Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 21. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 21. Predigt

Am Bußtage.

Text: Matth. VI., V. 14.15.

Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.

Diese Worte bilden einen Zusatz zum Gebet des Herrn. Sie sollen der fünften Bitte: „Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!“ den rechten Nachdruck geben, und uns daran erinnern, daß all’ unser Gebet vergeblich sein würde, wenn wir den Menschen nicht auch ihre Beleidigungen vergeben wollten. Das ist das Wahrzeichen, ob wir Kinder Gottes sind und ob uns unsere Sünden vergeben werden. Ein Gebet aus unversöhnbarem Herzen ist Gott ein Gräuel; beten und hassen, um Vergebung flehen und nicht vergeben, ist ein so schreiender Widerspruch, daß er sich selbst vernichtet; Gott verlangt, daß wir heilige Hände zu Ihm aufheben ohne Zorn und ohne Zweifel. Aber auch das unversöhnte Herz selbst ist Gott ein Gräuel, und Er wird einst ein unbarmherziges Gericht ergehen lassen über alle diejenigen, welche nicht Barmherzigkeit gethan haben. Welch ein ernste Wort daher am Buß- und Bettage des Jahres: So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater euer Fehler auch nicht vergeben. An der einzelnen Sünde können wir unsere ganze Sündhaftigkeit inne werden, und so wollen wir denn gemeinsam die Unversöhnlichkeit als eine der schwersten Sünden 1) an Andern und 2) an uns selbst näher kennen lernen.

I.

Die Unversöhnlichkeit ist zunächst eine der schwersten Sünden an Andern, weil der Mensch, der seinen Brüdern nicht vergeben mag, sowohl seine Stellung zu ihnen verkennt, als seine Liebespflicht gegen sie auf’s Schreiendste verletzt.

