Arndt, Friedrich - Das Leben Jesu - Zweite Predigt. Gespräch Jesu mit Nicodemus.
Text: Joh. 3., V. 1 - 16.
Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nicodemus, ein Oberster unter den Juden. Der kam zu Jesu bei der Nacht, und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß Du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn Niemand kann die Zeichen thun, die Du thust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nicodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Laß dichs nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: ihr müsset von neuem geboren werden. Der Wind blaset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. Nicodemus antwortete, und sprach zu ihm: Wie mag solches zugehen? Jesus antwortete, und sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel, und weißt das nicht? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, das wir wissen, und zeugen, das wir gesehen haben; und ihr nehmet unser Zeugniß nicht an. Glaubet ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage: wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist. Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden; auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Unstreitig gehört dies Gespräch des Herrn mit Nicodemus zu den tiefsten und wichtigsten Unterredungen, welche Er auf Erden mit Menschen gehabt hat. Es fällt noch in die Zeit Seines ersten Osterfestes in Jerusalem und ist die erste ausführlichere Erklärung aus Seinem Munde, und zwar über einen der unerläßlichsten Gegenstände im Reiche Gottes. Jesus hatte den Tempel von einem schreienden Mißbrauche gereinigt, und hatte zu dieser Reformation keiner weltlichen, polizeilichen Gewalt bedurft: Sein bloßes Auftreten, Sein ruhiger Ernst, die geistige Macht der von Ihm verkündigten und gehandhabten Wahrheit, hatte in der kürzesten Zeit das Werk vollbracht; auch manche andere Zeichen waren von Ihm gethan, manche andere Wahrheiten gelehrt worden, die einen großen Eindruck gemacht und in vielen Gemüthern den Glauben an Seinen Namen erzeugt hatten. Zu diesen angeregten Menschen gehörte unter Andern auch Nicodemus, ein Oberster unter den Juden, ein angesehenes Mitglied des hohen Raths. Er kann sich's nicht versagen, Jesum aufzusuchen, um mehr von Ihm zu hören und kennen zu lernen. Aber die Tagesstunden, zumal in der Festzeit, waren zur Erreichung jenes Zwecks zu unruhig, Jesus zu sehr umdrängt von den Volksschaaren und deßhalb außer Stande, sich dem Einzelnen völlig hinzugeben, Nicodemus zu sehr in Anspruch genommen durch die mancherlei Arbeiten seines Berufs. Auch rieth ihm die Klugheit und die Rücksicht auf seine Standes- und Berufsgenossen, bei denen der Tempelreinigungseifer Jesu Mißfallen und vielleicht Erbitterung erregt hatte, vorsichtig aufzutreten und jedes Aufsehen zu vermeiden. Was blieb ihm, dem redlichen Forscher nach Wahrheit, also übrig, als die stillen Stunden der Nacht zum ungestörten Zwiegespräch mit dem neuen großen Propheten Israels zu benutzen? So kommt er denn schüchtern, und eigentlich zu ungelegener Zeit, zu Jesu. Der Herr aber nimmt ihn freundlich auf, opfert ihm gern die Stunden des Schlafs und der Ruhe - es galt ja das Heil einer unsterblichen. Seele! - und beginnt mit diesem gelehrten und vornehmen Sohne Israels Sein großes Gespräch über die Wiedergeburt. Laßt uns im Geiste mit eintreten in das nächtliche Zimmer, in welchem Neide, der lehrende Meister und der wißbegierige Schüler, nebeneinander sitzen und der entscheidenden Unterredung mit Aufmerksamkeit zuhören. Die Verhandlung nimmt folgenden Gang; sie stellt die Wiedergeburt von drei Seiten dar, 1) als befremdend, und doch nothwendig, 2) als unbegreiflich, und doch erkennbar, 3) als schwer, und doch möglich.
I.
