Arndt, Friedrich - 2. Das Wort Gottes und die Kirche des Herrn.

Arndt, Friedrich - 2. Das Wort Gottes und die Kirche des Herrn.

Ein neuer, wichtiger Gegenstand! Das Wort Gottes sind die Offenbarungen Gottes durch die Propheten und Apostel, welche in der heiligen Schrift enthalten sind; die Kirche ist die Gemeinde der Gläubigen, in welcher das Wort Gottes lauter und rein gepredigt und die Sacramente nach Christi Einsetzung verwaltet werden. Indem wir das Verhältniß beider zu einander erfassen wollen, müssen wir sowohl das Gleiche als das Unterscheidende zwischen ihnen erwägen.

Was ist das Gleiche, worin Wort und Kirche übereinstimmen?

Zunächst sind Beide göttlichen Ursprungs; denn es ist nie eine Offenbarung aus menschlichem Willen her vorgebracht, sondern die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben vom heiligen Geist, und die Kirche würde nicht in der Bibel bald die Braut Christi, bald der Leib Christi, bald die Heerde Christi, bald das Haus und der Tempel Gottes heißen, wenn sie nicht am ersten christlichen Pfingstfeste durch die Ausgießung des Heiligen Geistes über die Apostel unmittelbar von Gott wäre gegründet worden. - Sodann bedürfen Beide zu ihrer Erhaltung und Wirkung des Heiligen Geistes. Das Wort ohne den heiligen Geist wäre ein todter Buchstabe, blos für's Auge und Ohr berechnet, aber nicht in's Herz dringend und das Leben erneuernd, und die Kirche, des Heiligen Geistes beraubt, würde sofort dem eigenen Geiste oder einem herrschenden Zeitgeiste oder einer herrschenden Philosophie anheim fallen, wenn nicht gar vom Weltgeiste durchdrungen und gänzlich verweltlicht werden, wie dies leider nicht selten geschehen ist. - Nicht minder bedürfen Beide aber auch offener und empfänglicher Herzen, um ihre gesegnete Wirksamkeit vollbringen zu können. Wie soll der ausgestreute Saamen des göttlichen Wortes reifen und Frucht bringen, wenn er auf Herzen fällt, die dem harten Wege oder dem felsigen Boden oder dem mit Unkraut überwachsenen Acker gleichen? Nur in einem feinen, guten Herzen kann er Frucht bringen in Geduld. Und wie soll die Kirche mit ihren Anstalten, Einrichtungen und Gnadenmitteln Erfolg haben, wenn ihre eigenen Glieder entweder gleichgültig gegen sie gesinnt sind oder im offenen Unglauben feindselig gegen sie auftreten? Beide sind Gnadenmittel, welche die Gnade Gottes durch den heiligen Geist den menschlichen Herzen zuwenden, sobald Letztere sie haben wollen und nicht verschmähen. - Beide stehen ferner in gegenseitiger Beziehung zu einander, so daß das Eine des Andern bedarf und ohne dasselbe nicht sein und wirken kann. Wort ohne Kirche oder Bibellesen ohne kirchliche Anleitung und Unterricht führt zu lauter subjectiven, einseitigen Ansichten und Anschauungen, Irrlehren und Irrthümern und ist die Mutter aller Secten und Partheiungen. Kirche ohne Wort dagegen bildet, wie die Geschichte lehrt, priesterliche Hierarchie und Pabstthum. Nur wenn die Kirche sich unter das Wort beugt, mit dem Worte Hand in Hand geht und in dem Worte Gottes lebt, verschwindet von selbst der übertriebene Standesbegriff der römischen, sowie der übertriebene Amtsbegriff der lutherischen Kirche; denn das Neue Testament ist der Tod jedes Priesterstandes und erklärt alle gläubige Christen für Priester, so wie es andrerseits den Dienern am Worte Gottes erklärt, daß sie nicht Herren des Glaubens ihrer Gemeinde, sondern nur Gehülfen ihrer Freude sein sollen. - Beide haben einen Zweck und eine Aufgabe, den Ausbau und Weiterbau des Reiches Gottes auf Erden, bis das Evangelium vom Reich wird gepredigt sein unter allen Völkern und Alles wird eine Heerde unter einem Hirten geworden sein; nur daß das Wort Gottes bei diesem großen und heiligen Werk mehr die Marien-, die Kirche mehr die Martha-Dienste richtet. - Beide endlich haben