Arndt, Friedrich - Das Vaterunser - Rückblick.
Wie ein Wanderer, wenn er am Ziel seiner Reise sich befindet und die Zinnen und Thürme der letzten Stadt vor sich sieht, noch einmal zurückblickt, die ganze Reise überschaut, bald hier, bald da mit seiner Erinnerung verweilt, an alles Erlebte und Erfahrne Betrachtungen ernster Art anknüpft; wie ein Greis an der Grenze seines Lebens gern redet zu seinen Kindern und Enkeln von den vorigen Tagen, von seinen Freuden und Leiden, von seinen Leistungen und Schicksalen, von seiner Sünde und von Gottes Gnade, und dem Herrn Lob darbringt für alle Führungen seiner Barmherzigkeit, deren Zusammenhang, Nothwendigkeit und Zweck er jetzt vollkommen und tiefgerührt einsieht: so geht es auch uns am Schluß unserer Betrachtungen über das Vater Unser. Wir kommen uns wie Reisende vor, die einen langen Marsch durchgemacht haben, und zu erzählen wissen von Vielem und Großem; wir erscheinen uns wie Greise, die am Ziele stehend, so gern von der Vergangenheit reden, welche nun nicht mehr dunkel, sondern licht geworden ist. Darum können wir es nicht unterlassen, nachdem wir jeden einzelnen Theil des herrlichsten aller Gebete ausführlich erläutert haben, zum Schluß alle Theile als ein Ganzes in's Auge zufassen, und das Vater Unser als da s Normal- und Mustergebet aller Christen zu betrachten, wie es das nämlich ist: 1) sowohl durch die eigenthümliche Gestalt, in der es erscheint, als 2) durch die besonderen Beziehungen, die es zuläßt, und 3) durch die unerläßliche Anwendung, die es fordert.
1.
Das Vater Unser ist das Gebet aller Gebete, das Muster- und Normalgebet der Kirche, zunächst durch seine innere Beschaffenheit und die eigenthümliche Gestalt, in der es uns gegeben ist. Wir mögen diese Gestalt nun von Seiten ihres Inhalts oder ihrer Gesinnung oder ihrer Form anschauen: überall ein Mustergebet!
Wie fängt es an? Bei dem Höchsten und Erhabensten im Himmel und auf Erden, bei dem Hohen und Erhabenen, der im Himmel wohnt und im Heiligthum; aber doch auch bei denen, die demüthigen und zerschlagenen Herzens sind: Unser Vater in dem Himmel. Wie? Liegt in dieser Benennung nicht unser engstes Verhältniß zu dem Wesen aller Wesen ausgesprochen? Ist Gott unser Vater; was können wir dann alles vertrauensvoll von Ihm erwarten? Wohnt Er im Himmel: wie herrlich, wie himmlisch müssen Seine Gaben sein? Und ist Er unser Vater, mit welchem Recht dürfen wir uns dann alles aneignen, was sein ist? Kann aber ein Gebet köstlicher beginnen, kann das Kind des Staubes den großen Gott im Himmel lieblicher anreden, als: Unser Vater in dem Himmel? - Auf die Anrede folgen sieben Bitten; zunächst drei in absteigender Linie bis zu dem untersten, dem täglichen Brod; dann wendet sich der Lauf, und durch die Vergebung, durch den Sieg über die Versuchung, durch die Erlösung vom Uebel, um die wir bitten, gelangen wir in aufsteigender Linie wieder zu dem zurück, deß das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit ist. Dort sehen wir, wie sich Gott in seiner Gnade herabläßt zu uns; hier, wie der Mensch wieder im Glauben emporgehoben wird zu Gott. Die drei ersten zeigen, wie Gott uns zuerst liebt; die vier letzten, wie wir Ihn wieder lieben sollen. In jenen erbietet sich uns die ewige Gottheit in väterlicher Liebe, in