Welche Vorstellungen von Jesu brachte Nicodemus wohl mit, als er in Jesu Zimmer eintrat, und welche Beweggründe hatten ihn zu dem Gange bestimmt? Seine Anrede wird uns auf diese Frage Antwort geben. Meister, Lehrer! redet er Jesum an. Das ist freilich nicht viel, wenn wir bedenken, daß Jesus Der ist, der einen Namen hat über alle Namen. Wir wissen - wer sind diese wir? diese Wissenden? Es wird nicht gesagt, thut auch nichts zur Sache; jedenfalls sind es Mehrere, in deren Namen Nicodemus redet, jedenfalls gehört er selbst zu denselbigen. Wir wissen, daß Du bist ein Lehrer von Gott gekommen: das ist einerseits schon mehr, als das vorhin genannte allgemeine Wort „Meister“, es weiset doch schon auf einen göttlichen Ursprung und eine göttliche Aufgabe hin; auch gibt Nicodemus den Grund an, warum er au eine göttliche Abstammung Jesu glaube: „Denn Niemand kann die Zeichen thun, die Du thust, es sei denn Gott mit ihm;“ andrerseits aber ist es noch immer sehr wenig: nur für einen Lehrer hält er Jesum nicht einmal für einen Propheten, geschweige für den verheißenen und längst erwarteten Messias, am allerwenigsten für den Sohn Gottes; und als hätte er mit dem Ausdruck von Gott gekommen fast zu viel gesagt, nimmt er denselben gleichsam wieder zurück, verbessert und schwächt ihn durch den Zusatz: es sei denn Gott mit ihm. Mit Jemand kann Gott sehr gut sein, wenn derselbe auch gar nicht von Gott gekommen ist; Er ist ja mit uns Allen, ungeachtet wir nur Staub und Asche sind, Fleisch vom Fleisch geboren. Ach, die ersten Vorstellungen, welche sich der Mensch von Christo macht, sind in der Regel sehr geringfügige und unbedeutende; da ist Er ihm meist nichts Anderes, als ein großer Mann, ein göttlicher Lehrer, ein frommes Vorbild, ein Weiser von Nazareth; da fürchtet man immer, man könne leicht zu viel und zu hoch von Jesu denken und Gott durch eine zu große Ehre, die er Christo bezeuge, zu nahe treten; während bei näherer, gründlicherer Bekanntschaft Jeder inne wird, daß er nie hoch genug von Christo denken könne und daß die Ehre des Vaters durch die Verherrlichung des Sohnes nimmer beeinträchtigt, sondern allezeit nur erhöht und vermehrt wird. Ist's uns nicht Allen so ergangen in unserem Verhältnis zu Christo? Nun, der Stufen im Glauben sind mancherlei, und Jeder fängt mit der untersten an: möge er sich nur hüten, auf derselben lebenslang stehen zu bleiben! Den Schaden trägt Keiner, als er selbst, davon. - Weiter sagt Nicodemus nichts. Weiter läßt ihn auch Jesus, der nicht bedurfte, daß Jemand Ihm Zeugniß gäbe von einem Menschen, sondern wußte, was im Menschen war, nicht ausreden. Gewiß hatte Nicodemus ebenso unklare, äußerliche und weltliche Vorstellungen von dem neuen Reich, dem neuen Gesetze, der neuen Verfassung, die der Messias der Welt bringen würde, wie alle Juden. Genug, Jesus durchschaute ihn sogleich und fiel ihm sofort in die Rede mit einer Erklärung, die gleich von dem Aeußern hinweg ihn auf das Innere, von seinen irdischen Ansichten, Gedanken, Wünschen und Hoffnungen ihn auf das Eine lenkte, was ihm und allen Menschen zuerst und hauptsächlich nothwendig ist: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Beim Reiche Jesu ist's nicht zu thun um eine äußere Verfassung, Gesetzgebung, Staatseinrichtung, von welcher die Thoren zu allen Zeiten und jetzt wieder das Heil der Völker erwarten, denn alle diese äußeren Dinge geben keine neue Menschen; - beim Reiche Christi ist's um neue Menschen zu thun; die kann man aber nicht machen, die müssen geboren werden; die erzeugt nicht die erste, natürliche Geburt, die erzeugt allein eine zweite, neue, geistige Wiedergeburt.