die göttliche Verheißung ihrer ewigen Dauer. Vom Worte Gottes verheißt Jesus selbst: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht“ (Luc. 21, 33.) und sein Apostel Petrus: „Des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit, das ist aber das Wort, welches unter Euch verkündigt ist“ (1. Petr. I, 25). Es kann somit das Wort Gottes von den Menschen wohl verachtet und verworfen, aber niemals vernichtet werden, sondern wird zuletzt den Sieg behalten über seine Feinde und eine Macht bleiben zum Fluch und zum Segen, so lange es einen Gott giebt, der sich geoffenbaret hat. Von der Kirche aber verkündigt der Herr seinem Apostel: „Du bist Petrus, d. h. der Fels um deines Glaubens an meine Gottheit willen, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen“ (Match. 16, 18). Jener Waldenser, der zum Scheiterhaufen geführt wurde, um für seinen Glauben den Märtyrertod zu erdulden, hatte Recht, als er auf demselben, zwei Steine in der Hand haltend, sprach: Wenn ich diese Steine werde gegessen haben, werdet ihr das Ende des Glaubens sehen, um dessenwillen ihr mich tödtet.

Wie gleich aber auch Wort und Kirche in allen diesen Stücken sind, ebenso verschieden sind sie von einander in anderer Beziehung. Zunächst schon darin, daß das Wort Gottes inspirirt, d. h. vom heiligen Geiste eingegeben ist, und die heiligen Apostel es unter der besonderen Leitung und Mittheilung des Heiligen Geistes geschrieben haben; und diese Inspiration ist bei ihnen eine unbegrenzte, eine vollendete, eine ursprüngliche und eine auf Form und Inhalt sich beziehende gewesen. Die Kirche dagegen ist nur erleuchtet vom heiligen Geist, und selbst diese Erleuchtung ist eine begrenzte, weil sie an die Uebereinstimmung mit der Schrift gebunden ist, eine allmählich sich entwickelnde, eine abgeleitete und eine nur auf den Inhalt der Lehre bezügliche. Dies ist aber ein Unterschied, so wesentlich, wie der auf dem Sprachgebiet zwischen Poesie und Prosa und der auf dem Gebiet der menschlichen Bildung zwischen außerordentlicher Begeisterung und gewöhnlicher geistiger Entwickelung. - Die Folge davon ist, daß das Wort Gottes schlechterdings unfehlbar ist und in göttlichen Dingen niemals irren kann; wie Jesus den Aposteln verheißen, daß der Heilige Geist, der Geist der Wahrheit, sie in alle Wahrheit leiten, sie treu erinnern solle an das, was Er ihnen gesagt habe, so daß, wer fortan sie höre, Ihn selber höre, und Paulus in seinen Abschiedsworten an die Nettesten von Ephesus zu ihnen sprechen konnte: „Ich befehle Euch Gott und dem Wort seiner Gnade, der da mächtig ist. Euch Hu erbauen und zu geben das Erbe sammt Allen, die geheiligt werden“ (Ap. 20, 32). Die Kirche dagegen ist nicht unfehlbar, sie kann nicht nur irren, sie hat auch oft geirrt: wie oft haben Päpste und Kirchenversammlungen sich widersprochen, sich gegenseitig verflucht und in den Bann gethan! wie hätten sonst jemals so viele Secten und Partheien entstehen können, von denen jede behauptet, sie habe die Wahrheit, während doch nur Eine unter ihnen sie wirklich besitzen kann! - Das Wort Gottes reinigt den Menschen innerlich und von innen heraus, indem es ihn erleuchtet, erweckt, bekehrt, zu einer neuen Creatur macht. „Ihr seid rein um des Wortes willen, das ich zu Euch geredet habe,“ spricht der Herr (Joh. 15, 3.) und jemehr dieser Brunnen gebraucht wird, desto mehr giebt er Wasser. Die Kirche dagegen bessert die Menschen mehr von außen nach innen durch ihre Kirchenzucht, ihre Kirchenordnungen und Verfassungen und hält dadurch die Ausbrüche der bösen Lust bei ihnen in Schranken. Das Wort Gottes macht demnach die Menschen christlich, die Kirche kirchlich. - Das Wort Gottes ist ferner überall eins und dasselbe, immer dieselben Evangelien und Episteln in allen Kirchen und Confessionen; die Kirche dagegen