diesen bringen wir Ihm dankbar alles, was wir sind und haben, zum Opfer. Oder mit andern Worten: Die drei ersten enthalten die Bedingungen, durch deren Erfüllung; die drei letzten sprechen die Bedürfnisse aus, durch deren Befriedigung wir die Seligkeit genießen. Die erste Bedingung ist: Dein Name werde geheiligt; denn ohne Erkenntniß, Anerkenntniß und Bekenntniß Gottes als unseres Vaters ist keine Seligkeit denkbar. „Wendet euch zu mir, so werdet ihr selig, aller Welt Ende,“ spricht der Herr, „denn ich bin Gott und keiner mehr.“ „Das ist das ewige Leben,“ betet Jesus, „daß sie Dich, der Du allein wahrer Gott bist, und den Du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“ Die zweite Bedingung ist: Dein Reich komme. Denn haben wir erst Gott als Vater erkannt, anerkannt und bekannt, so treten wir damit auch zugleich ein in sein Reich, als seine Bürger und Genossen, in die Gemeinschaft der Gleichgesinnten und fördern fortan das Reich des Herrn bei uns und bei Andern auf alle Weise. Die dritte Bedingung endlich lautet: Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel; sie folgt wieder unmittelbar aus den beiden ersten; denn wird Gott von uns auf die rechte Weise anerkannt und herrscht Er über uns in seinem Reiche, so muß auch die ganze Erde Seinem Willen unterworfen und verklärt werden, Sein Wille muß von uns und an uns vollbracht werden mit aller Lust und Willigkeit. Offenbar enthalten diese drei Bedingungen den Anfang, Fortgang und Ausgang, die Grundlage, die Wirkung und das Ziel unseres innern geistlichen Lebens; und da wir wohl fühlen, daß wir durch eigne Kraft diese großen Bedingungen nicht leisten können, so stehen wir eben Gott an, daß Er selbst sie in uns erfüllen und Wollen und Vollbringen des Guten nach Seinem Wohlgefallen in uns schaffen wolle. Ja, noch mehr, alle drei Bitten reden von Gott und dem Seinigen und enthalten im Wesentlichen eins und dasselbe, die Verbindung unserer Seele mit Gott: in jeder folgenden liegt die vorhergehende und jede von den dreien, daß man sie wohl möchte dreieinig heißen, und eine feine Beziehung auf die göttliche Dreieinigkeit darin erkennt, wie nämlich Gott der Vater uns zuerst sein verborgenes Wesen offenbart, dann sein Reich stiftet in seinem Sohne, und endlich seine gefallenen Geschöpfe mit sich selbst vollkommen wieder vereinigt in dem heiligen Geiste. Wie sie in ihrer wunderbaren Dreieinigkeit ein Spiegel des dreieinigen Gottes sind, so sind sie die nothwendigen Bedingungen, die erst in uns erfüllt sein müssen, wenn wir die im göttlichen Worte uns gegebenen unendlichen Verheißungen in Anspruch nehmen wollen. Sind sie gewahrt, so dürfen wir an der Gewährung der vier Hauptbedürfnisse der menschlichen Natur nicht zweifeln. Nachdem wir Gottes Ehre an und in uns ersteht, können wir unsere persönlichen Anliegen vertrauensvoll aussprechen und für uns selbst Gott um Gnadengüter bitten. Wir beginnen mit der Bitte um das zum irdischen Leben Nothdürftigste und Unentbehrlichste, und da ist das Erste, was wir für die Gegenwart zum Leben bedürfen, das tägliche Brod: Unser täglich Brod gieb uns heute. Dann blicken wir in die Vergangenheit; was sollen wir da erbitten? Irdische Güter hat uns Gott so viel gegeben, als wir brauchten und meist mehr, als wir brauchen; da