Anselm von Canterbury - Gebet 6
Jesu Christe, du Wort des Vaters, der du in diese Welt gekommen bist die Sünder selig zu machen, ich bitte dich, du wollest um deiner gnadenreichen Barmherzigkeit willen mein Leben reinigen, meinen Wandel bessern, meine Sitten sänftigen, wollest von mir thun, was mir schadet und dir mißfällt, wollest mir geben, woran du Wohlgefallen hat und was mir frommt. Wer anders kann rein machen, was unreinem Samen entsprossen ist, denn du allein? Du, der allmächtige Gott, bist gut und fromm, du machst die Gottlosen gerecht und gibt Leben denen, die in Sünden todt sind, du wandelst um, die da sündig sind, daß sie es nicht mehr sind. Darum thue ab von mir, was dir mißfällt an mir; denn deine Augen sehen an mir viel Unvollkommenheit. Ach greife mit frommer Hand mitten in mich hinein, und nimm aus mir heraus. Alles, was in mir dein frommes Auge beleidigt. Du weißt, o Herr, was an mir gesund und was krank ist. Das Eine wollest du bewahren, das Andere aber gesunden lassen. „Heile du mich, Herr, je werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.“ Du bist es, der da heilet, was krank ist, und behütet, was gesund ist; du bist es, der mit Einem Winke wieder bauet, was in Schutt und Trümmern liegt. Willst du also auf deinen Acker, auf mein Herz guten Samen säen, so mußt du zuvor mit deiner frommen Hand das stachlichte Unkraut meiner Sünden ausreißen.
Du allersüßester, gnädigster, liebreichster Heiland, der du mir theurer und begehrenswerther bist, lieblicher und schöner däucht, denn Alles, ich bitte dich, ergieße in meine Brust die Fülle deiner süßen Liebe, auf daß ich nach nichts Irdischem und Fleischlichem mehr dichten und trachten, sondern allein dich lieben, allein dich in meinem Herzen und Munde haben möge. Schreibe mit deinem Finger tief in meine Brust hinein das süße Gedächtniß deines Namens, der von Milch und Honig fließt, auf daß ich einer nimmer vergessen könne. Schreibe auf die Tafel meines Herzens deinen Willen und deine Gerechtigkeit, die mich gerecht macht, auf daß ich dich, o Herr, deß Lieblichkeit alles Denken übersteigt, auf daß ich deine Worte und Befehle immer und allenthalben vor Augen habe. Entzünde meine Seele mit dem Feuer, das du auf Erden anzuzünden gekommen bist, und was wolltest du lieber, denn es brennete schon, auf daß ich dir täglich das mit Thränen gesalzene Opfer eines zerschlagenen Geistes und zerbrochenen Herzens darzu bringen vermöge.
Du lieber gütiger Herr Jesu, gib mir, was ich begehre, wornach ich von ganzer Seele verlange, gib mir deine heilige und keusche Liebe. Sie ist es, die mich ausfüllen, beherrschen und ganz in Besitz nehmen soll. Gib mir auch das deutliche Zeichen deiner Liebe, den reichen Strom unablässig fließender Thränen. Sie gerade bezeugen mir, daß ich dich lieb habe; das gerade verräth und verkündet, wie sehr meine Seele dich liebt, wenn sie im überschwänglich süßen Gefühl deiner Liebe sich der Thränen nicht enthalten kann. Ich gedenke, o frommer Gott, jener frommen Frau, der Hanna, die zu deinem Hause kam sich einen Sohn zu erbitten. Die Schrift sagt von ihr, daß vor lauter Thränen und Beten ihr Antlitz einen vorigen Ausdruck gar nicht habe wieder gewinnen können. Wenn ich an solche Gebetskraft und Gebetsbeharrlichkeit denke, so schmerzt es mich sehr und betrübt es mich tief, daß ich Armer, wie ich klar erkenne, nur allzu weit hinter ihr zurückbleibe. Denn wenn also weinte, unablässig weinte eine Frau, die nach einem Sohne Verlangen trug, wie sehr erst müßte Betrübniß, anhaltende Betrübniß empfinden meine Seele, die zu Gott Verlangen und Liebe trägt, die zu Gott zu kommen sich sehnt? Wie müßte seufzen und weinen eine Seele, die Tag und Nacht ihren Gott sucht, die nichts Anderes lieben will, als Christum allein? Es wäre ein Wunder, wenn nicht schon längst ihre Thränen ihre Speise geworden wären Tag und Nacht. Darum wende dich zu mir und erbarme dich meiner, weil der Schmerz meines Herzens so groß ist. Gib mir deinen himmlischen Trost, und verwirf nicht die sündige Seele, für die du gestorben bist. Ach gib mir die Thränen, die aus tiefbewegter Seele kommen, auf daß du die Bande meiner Sünde zerschneiden, und mich auf ewig mit himmlischer Wonne erfüllen könnest. Ach, daß ich würdig würde doch wenigstens mit den frommen Frauen in deinem Reiche mein bescheiden Erbtheil dahinzunehmen, wenn mir nicht vergönnt ist, mit den großen und vollkommenen Männern zu erben, weil ich ihren Fußtapfen nicht nachzufolgen vermag.