ist nicht eine, sondern gehet in ihrer sichtbaren Erscheinung in verschiedene Kirchen auseinander, gerade wie es verschiedene Planeten, Monde und Kometen am Himmel giebt, die sich alle um die Sonne drehen und jeder Einzelne doch wiederum sich um seine eigene Are dreht, um allseitig dem Lichte seine Theile zuzuwenden. Jede Kirche geht ihre Bahn und hat ihre besondere Stellung zur gemeinsamen Sonne der Gerechtigkeit, welche ist Christus; die eine steht ihr näher, die andere ferner; die eine hat mehr Christum für uns, die andere mehr Christum in uns; aber keine einzige ist ohne Ihn und sein Licht und Leben. - Von dem Worte Gottes kann man daher sagen, es mache den Menschen selig; Paulus schreibt an Timotheus: „Weil du von Kind auf die Heilige Schrift weißt, kann dich dieselbige unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Christo Jesu,“ und: „Habe Acht auf dich selbst und auf die Lehre; denn wo du solches thust, wirst du dich selbst selig machen und die dich hören.“ Aber keine Kirche hat das Recht, sich die seligmachende oder gar die alleinseligmachende zu neunen; wie denn kein Mensch und auch keine Kirche irgend Einen selig sprechen oder verdammen kann, sondern Jesus Christus allein der Richter der Lebendigen und der Todten und der Seligmacher der Menschen ist, von Christo allein, und von keiner Kirche, es heißt: „Es ist in keinem andern Heil, auch kein anderer Name den Menschen gegeben, durch den sie sollen selig werden,“ und der Glaube an Ihn allein selig macht, der Unglaube an Ihn allein verdammt.

Indem auf diese Weise Wort und Kirche sich gegenseitig voraussetzen und bedingen, haben sie sich auch allezeit Eines dein Andern in der Geschichte die wesentlichsten Dienste geleistet, und es ist im höchsten Grade lehrreich und interessant, diese gegenseitigen Handreichungen in der Liebe zu verfolgen. Zuerst hat offenbar das Wort Gottes die Kirche gegründet und gebildet; denn auf, die mündliche Predigt des Apostels Petrus vom Gekreuzigten und Auferstandenen am Pfingstfeste traten 3000 Juden zu Jerusalem zum Christenthum über, ließen sich taufen und bildeten die erste christliche Muttergemeinde auf Erden. Darauf setzten die Apostel diese mündliche Predigt des Evangeliums von Antiochien aus fort durch das Morgenland und später von Rom aus weiter durch das Abendland, bis endlich nach vielen blutigen Verfolgungen und unzähligen Märtyrertoden unter dem Kaiser Konstantin die christliche Religion die alleinherrschende im römischen Reich geworden war und die Kirche Christi festen Fuß gefaßt hatte. - Nun diente wieder die Kirche dem Worte Gottes, und zwar in doppelter Beziehung. Einmal stellte sie den Canon des neuen Testamentes zusammen, indem sie die damals neben den acht apostolischen Schriften vielfach und weit verbreiteten falschen, apokryphischen, bestimmten Aposteln aber, wie z. B. dem Jacobus, dem Thomas untergeschobenen Evangelien und andere Bücher von jenen sonderte, mit scharfer Kritik die Aechtheit jener und die Unächtheit dieser für immer feststellte, und durch ihr Zeugniß den überwältigenden Eindruck wiedergab, den das reine Gotteswort auf sie gemacht hatte und machen mußte. Sodann entwickelte sie, je nach dem entstandenen Bedürfniß und den erwachenden Irrlehren, die reine Lehre der heiligen Schrift in ihren verschiedenen Bekenntnissen, dem apostolischen, nicäischen und athanasianischen; zuerst die Lehren von Christo, seiner Gottheit, seiner göttlichen und menschlichen Natur, seinem göttlichen und menschlichen Willen; sodann die Lehre vom Menschen und seinem Verhältnis; zur göttlichen Gnade, inwieweit er dabei mitwirkend ist oder nicht. - Wie aber im Laufe der ersten Jahrhunderte die acht apostolischen Schriften des neuen Testamentes durch die unächten, unapostolischen und untergeschobenen verfälscht zu werden