können wir nur danken für alles Gute, was Er in der Beziehung an uns gethan hat; aber Eins drückt uns schwer, unsere Sünden: o, wie viel haben wir deren begangen, wie viel Lasten und Schulden liegen auf unsern Schultern! Wie natürlich das Gebet: Ver. gieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern! Blicken wir endlich auf die Zukunft und denken daran, daß wir nicht nur sollen begnadigt, sondern auch geheiligt werden und die Prüfungen zur Förderung in der Heiligung bestehen: wie natürlich beim Gefühl der Größe der Gefahr und unserer großen Schwäche das Gebet: Führe uns nicht in Versuchung! Viel haben wir schon erfahren im Christenlauf, viel Kampf, viel böse Begierden und Neigungen, viel Noth, Sorge und Unruhe, viel Jammer und Elend um uns her, und wie viel mag uns noch bevorstehen, zuletzt vor allem gewiß der Tod, das letzte, bitterste Uebel, mit welchem wir versucht werden können; wie natürlich das letzte Gebet: Erlöse uns von dem Uebel! Dann sind wir aber auch am Ende; wir haben Alles erfleht, was wir zum Leben und Sterben bedürfen; es giebt keine Bitte mehr, und wäre sie noch so bestimmt und einzeln, die wir nicht mit unter eine der vorgetragenen setzen könnten; wir haben ausgefleht, und das im Glauben selige Herz darf sich ergießen in den Lobgesang der Gewißheit und Zuversicht: Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Welch ein Gebet! Giebt es eins, das so vollständig alle unsere leibliche und geistliche Noth umfaßte, das so genügend für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sorgte, das so sehr Gottes Ehre wie unser eignes Wohl berücksichtigte? Wahrlich, es giebt keinen christlichen Wunsch, der nicht in eine der sieben Bitten hineingelegt werden könnte, und wenn wir von Gott etwas erflehen wollten, was wir nicht in eine dieser Bitten legen könnten, was vielmehr denselben widerspräche, wie z. B. die Bitte: mache mich so wohlhabend wie meinen Nachbar, laß mir nur diesmal meinen Willen, gieb mir Vorrath auf einige Monate, gieb, daß die Leute mich anerkennen und rühmen, so wäre das eine Gott mißfällige, unerhörliche Bitte, von der das Wort gilt: „Ihr bittet und krieget nicht, darum, daß ihr übel bittet, nämlich dahin, daß ihr es mit euern Wollüsten verzehret.“ (Jac. 4, 3.) Doch nicht nur der Inhalt macht das Vater Unser zum Mustergebet der Kirche, sondern auch die Gesinnung, die sich darin ausspricht. Sind doch die Gesinnungen der Demuth und des Glaubens die Haupt- und Grundgesinnungen, die in demselben laut werden. Oder ist es nicht Demuth, wenn man nur um das nothdürftigste Brod bittet? nicht Demuth, wenn man im Bewußtsein seiner Schuld um Vergebung, im Bewußtsein seiner Schwäche um Bewahrung vor Versuchung, im Bewußtsein seines Elendes um Erlösung vom Uebel fleht?
Und ist es nicht Glaube, wenn man das Alles von Gott erbittet in der Zuversicht, daß Er uns erhören wolle, weil sein das Reich ist, uns erhören könne, weil Er die Kraft hat, uns erhören werde, weil sein die Herrlichkeit ist in alle Ewigkeit? Wo Demuth und Glaube sich so herrlich paaren zu einer Grundgesinnung und der Beter beim Blick auf sich selbst nur Demuth, beim Blick auf den Herrn nur Glauben fühlt: muß solch Gebet nicht Gott wohlgefällig sein und für uns als Muster und Vorbild aller Gebete dastehen?