Eine solche Antwort hatte Nicodemus nicht erwartet. Sie überrascht und befremdet ihn, den bejahrten Pharisäer, den gebornen Juden, ungemein, sie erscheint ihm völlig widersinnig und überspannt, sie wirft sein ganzes bisheriges System mit einem Schlage zu Boden, und er erwidert: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Aus dieser Erwiderung sieht, trotz aller Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe, doch der disputiersüchtige Pharisäer gleich heraus; sie geht aus dem spitzfindigen Verstande, nicht aus dem heilsbegierigen Herzen hervor. Aber was hilft das Disputieren auf dem Gebiete der Wahrheit? Durch Disputieren ist noch nie ein Zweifler überzeugt, ein Feind gewonnen worden. Jesus läßt den spitzfindigen und wunderlichen Einwand auf sich beruhen und wiederholt nochmals ausdrücklich Seine erste Erklärung: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß Jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Von einer leiblichen Neugeburt rede ich nicht, sondern von einer die Seele reinigenden Wasser- und Geistestaufe, von der Mittheilung eines neuen göttlichen Lebens an die Seele. Was vom Fleisch geboren wird, aus den Kräften unserer unvollkommenen, verderbten, menschlichen Natur hervorgeht, das ist Fleisch, das muß immer wieder unvollkommen und verderbt sein; nur was vom Geist geboren wird, ist Geist, das ist vollkommen und des himmlischen Reiches fähig. Wie befremdend dir auch die Forderung der Wiedergeburt vorkommen mag, sie ist durchaus nothwendig.
Noch heute, Geliebte, stößt die Forderung des Herrn: „Es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ überall auf dieselben Aeußerungen der Befremdung und Verwunderung. Schon das Wort: „Wiedergeburt“ ist dem natürlichen Menschen in seinem Stolze ein Stein des Anstoßes; Besserung läßt er sich eher gefallen, weil dabei doch vorausgesetzt wird, daß seine Natur an und für sich gut sei und nur besser werden solle; aber die biblischen Ausdrücke: Wiedergeburt, Bekehrung, Sinnesänderung, Erneuerung im Geiste des Gemüths, sind ihm zuwider, weil sie die Wahrheit, daß an dem Menschen von Natur nichts wahrhaft Gutes sei, daß er von Natur nichts aus Liebe zu Gott, Alles nur aus Liebe zu sich selbst thue, zu grell und bestimmt ihm vorhalten. Das Wort ist ihm ein Anstoß, weil die Sache ihm zuwider ist. Ja, wenn die Forderung bloß an grobe Sünder und Missethäter gerichtet wäre, ließe er sie allenfalls noch gelten; aber daß sie als allgemeine Bedingung aufgestellt wird, daß Jesus sagt: „Wer nicht von neuem geboren wird, ohne Ausnahme und Unterschied, er mag sein, wer er wolle, kann nicht in das Reich Gottes kommen“; daß Sein großer Apostel es Ihm nachspricht: „So leget nun von euch ab den alten Menschen, der durch Lüste in Irrthum sich verderbet, erneuert euch aber im Geiste eures Gemüths, und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit“, (Eph. 4, 22-24); daß alle Menschen, die Guten wie die Bösen, vor Gott als Sünder betrachtet, alle als von Natur unfähig zum Guten, und einer gänzlichen Umänderung als höchst bedürftig dargestellt werden, das empört ebenso sehr seine Eitelkeit, wie seinen Stolz. Jetzt sind es alte, mit der Muttermilch eingesogene und durch Unterricht genährte Vorurtheile vom Adel der menschlichen Natur und seinen vielfachen Tugenden und Verdiensten, die jener Forderung feindlich entgegentreten; jetzt sind es die alten, zur Gewohnheit gewordenen Sünden, welche man nicht lassen mag, die jenem Gebot den Weg zum Herzen versperren. Namentlich in einer Zeit, wo Alles darauf hinausgeht, der Selbstvergötterung, der Eitelkeit, dem Dünkel, dem hochfahrenden Wesen, der Selbstsucht und dem Ungehorsam Nahrung zu bieten; andrerseits der Abfall vom Glauben der Schrift, die Gleichgültigkeit gegen das Göttliche, die Feindschaft gegen Christum, die Unwissenheit in den Lehren des Heils so beispiellos groß ist, kann die Forderung der Wiedergeburt auf nichts Anderes stoßen als auf Befremdung und Widerspruch. - Aber ob auch befremdlich und unangenehm, die Forderung bleibt einmal unerläßlich und nothwendig. Es gibt einmal keinen anderen Weg, in's Reich Gottes einzugehen, als die Wiedergeburt. Die Seligkeit des Gnadenstandes zu genießen und den gläubigen Umgang mit Gott als das höchste Glück zu empfinden, setzt einen geistlichen Geschmack voraus; die Pflichten eines Begnadigten auszuüben, erfordert geistliches Leben und geistliche Kraft; am Reich der Herrlichkeit theilzunehmen, bedingt einen himmlischen Sinn, und dieser muß hienieden auf Erden schon geweckt, gestärkt, erzeugt werden; denn von Natur hat der Mensch diesen Sinn, diese Kraft, diesen Geschmack, dieses göttliche Leben nicht; er muß erst wiedererlangt werden, nachdem er durch die Sünde verloren gegangen ist. Christen werden nicht geboren, sondern wiedergeboren.