drohten, so schlichen sich in den späteren Jahrhunderten allmählich willkürliche Menschensatzungen und bestimmte Abweichungen von der Lehre des Wortes Gottes in die Kirche ein, und es mußte nun wieder eine Sonderung und Reinigung in der Kirchenlehre vorgenommen werden. Diesen Liebesdienst erwies der Kirche vom 13. Jahrhundert an das göttliche Wort. Wo die Bibel hinkam und gelesen wurde, öffnete sie den irregeführten und geknechteten Menschen das Auge und machte die in Priesterknechtschaft und Menschensatzungen aller Art erstarrte und erstorbene Christenheit wieder lebendig. Was für ein Feuer entbrannte durch das Lesen der heiligen Schrift in Süd-Frankreich unter den Waldensern! Es gab unter ihnen Bauern, die das ganze Neue Testament auswendig wußten; jeder Knabe hatte von ihrem Glauben einen. deutlichen Begriff. Ein Mönch, der ausgesandt worden war, um sie wieder zur römischen Kirche zu bringen, kam betreten zurück und bekannte, in seinem Leben habe er nicht soviel aus der Schrift erfahren, als in den wenigen Tagen, seit er sich mit diesen Ketzern unterredet hätte. Gelehrte und berühmte Leute, die man zu ihnen sandte, um sie zu widerlegen, erklärten, die Kinder in den Catechisationen hätten sie beschämt gemacht. Einer der Untersuchungsrichter, ein Dominicaner, giebt ihrem Wandel folgendes herrliches Zeugniß: „Sie vermeiden Handlungsgeschäfte, um nichts mit Betrug und Falschheit zu thun zu haben. Sie suchen nicht Reichthümer zu sammeln, sondern sind mit der Nothdurft des Lebens zufrieden; sie sind keusch, mäßig und nüchtern und nehmen sich vor dem Zorne in Acht. Man hört unter ihnen kein Schwören, keine Gotteslästerung, keine Possen; in allen ihren bürgerlichen Pflichten sind sie höchst gewissenhaft und pünktlich, in der Erziehung ihrer Kinder sorgfältig und ernst, und strenge gegen die Vergnügungen der Welt.“ Was die Waldenser und Johann Huß begonnen, vollendeten die Reformatoren, Luther, Zwingli und Calvin. Sie gaben der Kirche das Wort Gottes wieder und mit demselben die reine apostolische Wahrheit, und wo die ins Deutsche übersetzten Bibeln in unserem Vaterlande Eingang fanden, da fing es wieder an zu gähren und zu rumoren; die evangelische Kirche war gegründet. - Kaum aber hatte sie Anerkennung und Eingang gefunden in unserem Volke, als auch unsere Fürsten und Theologen wieder, wie in früheren Zeiten, ihr gemeinsames Glaubensbekenntniß aufstellten und dasselbe im Jahre 1530 in Augsburg dem Kaiser übergaben; denn Wort und Bekenntniß lassen sich einmal nicht von einander trennen, sie verhalten sich zu einander wie Gold und geprägtes Gold, sie sind Beide ein Anderes und doch Beide ein und dasselbe, und werden in jedem Feuer der Trübsal sich aufs neue bewähren. - Und was hat sich in unseren Tagen, in diesem Jahrhundert, in unserer eigenen Mitte zugetragen? Als vor 50 Jahren der heldenmütige Befreiungskrieg unser Vaterland von dem Joch der Fremden erlöste und ein neues Glaubensleben in der Kirche erwachte, Alte und Junge in den Betstunden der geöffneten Kirchen die Hilfe des allmächtigen Gottes zum Siege erflehten, da entstanden in der also verjüngten und neubelebten evangelischen Kirche die verschiedenen Bibelgesellschaften, um das Wort Gottes Jedermann, auch dem Aermsten und Verkommensten, zugänglich zu machen, und wir werden eben deshalb in diesem Jahre am 31. October das 50jährige Jubelfest unserer Haupt-Bibelgesellschaft im ganzen Lande begehen. Zwei und eine halbe Million Bibeln hat sie allein bereits verbreitet, und wenn diese Zahlen auch verschwinden gegenüber der unermeßlichen Wirksamkeit der britischen Haupt-Bibelgesellschaft, welche im Jahre 1862 allein zwei Millionen Bibeln verbreitet hat, und in den 50 Jahren ihres Bestehens über 43 Millionen, so ist doch auch dadurch manchem Bedürfniß abgeholfen und das Wort