Und nun endlich noch die Form des Vater Unsers. Wie ist es so kurz, nur wenige Worte, das kürzeste Gedächtniß kann es behalten, auch die kleinsten Kinder können schon es lernen: und dennoch so reich an Inhalt, dennoch so umfassend für unsere Bedürfnisse und Anliegen! Das macht, weil es nicht blos Menschenworte, sondern Gottesworte sind, und die wiegen schwer. Da bewährt der Herr selbst seine Vorschrift: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern, wie die Heiden, denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen“ (Matth. 6, 7.), und was Salomo schon sagte: „Gott ist im Himmel und du auf Erden, darum laß deiner Worte wenige sein.“ (Pred. 5, l.) - Wie ist es ferner so einfach und verständlich für jedermann, auch der Ungebildeteste und Ungelehrteste kann es fassen und durchschauen, und dennoch wie tief! Noch nie hat es ein Mensch ausgeschöpft, noch nie hat es ein Denker ausgeforscht, noch nie ein Prediger es ausgepredigt und auserklärt, noch nie ein Beter es ausgebetet; es enthält das ganze Evangelium mit allen Glaubenslehren und sittlichen Wahrheiten in gedrängter Form, und dehnt mit seinen Verheißungen und Hoffnungen ins Unermeßliche sich aus. Sein Sinn ist reicher als kein Meer, und sein Wort tiefer denn kein Abgrund. Sirach 24, 39.) - Dabei steht jede Bitte an ihrer Stelle, die erste Bitte muß die erste und die letzte Bitte muß die letzte sein. Auch in der Anordnung und Aufeinanderfolge der Bitten erkennen wir gleich den tiefen Menschenkenner und den großen Meister des Gebets. - Endlich: es betet jeder Einzelne im Vater Unser für sich selbst, für seinen Geist, sein Herz, sein Leben, und doch kann er für sich nicht beten, ohne zugleich aller seiner Brüder und Schwestern auf dem weiten Erdenrund zu gedenken und alle zugleich mit ihrer Bedürftigkeit an das weite Herz des Allerbarmers zu legen, das Mein verwandelt sich in Unser: „Unser Vater in dem Himmel, unser täglich Brod gieb uns heute, vergieb uns unsere Schuld, führe uns nicht in Versuchung, erlöse uns von dem Uebel.“ Wunderbares Gebet! Wie kurz und reich, wie einfach und tief, wie selbstlos und weitherzig! An Inhalt, Gesinnung und Form das Normal- und Mustergebet der Kirche für alle Menschen, alle Zeiten, alle Lagen des Lebens, das wahre Reichsgebet der Kinder Gottes! Wie die Bibel das Buch aller Bücher, die Kirche das Haus aller Häuser ist, so ist das Vater Unser das Gebet aller Gebete.
2.
Doch damit öffnen wir uns schon die Thür zu unserer zweiten Betrachtung. Das Vater Unser ist Mustergebet auch durch die besondern Beziehungen, welche es zuläßt! Die Zahl sieben nämlich ist in der heiligen Schrift jederzeit eine heilige Zahl: in sechs Tagen schuf Gott die Welt, und am siebenten ruhete Er; sieben und sieben reine Thiere nahm Noah in die Arche; sieben Farben erhielt das Zeichen der göttlichen Erbarmung nach der Sündfluth, der Regenbogen am Himmel; sieben Arme hatte der Leuchter im Heiligen des Tempels; sieben Tage währten alle Festzeiten in Israel; siebenmal wurden die Posaunen geblasen bei Jerichos Eroberung; sieben Säulen hatte das Haus, das die Weisheit baute (Spr. 9, 1.); sieben Worte sprach der Sohn Gottes sterbend am Kreuze; sieben Geister erschienen dem heiligen Seher Johannes um den Stuhl deß, der da war, der da ist und der da kommt (Offenbar. 1, 4. 10.); unter sieben goldnen Leuchtern wandelte Jesus (Offenbar. 