Welches ist nämlich die Stellung, die wir gegen unsere Brüder einzunehmen haben? Offenbar die der Brüder gegen Brüder; die Stellung der Gleichheit, nie die der Unterordnung derselben unter uns. Nimmt aber wohl derjenige, welcher nicht vergiebt, noch vergeben will, diese Stellung zu seinen Mitbrüdern ein? Nimmermehr! er stellt sich im Gegentheil über sie, und maßt sich Rechte über sie an, die ihm gar nicht gegeben worden sind. Denn auf welche Weise offenbart sich die Unversöhnlichkeit? Entweder so, daß man sich thatsächlich an Andern rächt, oder daß man hinterrücks sie verläumdet, oder daß man wohl zu vergeben vorschützt, aber nicht vergessen kann. – Die Unversöhnlichkeit will sich rächen an dem, der sie beleidigt; sie will Böses ihm mit Bösem vergelten; sie will ihm schaden und wehe thun; sie will für seine Beleidigung ihn bestrafen. Aber wer von uns hat ein Recht, sich selbst an Andern zu rächen und sie wegen ihrer uns zugefügten Beleidigung zu bestrafen? Wohl hat es die Obrigkeit gegen ihre Unterthanen, wenn diese das ihr von Gott gegebene Ansehen verletzen; wohl haben es die Eltern gegen ihre Kinder, wenn diese nicht anders gebessert werden können, - denn sie sind Gottes Stellvertreter und verwalten in diesem ihrem Berufe Gottes Amt, der da spricht: „Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr.“ Gott allein hat das Recht, Menschen zu strafen, und die Menschen haben es nur, sofern und soweit Er es ihnen übertragen hat. Sonst aber besitzt es Niemand an und für sich, und es ist ein Eingriff in die Rechte Gottes, es ist ein offenbares Unrecht, das der Einzelne sich zu Schulden kommen läßt, wenn er, statt empfangene Beleidigung zu vergeben, sich rächen und sie bestrafen will; es ist eine völlige Verkennung der Stellung, die er gegen die Andern als eine Brüder einnimmt in dieser Welt. – Doch nicht immer geht die Unversöhnlichkeit geradezu auf Rache und Strafe aus; öfters lebt sie scheinbar in freundlichem Verkehrt mit dem Beleidiger, beredet sich, sie habe ihm vergeben, kann es aber nicht unterlassen, hinter seinem Rücken ihn zu verläumden, zu afterreden, über ihn zu spotten, in den geselligen Kreisen ihn zur Zielscheibe ihres Witzes zu machen. Wie? heißt das vergeben? Heißt das: Bitterkeit, Groll, kalte Stimmung gegen ihn unterdrücken? Heißt das: auch nur von fern her denken an das Wort: „Was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen auch?“ Gewiß nicht! – Noch verborgener und versteckter endlich offenbart sich die Unversöhnlichkeit des menschlichen Herzens darin, daß man sagt: Wohl habe ich ihm vergeben; aber vergessen kann ich es nicht, dazu hat er mich zu oft und zu empfindlich beleidigt. Was heißt denn vergeben anders, als den Nächsten so wieder lieben, wie man ihn lieben würde, wenn er uns nicht beleidigt hätte; ihn so lieben, als hätte er uns nicht beleidigt und wäre Alles beim Alten geblieben? Vergeben heißt nicht vernichten, das Geschehene ungeschehen machen. So vergiebt uns Gott. Er gedenkt unserer Uebertretungen in Ewigkeit nicht mehr; Er vertilgt sie wie den Nebel; Er senkt sie in die Tiefe des Meeres; Er vergißt. Ach, wenn Er nur vergeben, aber nicht vergessen wollte: was sollte aus uns armen Sündern werden? Wer daher sagt: „Vergeben will ich, aber vergessen kann ich’s nicht!