Gottes in tausende von Häusern und Hütten gebracht worden, welche es ohne diese Gesellschaft nimmermehr erlangt hätten. Kaum aber waren vor 50 Jahren die Bibelgesellschaften gegründet, da weckten sie durch den klaren Befehl des Herrn: „Gehet hin in alle Welt, und lehret alle Völker, und taufet sie in dem Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehret sie halten Alles, was ich Euch befohlen habe,“ und die Verordnung: „Bittet den Herrn, daß Er Arbeiter in seine Ernte sende, denn die Ernte ist groß und der Arbeiter sind wenige,“ einen Missionsgeist und Missionssinn in der Kirche, wie er vorher noch nie dagewesen war, und es erblühten allüberall Missions-Anstalten und Vereine und sind Tausende von Missionaren ausgegangen in die entferntesten Länder der Heiden, um dem Herrn Jesu die Herzen und die Welt zu erobern und sein Reich auszubreiten bis an das Ende der Erde.

Wollten wir fragen, Geliebte: welches von beiden höher steht, das Wort Gottes oder die Kirche? so können wir nur antworten: Beide verhalten sich zu einander wie zwei Geschwister, von denen das Wort Gottes die ältere, die Kirche die jüngere Schwester ist. Die ältere ist natürlich mehr ausgewachsen und vollkommener entwickelt als die jüngere: demnach ist das Wort Gottes auch reiner und vollkommener als die Kirche; die Bibel nennt die Befehle und Gesetze des Herrn im 19. Psalm ohne Wandel, gewiß, richtig, lauter, rein und wahrhaftig, Worte, welche die Seele erquicken, das Herz erfreuen, die Augen erleuchten, die Albernen weise machen, allesammt gerecht sind und ewiglich bleiben, und sagt, sie seien köstlicher denn Gold und viel feines Gold und süßer denn Honig und Honigseim. Die Kirche dagegen ist unvollkommen, hat ihre Flecken und Mängel, ihre todten Glieder, ihre Heuchler und Maulchristen, viel Unkraut unter dem Weitzen, und bedarf fortwährend der Reinigung und Erleuchtung von oben, damit sie werde, was sie sein soll, die Schule, in der Christus lehrt,„ das Haus, in dem Er die Gäste speiset und zwar mit seinem Herzblut und seinem eigenen Leibe, die neue Schöpfung, die Christus in's Dasein rufen will, indem Er durch Wasser und den heiligen Geist die Menschen neu gebiert, oder wie Luther von der Kirche sagt, sie ist Gottes Paradies und Lustgarten, gezieret mit allen seinen Gaben, und hat seinen unaussprechlichen Schatz, das liebe Wort und die heiligen Sakramente, damit sie unterweiset, regieret, erquicket, tröstet seine Heerde. Die ältere Schwester erzieht die jüngere: so ist auch das Wort Gottes allezeit und allein die Norm und Richtschnur alles kirchlichen Glaubens und Lebens, die Diener der Kirche, namentlich der Kirche des lauteren Wortes Gottes, wie unsere evangelische Kirche genannt wird, sind Diener des Wortes oder am Worte, und muß jede Lehre in der Kirche nach dem göttlichen Worte beurtheilt werden, ob sie richtig oder falsch ist; je mehr sie mit dem göttlichen Worte übereinstimmt, desto wahrer ist sie, je weniger sie mit demselben übereinstimmt, desto weniger Anspruch hat sie aus Glauben und Anerkennung; das Wort Gottes erzieht sich daher die Kirche, nicht blos in Städten und Ländern, sondern auch in Häusern und Herzen; wo irgend Leben des Heiligen Geistes erwacht, da hat es sein Dasein, seinen Umfang, seine Blüthe, seine köstliche Frucht dem Worte oder dem heiligen Geiste im Worte zu verdanken. Im Nothfall kann man daher wohl der Kirche, aber niemals des göttlichen Wortes entbehren. Laßt mich Euch zum Beleg nur eine Geschichte mittheilen: Eines Tages erblickte ein Wandersmann von der vorüberführenden Landstraße her eine öde Hütte und nahte sich derselben, um sich einen Trunk frischen Wassers zu erbitten. Beim Hereintritt in die Stube traf er die Eheleute unter Fluchen und Toben in wildem Gezänk begriffen, die halbnackten Kinder zitternd in einem