1,12.13.); und jenes geheimnißvolle Buch der göttlichen Vorsehung und Weltregierung, welches niemand erbrechen konnte als Christus, war verschlossen mit sieben Siegeln (5, l.); ja, David ruft aus Psalm 119,164: „Ich lobe Dich des Tages siebenmal um der Rechte willen Deiner Gerechtigkeit.“ Merkwürdiger Weise hat der Herr auch das Vater Unser in sieben Bitten gekleidet, und wenn bei den Lehrern der christlichen Vorzeit das Gebet mit einer goldenen Kette verglichen wird, die vom Himmel zur Erde herabreicht, um die Menschen von irdischen Dingen zu himmlischen zu erheben: so bilden die sieben Bitten in ihrer engen Aneinanderreihung gleichsam die sieben Ringe jener Kette, von denen immer je einer aus dem andern hervorgeht und wieder in den andern sich einfügt. Sieben Bitten! Auch die Woche hat sieben Tage, das Jahr sieben Festzeiten, das Leben sieben Perioden und Stationen: wie? sollten nicht die sieben Bitten des Vater Unsers zu den sieben Tagen der Woche, zu den sieben Festzeiten des Kirchenjahres, zu den sieben Lebensstationen in gewisser Beziehung stehen? Wir wollen versuchen, diese Beziehung herauszufinden. Zunächst stimmen die sieben Bitten überein mit den sieben Tagen der Woche. Der Sonntag, von den Heiden schon der Tag der Sonne genannt, unter den Juden der Tag, an welchem Gott das Licht schuf und unter den Christen der Tag der Auferstehung Christi und der Ausgießung des heiligen Geistes, ist unter uns der dem Dienste Gottes geheiligte Tag; gehört ihm nicht die erste Bitte: „Dein Name werde geheiligt?“ Der Montag, ehemals als der Tag des Mondes bezeichnet, erinnert uns durch das Bild des wechselnden Mondes an die Veränderlichkeit und Unbeständigkeit der Welt und des menschlichen Herzens, und mahnt uns bei unsern Arbeiten und Geschäften, die am Montage neu beginnen, den Blick gen Himmel zu richten, damit der höhere Zweck aller Arbeiten und Geschäfte nicht aus den Augen verloren werde; gehört ihm nicht die zweite Bitte: „Dein Reich komme?“ Der Dienstag erinnert uns an unsern Dienst- und Kriegsstand auf Erden, und an den großen Herrn und Gebieter, dem wir durch freiwilligen Gehorsam dienen sollen; gehört ihm nicht, damit unser Dienst ein gottwohlgefälliger werde: „Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel?“ Der Mittwoch ist die Mitte der Woche, und stellt gleichsam, zwischen den drei vergangenen und den drei kommenden Tagen derselben die Gegenwart dar; gehört ihm nicht die Bitte der Gegenwart: „Unser täglich Brod gieb uns heute“? Der Donnerstag hat seinen Namen vom Donnergott der alten heidnischen Deutschen, und vergegenwärtigt uns den Ernst und die Gerechtigkeit Gottes, die über unsere Sünden zürnt; paßt da für ihn nicht die Bitte: „Vergieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern“? Der Freitag tragt seinen Namen von der altdeutschen Göttin Freia, und vergegenwärtigt uns in ihr die falsche Freiheit, die Willkühr, die im Wesen nichts anders ist als tiefe Knechtschaft unter die verkehrtesten Leidenschaften und Begierden; liegt nicht nahe die Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung?“ Endlich kommt der Sonnabend, der Ruhetag oder Sabbath des alten Bundes, an welchem Jesus im Grabe ruhete von allem Kampfe unserer Erlösung, und durch sein Grab uns erinnert an den Eingang in die ewige Ruhe der Seligen; tritt uns da nicht unwillkührlich entgegen die letzte Bitte: „Erlöse uns von dem Uebel“? Die sieben Bitten sind wie gemacht für die sieben Tage der Woche, und in ganz anderm Lichte erscheinen uns nun die einzelnen Tage, da jeder derselben nicht nur seine eigne Plage, sondern auch seine eigne Bitte bat?