II.
Es war eine Pause eingetreten in dem Gespräch, Nicodemus war in tiefes Nachdenken versunken über die neuen, großen Gedanken, die er vernommen, und bei der Stille der Nacht hören beide Männer deutlich das Sausen des kühlen Windes in den Straßen Jerusalems. Nach Seiner Art, an das unmittelbar Vorliegende in der Natur anknüpfend, fährt der Herr fort: Laß dich's nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. Der Wind bläset, wo er will, nimmt jedwede Richtung, bald über den See Genezareth, bald über das weite mittelländische Meer, bald über die Ebene Saron oder Jesreel, bald über den Libanon oder das Gebirge Gilead, und du hörest sein Sausen wohl, die Wirkung kannst du nicht läugnen, davon überzeugt dich dein Gefühl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt, der Ursprung der Bewegung und das Ende derselben ist dir unbekannt: also ist ein Jeglicher, der aus dem Geist geboren ist, so verhält es sich auch mit den Wirkungen des Geistes, mit der Wiedergeburt. Wer kann das Gewebe des neuen Lebens verfolgen bis in seine ersten Fäden, welche die ewige Gnade gewoben und zusammengeknüpft hat? Der Zug des Vaters, wodurch Er die Seele dem Sohne zuführt, das Wirken des Geistes, wodurch Er, bald in allerlei Regungen des Gemüths, bald in mancherlei Führungen des äußeren Lebens, eine Empfänglichkeit für die göttliche Barmherzigkeit in Christo mehr und mehr zuwegebringt, die tausendfachen Eindrücke und das Widerstreben dagegen und die Ueberwindung des Widerstandes - diese ganze innere Zubereitung, wie wenig ist sie auch für denjenigen selbst, in welchem dieses Alles vorgeht, wie viel weniger noch für Andere klar und durchsichtig! Es läßt sich das Werden des Neuen nicht verfolgen bis in seine ersten Wurzeln im Gemüthe, der Ursprung des wiedergebornen Lebens ist und bleibt ein unerforschliches Geheimniß des Geistes. - Auf gleiche Weise verhält es sich mit dem Ziele des Lebens, das die Wiedergeburt hervorbringt; es liegt ja jenseits der Gräber, in der Ewigkeit. Unser Leben, sagt Paulus, ist verborgen mit Christo in Gott; wenn aber Christus, unser Leben, offenbar werden wird, dann werden wir mit Ihm offenbar werden in der Herrlichkeit„ (Col. 3,3.4.), und Johannes schreibt (l Joh. 3,2.): „Meine Lieben, es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir Ihm gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist.“ Große Verheißungen von dem ewigen Leben, von unserer Gleichförmigkeit mit Christo, von dem Anschauen Gottes, von dem geistlichen Leibe, der da gleich ist dem verherrlichten Leibe Christi, von der Seligkeit jener Welt sind uns in der heiligen Schrift gegeben; aber eine klare Vorstellung, ein anschauliches Bild jenes herrlichen Zustandes vermögen wir uns hienieden nicht zu machen, das Ziel ist wie durch einen Vorhang verhüllt, durch den wir noch nicht hindurchdringen können mit unserm schwachen irdischen Auge, und die Worte, in die wir unsere ewigen Hoffnungen fassen, sind uns noch unverstandene Worte. - Ist aber die Wiedergeburt und das aus ihr entspringende neue Leben ihrem Ursprung und Ziele nach unbegreiflich, es ist doch da in der Wahrheit und Wirklichkeit, und in seinen Wirkungen daher wahrnehmbar. Freilich manchmal nicht gleich, der Mensch kann nicht immer Zeit und Stunde genau angeben, wann es anders mit ihm geworden, der Uebergang aus dem alten, ungöttlichen Sinne in's neue Leben des Geistes geht oft durch eine Menge Stufen hindurch, der Kampf des Durchbruchs hält oft lange an: dennoch kann Jedermann wissen, ob er wiedergeboren ist und ein neues göttliches Leben in ihm begonnen hat oder nicht. Wo der Geist des Herrn wirkt, da kann die Frucht des Geistes, die da ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Langmuth, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmuth, Keuschheit (Gal. 5,22.) nicht ausbleiben. Wo der Geist des Herrn wirkt, da muß das stolze Herz demüthig, das habsüchtige wohlthätig, das wollüstige keusch, das mürrische freundlich, das falsche Herz redlich, das lügnerische wahr, das unruhige Herz ruhig werden. Ist Solches nicht geschehen? Fraget die Geschichte der Kirche: nicht ein Saulus, der ein Paulus geworden, nicht eine büßende Maria Magdalena, nicht ein Zachäus, der die Hälfte seiner Güter den Armen geben und wenn er betrogen hat, es vierfältig wieder erstatten will, nicht ein Schächer am Kreuz, der noch in den letzten Augenblicken sich bekehrt, Tausende treten euch entgegen. Blicket um euch in dieser Versammlung: hier sehet ihr Manchen, der euch sonst durch sein weltliches oder sündliches Leben ein Aergerniß gab und der euch jetzt durch seine Frömmigkeit erbaut; vielleicht seid ihr selbst wiedergeboren, oder seid auf dem Wege, es zu werden. Was sind alle Wunder, die dem Körper widerfahren, wenn Taube hören, Lahme gehen, Cholerakranke genesen, Todte auferstehen, gegen diese Seelenwunder, wenn geistlich Taube plötzlich die Stimme der göttlichen Gnade vernehmen, wenn geistlich Lahme auf dem Wege des Heils einhergehen, wenn geistlich Todte zu einem neuen Leben in Gott erwacht sind, wenn an der geistlichen Cholera, dem Revolutionsfieber und der demokratischen Seuche, Erkrankte genesen zu einem gesunden Sinn für Recht und Ordnung, zu treuer Liebe gegen König und Vaterland, zu aufrichtiger Heilighaltung ihrer geschwornen Eide und göttlichen Gebote? Die Wiedergeburt ist, wie Luther sagt, das rechte geistliche Mirakel, das Wunder aller Wunder, unerklärbar dem Verstande, und doch gewiß und wahrnehmbar im Leben und in der Erscheinung.
III.