“ der nimmt mit der linken Hand seinem Beleidiger wieder, was er mit der rechten ihm gab; der täuscht und belügt seinen Nächsten und dann zugleich sich selbst. Vergeben, ohne vergessen zu wollen, heißt: nicht vergeben wollen, die feindselige Stimmung absichtlich gegen den Andern nähren und ihm nachtragen das Böse, das er uns zugefügt hat. Mit dem Allen aber verkennen wir völlig unsere Stellung zu unsern Brüdern in der Welt, und machen Ansprüche an sie, die wir mit Nichts entschuldigen oder rechtfertigen können.

Der wahre Jünger Jesu Christi vergißt, was dahinten ist, weil er von den Gefühlen der Liebe gegen Andere zu sehr durchdrungen ist, als daß er irgend Etwas in seinem Gemüth oder Verfahren unterhalten könnte, was das freundliche, innige Verhältniß zu ihnen stört. Die Liebe glaubt Alles, hofft Alles, verträgt Alles, duldet Alles: wie sollte sie nicht vergeben? Die Liebe beurtheilt nachsichtsvoll die Fehltritte ihrer Nebenmenschen; sie kennt die Schwachheit des menschlichen Herzens; sie weiß, wie leicht ein Mensch bei nur irgend einiger Aufwallung und Erregbarkeit durch die Umstände zu Uebereilungen und Unbedachtsamkeiten fortgerissen werden kann, die er bei kühlerem Blute gewiß sich nicht hätte zu Schulden kommen lassen; sie sucht, was Böses geschehen ist, auf alle Weise zu entschuldigen, ihm die bestmöglichste Deutung zu geben, und überseiht gern den Splitter in den Augen Anderer, weil sie mit dem Balken im eigenen Auge genug zu thun hat: wie sollte sie nicht vergeben? Die Liebe nimmt auch die Beleidigungen als aus Gottes Hand an, und denkt mit David: „Laß ihn fluchen, der Herr hat’s ihm geheißen!“ – sie bemüht sich daher, aus dieser Prüfung so viel Nutzen zu ziehen wie möglich, sich im Christenthum durch sie zu fördern und die Absichten Gottes zu den ihrigen zu machen: wie sollte sie nicht vergeben? Der christlichen Liebe ist es Bedürfniß, mit allen Menschen, so viel an ihr ist, Friede zu halten, sich nicht erbittern zu lassen, nicht nach Schaden zu trachten, nicht das Eigene zu suchen, sondern das, was des Andern ist; sie findet nur im Glück des Andern ihr eigenes Glück; sie weiß es, daß Jeder in der Welt Beleidigungen zu erwarten hat, und daß Aergernisse kommen müssen: wie sollte sie nicht vergeben? Wahrlich, wer Unversöhnlichkeit nährt in seinem Herzen gegen Andere, wer da meint: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, vergeben will ich’s wohl, aber vergessen kann ich’s nicht!“ wer fortfährt, dem Beleidiger seine Beleidigungen zuzurechnen, sie ihm nachzutragen, durch bittern Vorwurf ihn zu quälen: der hat alle und jede christliche Liebe zu ihm verläugnet in seinem Herzen. Und ist das nicht eine schwere Sünde? Kann es eine schwerere geben in unserm Verhältniß zu Andern? Ist die Liebe nicht des Gesetzes Erfüllung, das Band aller Vollkommenheit, die Vereinigung der Seele mit Gott, der die Liebe ist, und das Eintreten in seine Fußtapfen? Dieses Gesetz vernichtet er, dieses Band zerreißt er, diese Aehnlichkeit mit Gott löscht er aus seinem Bilde.