Indeß die sieben Bitten entsprechen auch in weiterem Sinne den sieben Hauptfestzeiten des Kirchenjahres. So oft wir beten, feiern wir an sich schon festliche Augenblicke; denn das Herz zum Herrn erheben und festlich gestimmt sein, ist eins und dasselbe; aber das Vater Unser hat nun auch noch das Eigenthümliche, daß es in der Bedeutung und Folge seiner einzelnen Theile durchaus mit der Reihe unserer jährlichen Festtage zusammenfällt. Zu Weihnachten lernen wir den Herrn als unsern Vater im Himmel kennen, der also die Welt geliebt hat. daß Er seinen eignen Sohn für sie dahingab, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben; zu Neujahr denken wir an einen gesegneten Anfang, und der kann nur geschehen in dem hochgelobten Namen Jesu Christi; die Epiphaniaszeit handelt von der Herrlichkeit des prophetischen Amtes Christi und feiert die Ausbreitung des Evangeliums unter den Heiden in den Weisen vom Morgenlande; der Gegenstand ihrer Betrachtungen ist also die Bitte: „Dein Reich komme.“ Dann folgt die heilige Passionszeit, wir erblicken den Herrn in der tiefsten Leidensgestalt, sehen Ihn kämpfen und bluten, und hören Ihn rufen: Vater, nicht wie ich will, sondern wie Du willst; muß da nicht sein Gebet das unsrige werden: „Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel?“ Am Charfreitag feiern wir darauf das heilige Abendmahl, und zu Ostern jauchzen wir dem Auferstandenen, dem Fürsten des Lebens, dem lebendigen Himmelsbrod zu, der der ganzen Welt das Leben giebt, und flehen: „Unser täglich Brod gieb uns heute.“ Nun folgen die vierzig Tage nach Ostern, mit dem Buß- und Himmelfahrtstag, wir gedenken an unsere Sünden, und fühlen unser Elend ohne Ihn, und seufzen: „Vergieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ Mit Pfingsten beginnt die lange festliche Hälfte des Kirchenjahres, keine That Gottes ruft himmelan, Alles drückt vielmehr zur Erde nieder und zur Lebensgerechtigkeit, wir flehen: „Führe uns nicht in Versuchung.“ Endlich neigt sich das Kirchenjahr seinem Ende zu, die letzten Sonntage handeln vom Tode, Gericht, Vergeltung, Ewigkeit, und es schließt zuletzt mit dem Todtenfest; wir gedenken an unsere Vollendeten, und an unser eignes Ende, und beten: „Erlöse uns von dem Uebel.“
Doch noch weiter müssen wir unsere Blicke ausdehnen, Woche und Jahr ist nur ein Bild vom Leben überhaupt, und insofern begleiten uns die sieben Bitten endlich auch als treue Gefährten durch die sieben Hauptstationen unseres Lebens. Wenn ein Mensch zur Welt geboren ist, wenn Vater- und Mutterherz in namenloser Freude und Hoffnung überwältigt ist, und es sie drängt, dem Geber der schönsten Gabe die Gabe selbst in kindlicher Dankbarkeit zu weihen, dann bringen sie betend das Kindlein zum Bade der Taufe, es erhält den Namen, den es fortan auf Erden führen soll; aber indem es ihn erhält, wird über seine Stirn zugleich der Name des dreieinigen Gottes ausgesprochen, und damit zum ersten Male der Name Gottes geheiligt an dem Menschen, zum Zeichen, daß sein ganzes Leben ein fortgesetztes Geheiligtwerden des Namens Gottes an seiner Seele sein soll. Das Kind wächst nun heran, es wird erzogen und gebildet, es empfängt mit der Erkenntniß seiner selbst zugleich die Erkenntniß seines ewigen Heils: da bricht die zweite Lebensstufe an, der Confirmationstag, jener heilige Tag mit seinen Gebeten, Thränen, Gelübden, tiefen Rührungen, Bekenntnissen, Segnungen; aber Alles, was an diesem großen, entscheidenden Tage gedacht, gefühlt, gebetet wird, geht auf in der Bitte: „Dein Reich komme.