Winkel zusammengedrängt, und wohin er die Blicke richtete, nur Spuren der tiefsten leiblichen und sittlichen Verkommenheit und Zerrüttung. Der Fremdling entbot den Hadernden seinen Gruß und ermahnte sie zur Eintracht und zum Frieden. „Lieben Leute, sprach er, wie macht ihr euch doch das Haus zur Hölle;“ erhielt aber von dem Hausherrn zur Antwort: „Ach Herr, ihr kennt des armen Mannes Stand und Leben nicht; wo beim besten Willen täglich Alles nur hinter sich geht, und Einem der saure Tagelöhnerschweiß oft nicht einmal die Schnitte trockenen Brotes abwirft, da wachsen Hader, Verdruß und Verzweiflung von selber auf wie Pilze.“ Der Wanderer trank das Wasser, das Man ihm in einem zerbrochenen Kruge dargereicht, und sprach dann scheidend, nachdem er im staubigen Winkel des Gesimses eine alte Bibel wahrgenommen: „Hört, Leute, ich wüßte wohl, was eurem Hauswesen wieder auf die Beine helfen könnte. Es liegt ein Schatz verborgen in eurer Hütte, danach sucht. Wißt ihr den zu finden, recht anzulegen und klüglich zu verwalten, so werdet ihr in Kurzem so reich und glücklich sein, daß es euch nie mehr einfallen wird, irgend Jemanden in der Welt, er sei auch, was er wolle, zu beneiden.“ Er sprach's und zog darauf seine Straße weiter. Anfangs hatten die Leute dieses Wort, das ihnen ein Scherz gedäucht, wenig beachtet; aber bald hub es an, ihnen, ob sie sich's auch nicht gestehen wollten, im Kopf herumzugehen. Wenn die Frau, um Holz zu lesen, im Walde war, gab sich der Mann im Hause herum an's Suchen und Klopfen, ja an's Graben und Brechen gar. War der Mann auf Tagelohn hinaus, so that die Frau desgleichen. Indeß sie fanden Nichts und immer reichlicher nisteten die schwarzen Raben des Verdrusses, des Unmuths, der Bitterkeit und des Haders in dem wuchernden Dornengebüsch der wachsenden Armuth. Eines Tages, da die Frau wieder allein zu Hause war, bewegte sich aufs Neue lebendiger als je die Frage in ihrem Herzen, was doch der fremde Mann mit der Rede vom verborgenen Schatze habe sagen wollen. Unwillkürlich läßt sie ihre Augen hierhin und dorthin schweifen. Da fällt ihr Blick auf das alte Bibelbuch im Winkel, ein Erbstück ihrer seligen Mutter, aber seit der Mutter Tode nicht mehr aufgethan. Sofort zuckt ein leises, wunderbares Ahnen durch ihr Herz, es möchte auf dieses Buch der Fremdling neulich hingedeutet haben. Sie holt's herunter von dem Schüsselbrett, schlägt's auf und findet vor dem Titelblatt geschrieben von ihrer Mutter Hand den Ausspruch des Psalmisten: „Das Wort Deines Mundes ist mir lieber als viele tausend Stücke Gold und Silber“ (Ps. 119, 72., - 19, 11.). Das fällt ihr auf's Herz. „Ja,“ denkt sie, „das mag er sein, der Schatz, den der Wandersmann im Auge hatte.“ Sie liest in dem alten Buche, und Wort für Wort trifft sie, wie so noch nie Etwas sie getroffen. Ach, ihre Thränen fließen auf die Blätter. Sie muß täglich hinfort in diesem Buche lesen, sie betet, sie lehrt die Kindlein beten; aber Alles im Geheimen und ohne noch ihrem Manne davon zu sagen. Eines Tages kommt der letztere nach Hause, tobt in gewohnter Weise und flucht, zankt und wüthet. Sie schilt nicht wieder, sie grüßt ihn freundlich. Er stutzt, er steht beschämt, da spricht sie: „Mann, wir haben uns schwer versündigt, wir verschulden unser Elend selbst, wir müssen auf einen andern Weg.“ Der Mann sieht sie befremdet an und fragt: Wie kommst du doch zu solchen Reden? Da steht sie auf und holt das alte Buch und spricht mit Schluchzen: „Da ist der Schatz, ich habe ihn gefunden!