedanken, eine Bibelgesellschaft zu gründen. Er legte sofort Hand an's Werk, berief eine Versammlung in London und beantragte darin die Gründung einer Bibelgesellschaft für die Provinz Wales. Aber da erhob sich der edle Prediger Hughes und rief: „Wenn für Wales, warum nicht auch für das ganze Land und für die ganze Welt?“ Das war der Augenblick (am 7. Dezember 1802), da das Senfkorn in die Erde fiel, aus dem die große, herrliche Bibelgesellschaft erwuchs, welche bis zum Ende des vorigen Jahres mehr als 39 Millionen Bibeln in allen Sprachen der Welt über die Erde verteilt hat. Jetzt sind Bibelfrauen in England tätig, das Wort Gottes in die ärmsten Hütten, die verrufensten und verwildertsten Gegenden Londons, wo die Kinder ohne allen Unterricht und ohne alle Erziehung aufwachsen und zu den gräßlichsten Lastern angehalten werden, zu bringen und anzupreisen. Es sind dies beherzte Frauen, die an ihrem eigenen Herzen die Kraft des Gotteswortes erfahren haben, aus dem untern, oft auf dem niedrigsten Stande, die daher am besten das Elend und die Versunkenheit dieser Klassen kennen und wissen, was ihnen Not ist. Diese begeben sich in die finstersten Distrikte, bieten die Bibel in den Häusern und auf den Höfen zum Verkauf aus, oder laden zur Subskription auf Bibeln in Pfennigen ein, die sie regelmäßig jede Woche selbst einholen. Durch solche wiederholte Besuche finden sie Gelegenheit, ein gutes Wort zur Ermunterung, zur Lehre, zum Trost zu sprechen, sie zugleich zur Reinlichkeit und Sparsamkeit anzuhalten, ihnen zu zeigen, wenn es Not tut, wie eine nahrhafte Suppe zu kochen sei, und dass sie wohlfeiler und gesunder sei, als der ewige Tee und Branntwein dieser Klassen. Sie beweisen ihnen, was eine fleißige Hand selbst noch aus lumpigen, schmutzigen Kleidern machen kann, sie helfen ihnen zu warmen Kleidungsstücken und Betten durch eigene Ersparnis, kurz sie streben mit christlich-freundlichem Geiste die geistige wie leibliche Not ihrer Stadt zu lindern, und Gottes Segen ruht auf ihrem Tun.
Bewirkt die Bibel solchen Segen, ist dann der nicht arm, der keine Bibel hat? Ja, er ist so arm, wie der, welcher die großen Wunder der Natur niemals gesehen, oder wenn er sie gesehen hat, nichts dabei fühlt und empfindet. Ist er nicht unglücklich und im höchsten Grade zu bedauern? Ist er nicht ein Thor und ein Narr, dass er, anstatt reich zu werden, es lieber vorzieht, bettelarm zu bleiben sein Leben lang? Man sollte meinen, in der Christenheit könnte Niemand diesen Schatz aller Schätze entbehren. Und doch gibt es Millionen solcher Unglücklichen und Verwahrlosten, sowohl unter den Gebildeten und höchsten Ständen, als in den unteren Klassen des Volkes. Menschen, die nichts weiter von der Bibel wissen, als was sie in ihrer Kindheit und Jugend in der Schule und in der Vorbereitung zur Konfirmation gelernt haben; die nicht ein einziges Mal in ihrem späteren Leben nach der Bibel gefragt haben; die über Gott und göttliche Dinge gar nicht zu reden im Stande sind, und wenn sie einmal darüber reden, wie der Blinde von der Farbe reden; Menschen, die so von der Bibel entfremdet sind, dass ihnen ist, als wenn sie eine fremde Sprache darin lesen, die sie nicht gelernt haben und nicht verstehen. O dass doch recht Viele unter uns reich würden an der Bibel und durch die Bibel und sie nicht aus ihren Augen und aus ihrem Herzen käme Tag und Nacht! Wenn jemand reich wird, so geschieht dieses durch Erbschaft, durch die Liebe Anderer; aber meistenteils muss er arbeiten und beten. Es geht mit der Bibel nicht anders. Sie ist einerseits Gottes Gnadengeschenk und wir hätten sie nicht, wenn Er sie uns nicht gegeben hätte; aber andererseits müssen auch wir forschen und ringen, arbeiten und beten im Schweiß des Angesichts, um sie uns anzueignen. Sind wir aber einmal reich geworden an diesem Schatz, dann haben wir Schätze für die Ewigkeit, nach denen die Diebe nicht graben und welche die Motten und der Rost nicht fressen; Schätze, welche nicht wie die irdischen mit Sorgen verknüpft sind, sondern uns fähig machen, alle unsere Sorgen auf den Herrn zu werfen; Schätze, welche nicht zu neuen Versuchungen uns verführen, denn die reich werden wollen, sagt St. Paulus, fallen in Versuchung und Stricke und viele törichte und schädliche Lüste, welche verführen den Menschen in's Verderben und Verdammnis, sondern welche ihn bewahren und schützen vor Versuchungen. O dass wir lernten mit Luther sprechen: „O du mein liebes Buch!“ „Die Bibel ist ein Kraut, je mehr man es reibt, desto herrlicher duftet es. Die Bibel ist ein sehr großer weiter Wald, darin viele und allerlei Art Bäume stehen, wovon man mancherlei Obst und Früchte abbrechen kann. Es ist kein Baum in diesem Reiche, daran ich nicht geklopft und ein Paar Äpfel und Birnen abgeschüttelt hätte;“ und mit der Kirche beten: Herr, lass unsere Seele in Deinem Worte leben, dass sie Dich lobe immer und ewiglich!