“ Indeß der Jüngling wird Mann, er hat seinen Beruf gefunden, und will nun auch einen eignen Kreis um sich bilden. Da steht er mit der Erkorenen seines Herzens vor dem Altar, Hand und Herz mit ihr zu tauschen zum gemeinsamen Gange durch's Leben, ein Diener des göttlichen Wortes spricht den Segen der Kirche über das junge Ehepaar, und verklärt ihre gegenseitige Liebe, verklart ihren Blick in die dunkle Zukunft durch die Bitte: „Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel,“ Nun vermehrt sich nach und nach das Haus an neuen Mitgliedern, die Kinder sitzen wie Oelzweige um den Tisch her, und mit der Freude geht beim Vater eben so sehr die Sorge Hand in Hand; da blicken sie nach oben, woher der Segen kommt, der Vater entblößt sein Haupt, Alle falten die Hände, Aller Augen warten auf den Herrn, der ihnen ihre Speise giebt zu seiner Zeit, der seine milde Hand aufthut und alles, was lebet, mit Wohlgefallen erfüllet, und der Vater entschlägt sich aller Sorgen, und spricht vertrauensvoll und genügsam: „Unser täglich Brod gieb uns heute.“ Doch nicht blos am häuslichen Tische versammelt er sich mit den Seinigen, auch an Gottes Tische erscheint er; denn das Leben ist reich an versäumten Pflichten, an betrogenen Hoffnungen, an Prüfungen und Schwächen; darum naht er, so oft ein Bedürfniß darnach in seiner Seele aufsteigt und eine neue Periode seines Lebens sich anbahnt, dem Altare des Herrn mit der Bitte: „Vergieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ Aber mit dem häuslichen und kirchlichen Leben entwickelt sich zugleich das innere verborgene Leben der Seele mit Christo in Gott immer tiefer und herrlicher: man wird von Tag zu Tage immer bekannter mit seinen Schwächen und immer gewisser des Schutzes einer allmächtigen Liebe; mißtraut immer mehr sich selbst, und will fortan nur wandeln, ruhen, streiten unter den Flügeln einer allgegenwärtigen Gnade, und lernt dann, im Blick auf Alles, was uns in der Zeit noch bevorstehen möge, den Geist empfangen, in dem man betet: „Führe uns nicht in Versuchung.“ Unter solchen Erfahrungen des Fallens und Aufstehens, des Unterliegens und Siegens, wird der Mann endlich Greis. Da sitzt er lebensmüde und lebensmatt auf seinem Sessel, die Eitelkeit aller menschlichen Dinge täglich mehr fühlend und erkennend; die mit ihm jung waren, sind längst vor ihm heimgegangen; sein Rücken ist gekrümmt, als bücke er sich immer mehr zu den Gräbern der Seinen. sein Haupt ist kahl, als wollte er anzeigen, daß ihm die Erde auch öde und kahl geworden; nur Ein Gefühl hat er in seinem Herzen, das ist das Heimweh nach dem himmlischen Vaterlande. So denkt er sehnsuchtsvoll an sein Stündlein und bittet den Herrn, daß, wenn es komme, der Vater im Himmel ihm ein seliges Ende bescheeren und mit Gnaden aus diesem Jammerthal ihn zu sich nehmen wolle in den Himmel. Im vollsten Sinne des Worts betet er: „Erlöse uns von dem Uebel.“ So verbreiten die sieben Bitten des Vater Unsers ihren Segen über alle einzelnen Lebensstufen: Taufe, Confirmation, Ehe, häusliches, kirchliches, innerliches Leben, Alter und Tod, und darum ist es ein Gebet ohne gleichen.
3.