Noch tritt mir vor die Seele die staunenswerthe Frömmigkeit jener andern Frau, die, obschon du im Grabe lagst, dennoch in herzlicher Liebe dich suchte. Die Jünger flohen, sie aber wich nicht vom Grabe. Betrübt und traurig blieb sie dort sitzen und weinte lange und viel. Und wenn sie dann nach reichlich vergossenen Thränen aufstand, durchforschte sie immer wieder aufs neue aufmerksamen Auges die Tiefe deines leeren Grabes, ob sie nicht doch irgendwo dich wahrzunehmen vermöchte, den sie mit glühendem Verlangen suchte. Ja als sie schon aber und abermal in das Grab eingetreten war und sich umgeschaut hatte, geschah ihrer überaus großen Liebe damit doch noch kein Genüge. Die Hauptsache bei jeglichem guten Werke bleibt die Beharrlichkeit. Und weil sie mehr Liebe hatte, als die Andern, und weil sie vor Liebe weinte, und weil sie unter Thränen suchte, und weil sie im Suchen ausharrte, ist sie auch von Allen zuerst gewürdigt worden dich zu finden, dich zu sehen, dich anzureden. Und nicht allein das, sie erhielt auch das Amt, die erste Botschaft von deiner glorreichen Auferstehung den Jüngern zu bringen, da du ihr den Auftrag und die freundliche Mahnung gabst: „Gehe hin, und verkündige es meinen Brüdern, daß sie gehen in Galiläa, daselbst werden sie mich sehen.“ Wenn nun also weinte, anhaltend weinte eine Frau, die den Lebendigen bei den Todten suchte, die dich mit der Hand des Glaubens erst berührte, wie sehr muß betrübt, unablässig betrübt sein eine Seele, die im Herzen glaubt und mit dem Munde bekennt, daß du ihr Erlöser schon längst im Himmel thronest und Alles regierest? Wie sehr muß seufzen und weinen eine Seele, die von ganzem Herzen dich liebt und von ganzem Gemüthe sehnlich darnach verlangt dich zu sehen?
O Herr, du einige Zuflucht und Zuversicht der Elenden, dem kein Beter ohne gewisse Hoffnung auf Erbarmen naht, verleihe mir um deine und deines heiligen Namens willen die Gnade, daß ich, so oft ich über dich denke und rede, schreibe, lese und predige, so oft ich deiner gedenke, dir nahe trete, dir Preis und Bitte und Opfer bringe, so oft auch reiche und süße Thränen weinend vor deinem Antlitz stehe; ja, laß mir meine Thränen zur Speise werden Tag und Nacht. Hast du doch, du König der Herrlichkeit und Lehrmeister aller Tugenden, durch dein Wort und Beispiel uns seufzen und weinen gelehrt, denn du spricht: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ Du hast am Grabe deines Freundes geweint; du hast wie sehr geweint über die dem Untergange geweihte Stadt. Lieber Herr Jesu, so bitte ich dich denn um dieser deiner aller kostbarsten Thränen und um aller der Erbarmungen willen, mit denen du uns armen verlorenen Menschen so wundersam zu Hülfe kommen wolltest, gib mir die Gnadengabe der Thränen, nach der meine Seele so stark verlangt und begehrt. Kann ich sie doch nicht haben, ohne daß du sie mir gibst durch Wirken deines Heiligen Geistes, der die harten Herzen der Sünder weich und weinen macht. Gib mir die Gnadengabe der Thränen, wie du sie unsern Vätern gegeben hat, deren Fußtapfen ich nachfolgen soll, auf daß ich um mich Leid tragen möge mein Lebelang, wie jene über sich Leid trugen Tag und Nacht. Gib mir von den Wassern über der Veste und von den Wassern unter der Veste, daß meine Thränen meine Speise seien Tag und Nacht. Und also laß mich dir, mein Gott, im Feuer der Buße ein Opfer werden von Fett und Mark; ich müsse mich dir auf dem Altare meines Herzens zu einem ganzen Opfer bringen, als ein fettes Brandopfer brennen dir zu einem süßen Geruch. Gib mir, du freundlicher Herr, das reiche, klare Brünnlein, in dem jenes unreine Opfer ohn Unterlaß gereinigt werden muß. Aber wenn ich auch kraft deiner Gnade mich dir ganz darzubringen vermag, so thue ich dennoch in meiner übergroßen Schwachheit täglich Sünde. Darum gib mir die Gnadengabe der Thränen, du gebenedeieter hochgeliebter Herr. Bereite deinem Knechte vor dir einen Tisch voll deiner großen süßen Liebe, voll des Gedächtnisses deiner Barmherzigkeit, und laß mich an ihm Sättigung finden so oft ich will. Verleihe mir nach deiner Treue und Güte, daß meinen Durst jener Kelch stille, der voll deiner Freude und Herrlichkeit ist, auf daß meine Seele nach dir verlange, und mein Geist in deiner Liebe brenne und nicht mehr gedenke an Eitelkeit und Elend. Ach du mein Gott, höre mich, du Licht meiner Augen, höre; höre, was ich bitte, und laß meine Bitte Erhörung finden. Du gnädiger Herr, der du so gern erhört, du wollest mir meine Bitte um meiner Sünden willen nicht versagen, sondern um deiner Güte willen in Gnaden gewähren, denn ich bin dein Knecht. O gib mir was ich bitte und weiß ich begehre, denn du bist mein Gott. Amen,