II.

Die Unversöhnlichkeit ist zweitens eine schwere Sünde an uns selbst. Denn sie setzt Mangel an Selbsterkenntniß und Demuth voraus, und führt zu innerem Unfrieden und Unsegen.

Das kann Niemand in Abrede stellen, der nur einigermaßen Bescheid weiß auf dem Grunde seines Herzens, daß er ein Sünder ist vor Gott und Seiner Gnade täglich bedarf, wenn er nicht verloren gehen soll. Wie vielfach sind die Uebertretungen, die wir uns seit dem letzten Bußtage haben zu Schulden kommen lassen! Wie vielfach die Missethaten, die wir jeden Tag von Neuem in Gedanken, Worten und Werken, begehen! Wenn Gott anfinge, mit uns zu rechnen; Er, den der Schein nicht betrügt, weil Er Herzen und Nieren prüft, der alle Tage unseres Lebens auf Sein Buch geschrieben hat und mit Einem Gedanken alle unsere Monden und Stunden durchdenkt: könnten wir Ihm auf tausend Fragen auch nur ein Wort erwiedern? Sind wir ihm nicht schuldig geblieben die vollkommene Erfüllung aller Seiner Gebote, schuldig geblieben die wahre Heiligung des Herzens, die rechte Führung des ganzen Lebens, die treue Benutzung der Gnadenzeit, und die würdige Anwendung Seiner Gaben? Wenn Er einforderte unsere Schuld: könnten wir entfliehen Seiner Strafe? könnten wir je Ihm bezahlen die große Schuld des ganzen, langen Lebens? Nein; wir sind verloren, wenn Gott sie uns nicht gnädig erläßt! Leben können wir nur von Seiner Gnade; selig können wir nur werden, wenn Seine Geduld Nachsicht hat mit unsern Sünden und uns vergiebt alle unsere Missethaten. Nun wissen wir allerdings, daß Christus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, daß Er Sein Blut vergossen hat zur Vergebung unserer Sünden, daß Er das Heil ist der Verlorenen und der Trost der Sünder, und daß wir durch den Glauben an Ihn die ewige Seligkeit ererben sollen. Aber gerade Er ist es auch, der uns beten lehrt: „Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!“ Er ist es auch, der dies Gebet erläutert durch das furchtbare, Mark und Bein durchdringende Donnerwort des Textes: „So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.“ Er ist es auch, der das Gleichniß vom Schalksknecht vorträgt, welcher von seinem Herrn zehntausend Pfund, d.h. fünfzehn Millionen Thaler nach unserm Gelde, erlassen erhalten hatte, weil er darum bat; aber dann hinging und seinem Mitknecht, der ihm nur hundert Groschen, d.h. zwölf und einen halben Thaler, schuldig war und nicht bezahle konnte, hart und grausam in’s Gefängniß werfen ließ: zuletzt aber um seines unversöhnlichen Herzens willen selber in den Kerker abgeführt wurde, um nie wieder von dannen herauszukommen. Er knüpft also an die Vergebung, die wir an Andern üben, Gottes Vergebung gegen uns, und verlangt jene als Bürgschaft und Bewahrungsmittel des uns erwiesenen göttlichen Erbarmens. Wie? und wir wollten nicht vergeben? Wir beten täglich: „Vergieb uns unsere Schuld!“ und wollten nicht hinzusetzen; „wie wir vergeben unsern Schuldigern“? Gott vergiebt uns, so oft wir uns an Ihm vergehen, um Jesu Christi willen, siebenzig Mal sieben Mal, und wir wollten fragen, wenn wir vergeben: Herr, ist’s genug, sieben Mal? Haben wir uns lieb und wollen wir nicht muthwillig unsere durch Christum erworbene und im Glauben uns zugeeignete Seligkeit wieder verscherzen: dann kann gar kein Bedenken mehr in uns aufsteigen, ob wir sollen vergeben oder nicht. Und ob Fleisch und Blut auch sich regte und uns die Verzeihung schwer, ja unmöglich machte. wir kreuzigen unser Fleisch sammt den Lüsten und Begierden, und vergeben. Und ob uns die Beleidigung auch groß und unentschuldbar vorkäme: unsere Sünden gegen Gott sind doch noch größer, und mit nichts, mit gar nichts zu entschuldigen; wir vergeben. Und ob es uns eine Schwäche dünken wollte, wenn wir jedes harte Wort und jede unfreundliche Begegnung gegen unsern Beleidiger unterdrückten: wir denken an Gott, wie der dann der Schwächste sein müßte im Himmel und auf Erden, weil Niemand so viel vergiebt im Himmel und auf Erden, als Er; wir vergeben. Je häufiger wir verzeihen, je mehr es durch der Menschen Unrecht oder Bosheit erschwert wird, je mehr Selbstverläugnung es uns kostet: desto reicher wird der Quell der göttlichen Gnade niederfließen. Welch eine schwere Versündigung also gegen uns selbst, wenn wir lieber durch Rache Gottes Zorn und Strafe über uns ziehen, als durch Nachsicht und Schonung Seine Gnade erflehen!

Zumal da wir nicht nur der Vergebung und Gnade bei Gott bedürfen, sondern auch der Vergebung unserer Brüder. Ach, wären wir rein und schuldenfrei gegen sie: dann ließe sich noch einigermaßen ein Scheingrund für unser Verfahren herbeiziehen. Aber wo wäre der Mensch, der immer die Liebe gegen seine Brüder bewiese, die er ihnen schuldig ist? der sich nie eine Härte, ein unfreundliches Wort, eine übereilte That, einen unverdienten Vorwurf gegen sie hätte zu Schulden kommen lassen? Durchgehet eure Verhältnisse zu euren Eltern, Gatten, Geschwistern, Freunden, Nachbarn: und ihr müßt euch schuldig finden. Könntet ihr aber darüber leichtfertig hinweggehen, ohne daß das Schuldgefühl euch drückte? Müßt ihr nicht sehnlichst wünschen, daß sie euch nicht zurechnen mögen, was ihr ihnen gethan habt? Und wenn ihr das von ihnen wünscht, werdet ihr dann nicht gern dieselbe verzeihende Liebe denen erweisen, die euch gekränkt haben und eure verzeihende Liebe nunmehr in Anspruch nehmen? Oder wenn sie bereits euch vergeben haben: werdet ihr dann nicht gern die Freude über die euch widerfahrene Versöhnung auch Andern widerfahren lassen? O darum vergebet, so wird euch vergeben. Wer nicht vergiebt, schließt sich aus von Gottes und der Menschen Versöhnung, stößt die Hand der Liebe zurück, die sich ihm darbot, will lieber in Feindschaft, als in Frieden leben, und zieht vor die Unruhe eines bösen Gewissens den Seligkeiten eines wieder ausgesöhnten Herzens.