“ Der Hausherr setzt sich schweigend auf die Bank. Die Frau beginnt zu lesen, Geschichten von dem Herrn Jesu, und wie Er die Sünder so freundlich angenommen und errettet habe. Dem Mann steigt das Herz zur Brust empor. O, wie er sich zusammennehmen muß und die Lippen sich zerbeißt! Und doch muß sie wieder lesen den andern Tag und alle alle Tage wieder, und er sitzt mit den Kindlein um den Tisch herum, und Alle o wie fein aufmerksam, andächtig und stille! Lassen wir sie.. Ein Jahr war verflossen, da kommt der Wandersmann desselbigen Weges wieder. „Sieh,“ denkt er, „da ist die öde Hütte. Sprich einmal wieder zu, und schaue, wie es jetzt darinnen hergeht.“ Gesagt, gethan. Aber beim Hereintritt schon kennt er sie kaum wieder, so reinlich sieht ihn Alles an, so wohlgeordnet. Er öffnet die Stubenthür, und wie ihm die Hausleute hier entgegentraten, meint er Anfangs, es könnten dieselben nicht sein, die er damals angetroffen, so sauber, so freundlich schreiten sie auf ihn zu, und der Friede Gottes strahlt aus ihren Zügen. „Nun,“ fragt er, „wie steht's denn jetzt mit euch, ihr guten Leute?“ Da erkennen sie den Fremdling erst, und reichen ihm mit freundlichem Blick die Hand und können im ersten Momente – die Thränen erstickten ihre Stimme - nichts Anderes sagen, als: „Dank, Dank euch, lieber Herr, wir haben euren Schatz gefunden! Nun wohnt der Segen Gottes in unserm Hause, sein Friede in unserm Herzen.“ So sagten sie. Ihr ganzes Wesen aber und die heitern Angesichter der zwar nicht reich, aber sauber gekleideten Kindlein sagten ein Weiteres.

Das letztemal haben wir die Heilige Schrift mit dem Sternenhimmel verglichen und sie eben so reich, so glänzend, so erhebend gefunden, wie das Weltenmeer über unseren Häuptern. Ist sie das, so ist die Kirche die Sternwarte, von welcher aus wir den Himmel beobachten. Je fester und vom Geräusch der Welt entfernter eine Sternwarte ist, desto sicherer ist die Beobachtung. Das heißt also: je stiller und gesammelter wir im Kämmerlein uns mit der heiligen Schrift beschäftigen, desto tiefer werden wir eindringen in ihre Wunder und Geheimnisse. Keine Sternwarte ohne Fernrohr, und mit seiner Schärfe und Klarheit wächst die Fülle und Herrlichkeit der Beobachtung: was ist das Fernrohr, mit welchem wir die Sterne der heiligen Schrift erspähen? Es ist die Rechtfertigung des Sünders vor Gott durch den Glauben an Christum. Diese Lehre und Erfahrung ist das Hauptstück im christlichen Wesen, der höchste und fürnehmste Artikel der ganzen christlichen Lehre, wie Melanchthon sagt, welcher auch zu klarem und richtigem Verstand der ganzen heiligen Schrift fürnehmlich dienet und zu dem unaussprechlichen Schatz und dem rechten Erkenntniß Christi allein den Weg weiset, auch in die ganze Bibel allein die Thüre aufthut, ohne welchen auch kein arm Gewissen einen rechten, beständigen, gewissen Trost haben, oder die Reichthümer der Gnaden Christi erkennen mag. Haben wir die Rechtfertigung durch den Glauben an Christum an uns erfahren, dann ist uns das Verständniß aller andern Schriftwahrheiten aufgethan und alle Lehren derselben von Gott, von dem Menschen, von der Sünde, von der Person und dem Werke Christi, von dem Werke des Heiligen Geistes, wie Tod, Gericht und Ewigkeit erhalten nun von diesem Mittelpunkte aus ihr rechtes Licht und ihre eigentliche Bedeutung. Natürlich muß das Fernrohr, wenn es richtig weisen soll, von einem Sachkundigen richtig gestellt werden: dieser Sachkundige in göttlichen Dingen ist der Heilige Geist, der das Werk der Rechtfertigung in uns vollbringt. Um durch das Fernrohr aber richtig zu sehen, muß man auch ein gesundes, klares Auge besitzen: dieses klare Auge ist das bußfertige Herz, denn die Buße allein lehrt den Menschen sich selbst erkennen und wahr und klar werden vor sich selber. Ist das Auge indeß matt und trübe geworden, so giebt es ja Augenwasser genug, um es zu erfrischen und zu stärken: das wunderbare Augenwasser der Seele ist das Gebet. Je mehr wir mit einem betenden, bußfertigen und gläubigen Herzen in die Schrift hineinschauen, desto reicher ist unsere Ausbeute für Herz und Leben.