Doch es ist die Zeit, daß wir zum dritten Gedanken übergehen, zu der unerläßlichen Anwendung, welche das Vater Unser fordert, zu dem Hauptzweck und dem eigentlichen Schluß aller unserer Betrachtungen über das Gebet des Herrn. Die Hauptsache nämlich ist nicht die, daß wir den tiefen Sinn und die volle Bedeutung dieses unvergleichlichen Gebetes kennen gelernt haben und auswendig wissen; die Hauptsache ist, daß wir nun auch fleißig und recht üben, was wir gelernt haben und die herrliche Anweisung zum Gebet gebrauchen, die der Herr uns in Gnaden gegeben hat. Unsere Alten pflegten zu sagen: „So viele Vater Unser, so viel Segen;“ und die Kirche hat von jeher die Wichtigkeit dieses Gebets dermaßen gefühlt, daß sie es nicht nur bei der Predigt, sondern auch bei der Taufe, der Konfirmation, der Trauung, dem Abendmahl, dem Begräbniß, kurz, bei allen kirchlichen Handlungen, wie den Segen des Herrn eingeführt hat und immer mit demselben verbindet; sie fürchtete nicht, daß es durch den öftern Gebrauch an seiner Kraft verlieren würde, denn sie betrachtete, es nicht wie ein reizendes Arzneimittel, das durch häufigen Gebrauch an Wirkung verliert, sondern wie das Brod, das wir täglich gebrauchen und ohne das wir verkommen und hinsterben würden; ja, Luther ermahnte sogar, man sollte ein ewiges Vater Unser beten, d. h. man solle unablässig in dem Geiste dieses Gebets vor Gott wandeln und handeln, ununterbrochen in verborgenem Umgange mit dem ungesehenen, aber allernächsten Freunde unsers Herzens stehen, damit dadurch jede Arbeit ein Genuß, jede Last eine Lust, jeder Dienst ein königliches Priesterthumsgeschäft, ein Dienen dem Herrn Christo werde, und all unser Thun und Lassen gesegnet sei. Ist das der Fall, so werden wir schon an und für sich durch diesen stehenden Gebetsgeist bewahrt werden vor jedem gedankenlosen, flüchtigen, mechanischen Mißbrauch des Vater Unsers, vor jedem Hinplappern desselben ohne Geist und Herz, ohne Nachdenken und Andacht, und bei uns wenigstens Luthers Wort keine Anwendung finden: „Das Vater Unser ist der größte Märtyrer auf Erden, denn jeder plagt's und mißbraucht's, wenige trösten's und machen's fröhlich im rechten Brauch.“ Nein, wir werden, so oft wir es sprechen, fühlen, was wir sagen, bei jeder einzelnen Bitte langsam und andächtig verweilen, in ihren Inhalt und Geist uns hineindenken und hineinleben, und auch alle unsere andern Gebete weihen und heiligen durch den Geist dieses Gebets. So wollen wir es denn fleißig brauchen mit aller Demuth und Freudigkeit unsers Herzens, und am Normal- und Mustergebet des Herrn selbst beten lernen aus eigenem, vollem Herzen; unsere Lippen, so lange wir sie regen können, zur Ehre Gottes öffnen; dem Gebetstriebe folgen, so oft er in uns erwacht, und treu unser hohes Jüngervorrecht benutzen, den seligen, brüderlich und kindlich vertraulichen Umgang, oder wie ein großer Mann dos vorigen Jahrhunderts ihn nennt, die zärtliche persönliche Connexion mit dem Heilande. Nur der ist ein Mensch Gottes, der An Geist ist mit Ihm! Nur der hat die Salbung von oben, der mit dem Herrn, und mit dem der Herr umgeht, wie ein Freund mit seinem Freunde! Nur der wird immerdar christlich und gottselig beten, der christlich und gottselig lebt! Und wer so lebt und so betet, der wird einst auch fröhlich sterben, und ein seliger Tod auf ein gottseliges Leben das letzte, seligste Amen des Himmels sein. Amen.