Und das ist doch einmal gewiß, daß Niemand hören kann von der Gesinnung der Unversöhnlichkeit, sie offenbare sich, bei wem und wo sie wolle, ohne sich im Innersten empört zu fühlen. Ein Versöhnung suchendes und bedürftiges Herz abzuweisen, die angebotene Friedenshand zurückzustoßen, ist das Grausamste und Unnatürlichste, was gedacht werden kann. Es ist etwas Teuflisches, aus der Hölle Kommendes, das darum im schneidendsten Widerspruche steht mit Allem, was Mensch und menschlich heißt und ist. Denn die größte Freude, die es auf Erden giebt, ist die Versöhnungsfreude. In dem Vergeben liegt etwas so heiliges, so himmlisch Süßes, so wahrhaft Göttliches, daß selbst ein Kind Gottes die Hälfte seiner Seligkeit auf Erden verlieren würde, wenn es nie eine Gelegenheit hätte, seinem Nächsten zu verzeihen. Es durchweht den Versöhnungsbereiter ein stilles Säuseln der Nähe des Herrn; er fühlt sich ein ganz Anderer; himmlischen Geistern fühlt er sich verwandt, und ein Friedensstrahl von der Seligkeit Deß, der die ewige Liebe ist, durchglüht und begeistert ihn. Sagt selbst, ihr, die ihr Eltern seid, ist es nicht eine eurer zartesten Elternfreuden und Elternsüßigkeiten, eurem fehlenden Kinde zu verzeihen? Und lehrt nicht die Erfahrung, daß oft zwischen dem, welcher vergiebt, und dem, welchem vergeben wird, ein geheimes feines Band der zartesten Zuneigung und Anhänglichkeit entsteht, das nun nie wieder reißen kann? Wem viel vergeben ist, der liebt viel, wem wenig vergeben ist, der liebt wenig, sagt der Herr. Um diese Seligkeit nun, um diese Perle in unserer Christenkrone, um diese Vorahnung des Himmels, um diesen Himmel auf Erden bringt sich der unversöhnliche Mensch, welchem das Vergeben bitter schmeckt und nicht Lust, sondern Pein ist, und verharrt in der Qual, welche die Erbitterung allemal hervorbringt.