Sie ist endlich schwer, aber doch möglich, wenn nur das rechte Mittel ergriffen wird. Nicodemus, nicht mehr bloß verwundert und stutzig, sondern schon wiß- und Heilsbegierig, fragt: Wie mag Solches zugehen? wenn ich die Wiedergeburt wirklich noch in meinem hohen Alter erfahren kann, wie komme ich dazu? wie kommt sie zu Stande? Jesus entgegnet: Bist du ein Meister in Israel und weißest das nicht? Hatte denn Nicodemus im Alten Testament niemals Stellen gelesen, wie die: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist.“ (Ps. 51, 12). „Ich will Wasser gießen auf die Durstigen und Ströme auf die Dürren, ich will meinen Geist auf deinen Samen gießen und meinen Segen auf deine Nachkommen“ (Jes. 44, 3)? Hatte er denn den Sinn dieser Stellen niemals bedacht? Aber die Meister in Israel stritten oft um Buchstaben, Aeußerlichkeiten, Worte, wollten oft erklären, was unerklärbar ist, und vergaßen darüber die Hauptsache, das Anwenden auf's eigne Herz und das Thun und Befolgen im Leben. Wehe euch Schriftgelehrten, die ihr die Schlüssel der Erkenntniß habet und wehret dem Volk; ihr kommet nicht hinein, und die hineinwollen, lasset ihr nicht hineingehen. Ihr sollt euch nicht lassen Meister nennen, denn Einer ist euer Meister, Christus“ (Matth. 23,10.13.) - „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wir reden, was wir wissen, und zeugen, was wir gesehen haben, und ihr nehmet unser Zeugniß nicht an.“ Irdische Meister können oft Stunden lang von Gegenständen reden, die sie selbst nie gesehen, nie erfahren haben, und von denen sie wirklich und wahrhaftig kein unmittelbares Wissen besitzen: anders aber bei Christo, Er verkündigt uns nichts, als was Er unmittelbar weiß aus eigener, göttlicher Anschauung; darum sollen wir Ihm glauben. „Glaubet ihr aber nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, die auf der Erde sich zutragen, wie die Wiedergeburt, die man hienieden an vielen Menschen wahrnehmen kann, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? von dem Rathschluß der Erlösung, den Gott zum Heil der Menschen gefaßt hat, und den zu verkündigen und zu erfüllen ich Mensch geworden bin, der gegenwärtig noch ein himmlisches Geheimniß ist, von welchem Niemand weiß, als der Vater und ich allein, der aber in kurzer Zeit in die Erscheinung und Ausführung treten und dann mit seiner vollen Gotteskraft die Welt und die einzelnen Menschen erneuern wird. Und Niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist. Ich kann also jene himmlischen Rathschlüsse bezeugen, denn ich kenne sie, ich selbst bin himmlischen Ursprungs, ich selbst werde einmal wieder in den Himmel zurückkehren, ich selbst bin noch immer trotz meiner irdischen Erscheinung in fortwährender Gemeinschaft mit dem Himmel.“ - In der That, kann es für göttliche Geheimnisse einen glaubwürdigeren Zeugen geben, als den, welcher diese drei Thatsachen von sich aussagen kann? Und glauben wir nicht diesem höchsten, gewissesten Zeugen, welchem andern wollen wir glauben?
Nach allen diesen Vorbereitungen kommt Jesus auf den Hauptpunkt, auf die Spitze der ganzen Verhandlung, und nennt dem Nicodemus das im Himmel beschlossene, aber auf Erden noch bevorstehende Mittel der Wiedergeburt: „Wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden, auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken, und Gottes Wege sind nicht unsere Wege. Wir dürfen nicht wagen, Ihm die Mittel vorzuschreiben, die Er wählen soll, noch die zu tadeln, die Er gewählt hat. Als das Volk Israel in der Wüste ist, sendete ihm Gott feurige Schlangen, daß es stirbt von ihrem Biß. Da erschien Moses vor dem Herrn, und mußte auf Seinen Befehl das eherne Bildniß einer Schlange aufrichten; wer es ansah, wurde geheilt, und wenn er sich geheilt fühlte, fragte er nicht: wie mag Solches zugehen? wie kann ein Bildniß einen Biß heilen? sondern er glaubte, und gerührt dankte er Gott für seine Rettung. Auf ähnliche Weise verhält es sich auch mit der Schlange der Sünde und der Heilung von ihrem Biß. Welch ein Mittel der Rettung, das Gott da ersehen hat! O wer hat des Herrn Sinn erkannt? oder wer ist Sein Rathgeber gewesen? Hätte unser menschliche Geist alle Möglichkeiten an sich vorübergehen lassen, er hätte es nicht getroffen. Gott wählte den Kreuzestod Seines Sohnes; Er machte Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde, und nun haben wir an Christo die Erlösung durch Sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden, nach dem Reichthum Seiner Gnade. Ja, die Wiedergeburt der gefallenen Menschheit ist etwas unsäglich Schweres, sie hat den Tod des Sohnes Gottes gekostet; auf keinem andern Wege war Hülfe möglich. Christi Tod allein konnte uns zum Leben führen, Christi Schmerzen allein uns wieder Freuden bereiten, Sein von Gott Verlassensein allein uns die Gemeinschaft mit Gott wiedererringen, Sein Blut allein das Sühnmittel werden unserer Schuld und Erlösung. - Und auch für uns ist die Wiedergeburt schwer, ja, durch eigene Kraft unmöglich; denn sie setzt nicht minder den Tod unsers alten Menschen, wie den Tod Jesu Christi voraus. Es gilt, dir selber zu entsagen, dein Fleisch zu kreuzigen sammt den Lüsten und Begierden, deinem stolzen, eigenliebigen Herzen den Todesstoß zu versetzen, Allem abzusagen, was du dein nennst, und dein ganzes Ich dem Herrn zum Opfer zu bringen.