Lasset uns denn beides hoch und werth halten, das Wort Gottes und die Kirche des Herrn! Lasset uns zu unserer evangelischen Kirche und zu dem in ihr waltenden heiligen Geiste immer mehr Vertrauen fassen, wie ein Kind zur Mutter; sie ist ja unsere geistliche Mutter! Lasset uns mit immer größerer Treue ihr anhangen und diese Treue in unserem Bekenntnisse zu ihr, in unserem Eifer für sie, in dem gewissenhaften Gebrauch ihrer Gnadenmittel an den Tag legen! Lasset uns insbesondere für unsere theure Kirche inbrünstig beten: Herr, baue die Mauern Deines geistigen Zion, oder wie unsere Väter so oft sangen und beteten: Erhalt' uns, Herr, bei Deinem Wort, oder: Ach, Gott, vom Himmel sieh darein, oder: Ach, daß die Hülf' aus Zion käme, damit auch wir sagen können mit Paulo: Ich glaube, darum rede ich, oder wenn man uns fragt: welcher Kirche gehörst du an? wir mit jenem alten Christen antworten mögen: mein Name ist „Christ“, mein Vorname „evangelisch“. Vor allen Dingen aber lasset die Heilige Schrift uns aneignen und uns viel mit ihr beschäftigen. Während die Kirche Sonntags uns ihre Pforten öffnet, breitet sie alle Tage ihre Schätze vor uns aus. Aber laßt uns nicht zuviel auf einmal lesen; denn damit verderben es viele Christen, die darum keinen rechten Gewinn von ihrem Bibellesen haben. Allzuviel ist ungesund. Es kommt darauf an, daß wir die genossene Speise auch verdauen. Lasset uns also lieber mehr nachdenken über das, was wir lesen: nachdenken ist dasselbe in unserem geistigen Leben, was verdauen im leiblichen. Ein einziger Vers in der heiligen Schrift, wohlverstanden und überlegt, fördert uns mehr als ein Capitel oder ein ganzes Buch flüchtig und ohne Nachdenken durchgelesen. Wie werden wir uns dann freuen über jede neue Zunahme in unserer Erkenntniß oder unserer Heiligung! Wie werden wir, von dem Kleineren aufs Größere schließend, im Angesicht der heiligen Schrift einmal über das anderem ausrufen: giebst Du schon soviel auf Erden, was wird's erst im Himmel werden! Wie wird jedes Licht, das uns darin zu Theil wird, in uns die^ Ahnung steigern von der Klarheit, die uns vor Gottes Angesicht umfangen wird, wenn wir Ihn einmal schauen werden, wie Er ist, und die über alles Bitten und Verstehen sein wird! Bis dahin bleibe es unser Gebet aus tiefstem Herzensgrunde:

Dein Wort ist unsres Herzens Trutz
Und Deiner Kirche wahrer Schutz:
Dabei erhalt uns, lieber Herr,
Daß wir nichts andres suchen mehr,
Gieb, daß wir leben in Deinem Wort,
Und darauf ferner fahren fort
Von hinnen aus dem Jammerthal
Zu Dir in Deinen Himmelssaal. - Amen!

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