Ach, wie peinvoll ist dieser Zustand! Wie ist der Rache Suchende gejagt und innerlich zerrissen von seiner Leidenschaft! Er meint, dem Andern zu schaden, und er schadet eigentlich nur sich selbst; denn er fügt zu den übrigen Uebeln, welche ihm der Bruder erwiesen hat, noch das hinzu, daß er ihn haßt, welches das größte von allen ist; welches nicht bloß nichtiger und vergänglicher Güter ihn beraubt, sondern welches seine Seele in das Verderbe stürzt. Er will sich an Andern rächen und er rächt sich eigentlich nur an sich selbst, und um sich wegen des mannichfaltigen Uebels zu trösten, das ihm der Bruder zugefügt hat, thut er sich eins an, das ohne Maß und Ziel ist. Er denkt, durch seinen Haß gegen den Bruder sich die Vortheile und Ehren wieder zu ersetzen, die Jener ihm genommen, und ach, er hat von seinem Haß und seiner Bitterkeit nichts Anderes, als eine bittere Last, die ihm auf dem Herzen liegt und den ganzen Ueberrest seines Lebens vergiftet. Von nun an hat alles Erfreuliche des Lebens für ihn seinen Werth verloren; die liebsten Güter und Genüsse sogar machen ihm keine Freude mehr. Er ißt und trinkt, er arbeitet und schläft; aber Alles wird ihm vergällt durch die innere Erbitterung. Er hört die freundliche Rede seiner Freunde, er sieht das unbefangene glückliche Gesicht seiner Kinder, aber weder das Eine, noch das Andere erquickt ihn mehr; er ist durch und durch ein unglücklicher und zerrissener Mensch. Jeder gute, jeder frohe Gedanke weicht vor dem finstern Gedanken der Rache, den die Hölle in ihm ausgesponnen hat. So oft er an seinen Feind und Beleidiger erinnert wird, so oft er seinen Namen hört, so oft er selbst ihm vor die Augen tritt: welch Wallen und Kochen erhebt sich da in seiner Brust! Und ist es nun gar ein Verwandter, ein Hausgenosse, ein Angehöriger, mit dem das tägliche Leben ihn oft in Berührung bringt; ist es nun gar der nächste Freund, der Gatte, Weib oder Kind: welch ein düsteres, unfreundliches Nebeneinandergehen! Jener grüßt: er wendet stumm das Angesicht von ihm ab. Jener fragt: er giebt eine kurze, kalte und heftige Antwort. Jener setzt sich mit ihm zu Tische: er wagt nicht, die Augen gegen ihn aufzuschlagen, hastig verschlingt er die dargereichten Bissen, und stürzt mit finstern Mienen und verhaltenen Seufzern wieder hinaus. Wollt ihr euch ein Bild davon machen, wie es einst in der Hölle hergehen wird, so betrachtet solche durch Unversöhnlichkeit und Bitterkeit voneinander gerissene Gemüther. Wohl sagt man bisweilen: „Die Rache ist süß!“ – Ja, sie ist süß, wie ein Gifttrank, der zuletzt um Gesundheit und Leben bringt. Denn hat der Unversöhnliche seinen Muth gekühlt: was hat er erreicht? Ach, er fühlt nun erst recht seine innere Nichtswürdigkeit, und – hat ihn nicht schon früher der unerträgliche Unfriede eines bösen Gewissens ergriffen, jetzt ergreift er ihn, packt ihn, reißt ihn mit sich fort in den Abgrund. Gewiß, wer in diesen Höllenqualen es aushalten kann Tag und Nacht, Wochen, Monate, Jahre, ein ganzes Leben hindurch: der muß ein Unmensch oder ein Mensch, reif zur Hölle, sein.