Kannst du das? O es ist leichter, Königreiche zu erobern, Kronen zu erringen, Schlachten zu schlagen, als sich selbst zu überwinden. Wäre die Wiedergeburt etwas Leichtes, es würde viel mehr Wiedergeborene geben, der laute Widerspruch und das anhaltende Widerstreben gegen den Geist Gottes würde allgemein verschwinden, die oft Jahre langen furchtbaren Bußkämpfe der Gläubigen würden nicht stattfinden. Aber nein, sie ist schwer, sehr schwer. Man kann sogar ein Nicodemus sein, gelehrt, hochbetagt, von Herzen fromm und gottesfürchtig, und doch noch nicht wiedergeboren. - Dennoch haben wir keinen Grund, zu zagen, noch zu verzagen; was bei Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich, das Mittel dazu sogar außerordentlich einfach und natürlich. Es ist der Glaube an Christum und Seinen Versöhnungstod am Kreuze. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab, dahingab in den Tod, auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Dieser Glaube begründet und vermittelt das neue, göttliche Leben. Ermahnungen und eindringliche Vorstellungen mögen, wie das Gesetz, die Wiedergeburt vorbereiten; Leiden und Züchtigungen mögen, wie die babylonische Gefangenschaft, das Bedürfniß nach ihr wecken; die Predigten von Christo mögen, wie die Stimme des Täufers, für sie empfänglich machen, - zu Stande kommt sie in uns nur, wenn wir glauben können und glauben lernen an die Liebe des Vaters und des Sohnes. Dieser Glaube weckt die Gegenliebe und Dankbarkeit, und Gegenliebe und Dankbarkeit offenbart sich durch das neue Leben, das nicht mehr sich selbst lebt, sondern Dem, der für uns gestorben .und auferstanden ist. O es ist ein lebendig, geschäftig, mächtig, thätig Ding um den Glauben, daß unmöglich ist, daß er nicht sollte ohne Unterlaß Gutes wirken; er fragt auch nicht, ob gute Werke zu thun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie gethan, und ist immer im Thun. Ist es dir also Ernst, deine Seligkeit zu schaffen mit Furcht und Zittern, und möchtest du ein neuer Mensch werden nach Herzen, Sinn, Muth und allen Kräften, und fühlst du deine eigene Schwäche, ja, dein Unvermögen zu solchem Berufe: tritt unter das Kreuz deines Herrn, erkenne darin die göttliche Liebe in ihrer Macht und Herrlichkeit, und du wirst dich getrieben fühlen, Den wiederzulieben, der dich zuerst geliebet hat; am Fuß des Kreuzes wird das langt getrennte Bündniß zwischen Gott und dir neu geschlossen und Christi Tod die Quelle deines neuen Lebens werden. Der Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neugebiert aus Gott, und tödtet den alten Adam, und macht aus uns ganz andere Menschen, und bringet den heiligen Geist mit sich. Wo dieser Glaube, da, ist das Reich Gottes, Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist.
Drum, o Herr Jesu, hilf Du mir
Und schenk den wahren Glauben mir,
So werde ich von Sünden rein
Und hier und dort recht selig sein.
Amen.