Und nun – wie weicht von ihm jeder Segen, den Gott ihm zugedacht hat, und verwandelt sich für ihn durch seine Schuld in Fluch! Er betet das Vater Unser; aber er betet es mit bösem Gewissen. So oft er an die Worte kommt: „Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!“ will es nicht mehr fort: er fühlt sich gestraft und verworfen; es faßt ihn Widerwille gegen das Gebet; er setzt es aus, - zuletzt betet er gar nicht mehr. Er liest in Gottes Wort, aber dahin ist jede Andacht, jede Erquickung, die er sonst beim Leben desselben in sich spürte; immer stört ihn der Gedanke an das Unrecht, das er erlitten, und an die Rache, die er nehmen muß. Wie ist mit Einemmale dasselbe Wort, das ihm sonst den Himmel auf Erden baute, so leer und kalt geworden! Ach, er legt es weg, und eilt zu andern Büchern und Beschäftigungen. Es kommt die Zeit, wo er zum Abendmahle zu gehen pflegte. Diesmal kann er nicht mehr zum Tische des Herrn gehen. Nein, es ist nicht möglich; er käme ja unwürdig, und nicht würdig; er genösse ja Gericht, und nicht Segen. Auf Augenblicke wird er da stutzig; er fühlt, daß das doch entsetzlich ist. er möchte hingehen zum Beleidiger, möchte ihm die Hand zur Versöhnung darbieten und alles Geschehene vergessen; aber – einige Augenblicke später, und er kann es nicht mehr; das Rachegefühl ist wieder lebendiger geworden, und er wirft sich auf’s Neue den bösen Geistern in die Arme. Der Bußtag kommt nun heran: er thut keine Buße. Geliebte Menschen sterben um ihn her: er denkt weder an seinen Tod, noch an die Bedingung zu einem seligen Ende. Krankheit ergreift ihn und wirft ihn nieder: er erschrickt; - aber die Krankheit geht vorüber, und es bleibt Alles beim Alten. Endlich stiert ihn der eigene Tod an. Lauter als sonst schlägt das Gewissen, mächtiger als sonst ertönt in ihm die Stimme der Wahrheit: jetzt, jetzt sieht er ein, wie schrecklich er gesündigt, wie wehe er dem Bruder, wie wehe er sich gethan, wie er um allen Segen des heiligen Abendmahls, um allen Segen seiner Schicksale und Führungen sich muthwillig und boshaft gebracht hat; jetzt möchte er widerrufen, abbitten, um Vergebung flehen; aber – es ist zu spät, sein Feind ist fern, sein Feind ist todt, es ist zu spät! - - O darum, ehe es zu spät ist, da es noch heute heißt, heute, heute falle das Wort unseres alleinigen Erlösers uns Allen centnerschwer auf die Seele: „ So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.“ Jenes Dahingehen und Sterben im Unfrieden ist der Beweis, daß uns Gott nicht vergeben hat. Wir konnten in solchem Zustande weder Seine Vergebung suchen, noch sie finden.

Geliebte, es ist nur eine Sünde unter vielen, von der wir heute geredet haben; aber eine schwere Sünde. Sie allein schon bringt uns um die Güter des Heils, die Jesus Christus durch Leiden und Sterben uns erworben, die Gott uns von Ewigkeit her bestimmt und aufbewahrt hat. Wie viel mehr scheiden uns und unsern Gott voneinander die übrigen Sünden unseres langen oder kurzen Lebens! Wie groß ist ihre Schaar, - wahrhaft unzählbar! Wie alt ist ihr Dasein: von Kindesbeinen an sind sie unsere Gefährten gewesen! Wie weit ist ihr Umfang; das ganze Herz mit seinen Gedanken, Gefühlen, Neigungen und Entschließungen ist von denselben vergiftet! Wie unabsehbar sind ihre entsetzlichen Folgen: Zeit und Ewigkeit liegen gebannt in ihrer Gewalt! O laßt uns Buße thun! Laßt uns sprechen: Heute gedenken wir an unsere Sünden. Laßt uns uns fragen, Jeder sich selbst: Was ist meine Lieblingssünde? habe ich sie als Sünde auch immer erkannt? und was habe ich gethan, um sie zu bekämpfen und zu beherrschen? Und da, da, an der Lieblingssünde, laßt uns den Vertilgungskrieg beginnen; gegen sie laßt uns unversöhnlich und unerbittlich sein; an ihr laßt uns Rache üben, sie laßt uns hassen und verfolgen bis zu dem letzten Hauch. Diese Rache ist erfolgreich; denn sie stellt in immer engere Gemeinschaft mit dem Herrn, und mit ihr können wir Thaten thun. Diese Rache ist süß; denn sie ist auf den rechten Feind gerichtet, auf den einzigen Feind, den es für uns giebt und der uns ewig schaden kann, auf unsere Sünde. Zu dieser süßen und erfolgreichen Rache denn gegen unsere Sünde entflamme und durchglühe uns von Neuem mit Himmelsgluth der heutige Tag. Er ist Jahres Buß- und Bettag: Bußtag, daß wir der Sünde absterben; Bettag, daß wir dem Herrn leben. So stehe denn Jeder hier mit Zöllnergebeten: dann wird er auch mit Zöllnersegen von dannen gehen. Amen.

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