Anselm von Canterbury - Homilien und Ermahnungen. Neunte Homilie.

Anselm von Canterbury - Homilien und Ermahnungen. Neunte Homilie.

Über das Evangelium nach Lukas: Jesus kam in eine gewisse befestigte Ortschaft (Burg): und ein Weib, Namens Martha nahm ihn in ihr Haus, auf, usw. (Luk. 10, 38.)

Vorwort.

Die Meisten fragen gewöhnlich, was dieser Abschnitt die glorreiche Jungfrau Gottesmutter angehe, um an ihrem Feste gelesen zu werden. Daher ich in der Versammlung der Brüder nach Kräften gemeinsam bereits mehr als einmal meine Ansicht hierüber auseinandergesetzt habe. Und weil, was ich vorgebracht, den Zuhörern gefiel, so hießen, ja nötigten eben dieselben und hauptsächlich die Herren Äbte Wilhelm von Fiscanum und Arnulph von Troarnum, es niederzuschreiben. Das schicke ich deshalb voraus, damit diese kleine Auseinandersetzung nicht missfallen möge, als aus Anmaßung veröffentlicht, da keine Anmaßung sondern Gehorsam sie veröffentlicht hat. So will ich mich denn anschicken, diese kleine Darstellung nach Vernunftgründen unbeschadet des Glaubens und ohne Besserem vorgreifen zu wollen, zum Lobe eben dieser Jungfrau und Mutter Jesu in Demut zu schreiben.

Man findet, dass in der heiligen Schrift ein und dieselbe Sache vielmals eine verschiedene Bedeutung habe, wie Löwe, Bock, Feuer, Wasser oder auch Sonne, und manches Andere. Es gibt nämlich einen Löwen vom Stamme Juda (Offnb. 5), und es gibt einen Löwen, der umhergeht und zu verschlingen sucht (1. Petr. 5). Es gibt einen Bock der Verstoßung (3. B. Ms. 16), der unsere Sünden auf sich genommen hat, es gibt einen Bock zur Linken (Matth, 25), der verdammt wird. Es gibt ein Feuer, das Gott auf die Erde gesandt hat, und von dem er will, es möchte brennen (Luk. 12); es gibt. ein Feuer, das auf die Gottlosen fällt, dass sie die Sonne nicht sehen (Ps. 57). Es gibt ein Wasser, dessen Ströme aus dem Bauche der Gläubigen fließen (Joh. 7); es gibt ein Wasser, dessen Sturm uns nicht verschlingen kann (Mat. 14). Es gibt eine Sonne der Gerechtigkeit, um uns zu erleuchten (Sir. 42), und eine Sonne, die uns den Tag über nicht brennen soll (Ps. 120). Also mag die Ortschaft sonst eine schlimme Bedeutung haben, wie jene, von der es heißt: Geht in die Ortschaft, wo hinzugefügt wird, die euch entgegen ist, wodurch ihre Bedeutung ganz klar ist; so nehmen wir doch hier die Ortschaft, in die Jesus einging, mittels der Ähnlichkeit für die einzige und unbefleckte Jungfrau und zugleich Mutter Jesu, unbeschadet der Schriftregel. Denn Ortschaft heißt jeder Turm mit einer Mauer umgeben. Und diese beiden schützen sich gegenseitig, so dass die Feinde durch die Mauer von der Burg und von der Mauer durch die Burg abgehalten werden. Mit einer solchen Burg lässt sich die Jungfrau Maria nicht unpassend vergleichen, da sie Jungfräulichkeit der Seele und des Leibes wie eine Mauer so von allen Seiten verwahrte, dass nimmermehr Jemand sich ihr lüstern nahen mochte, noch ihre Sinne durch irgendeinen Reiz verdorben wurden. Und weil der Stolz die Jungfräulichkeit anzugreifen pflegt, wenn es die Lust nicht vermag, so gibt es in eben dieser Jungfrau einen Turm der Demut, der von der Mauer der Jungfräulichkeit allen Stolz zurücktreibt. Und weil die Lust die Demut anzugreifen pflegt, wenn es der Stolz nicht kann, so treibt die Mauer der Jungfräulichkeit vom Turme der Demut jede Lust zurück. Diese beiden also, nämlich die Mauer der Jungfräulichkeit und der Turm der Demut, schützen sich gegen seitig; so dass es in der demütigen Jungfrau nie weder eine stolze Jungfräulichkeit, noch eine befleckte Demut gab, sondern sowohl die demütige Jungfräulichkeit, als auch die jungfräuliche Demut stets beisammen blieben. Wiewohl aber das hier Gesagte so wahr ist, dass der christliche Glaube an nichts Wahreres glauben kann, so wollen wir doch aus dem Evangelium einige Zeugnisse für die Jungfräulichkeit und Demut selbst beibringen. Als ihr nämlich vom Engel ein Sohn verheißen wurde, antwortete sie: Wie wird dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne (Luk. 1, 34)? Wenn man irgendeiner verlobten Jungfrau, die im Sinne hätte, zu heiraten, sagte: Du wirst einen Sohn bekommen, so würde sie sich nicht wundern noch fragen: wie wird dies geschehen, wüsste sie ja, sie sei verlobt, und werde nächstens heiraten und hoffen, nach dem Brauche der Natur von einem Manne schwanger zu werden. Diese aber wunderte sich nicht mit Unrecht, und fragte, wie diese Verheißung in Erfüllung gehen möchte, weil sie, obwohl eine Verlebte, doch ganz gewiss wusste, dass sie nie heiraten noch einen Mann erkennen würde. So viel von der Jungfräulichkeit. Von der Demut aber ist zu sagen, dass, als sie vom Engel gegrüßt, zur Mutter Gottes erwählt, sie belehrt wurde, wie sie unbeschadet der Jungfräulichkeit, für die sie allein fürchtete, als die gesegnetste aller Weiber gepriesen wurde; sie antwortete: Siehe ich bin eine Dienerin des Herrn (Luk. 1,38); und an einer andern Stelle: Weil er herabgesehen hat auf die Niedrigkeit seiner Magd (Luk. 1, 48). O der erhabenen Jungfrau Gottesmutter! o der demutsvollen Mutter Magd Gottes! Was könnte es Erhabeneres geben? Wie könnte man demütiger von sich denken? Manche halten diese befestigte Ortschaft für das Magdalum, von dem Maria Magdalena ihren Beinamen hat: ist dem wirklich so, so dient es der obgenannten Erklärung. Denn Magdalus heißt ein Turm, und schickt sich zur Niedrigkeit. Hier aber wird kein Name genannt, sondern es heißt bloß eine gewisse, und das dürfen wir nicht unbesprochen übergehen. Eine gewisse, das heißt eine besondere Ortschaft (Burg) war die Jungfrau Maria; weil sie besonders sowohl Jungfrau als Mutter war, und das konnte und wird keine andere sein können. Geben wir aber zu, es könne eine sowohl Jungfrau als auch Mutter sein, obwohl das unmöglich ist, so wird auch so die Jungfrau Maria etwas Besonderes sein, weil sie den einzigen Sohn Gottes gebar, der, sowie er der Einzige dem einzigen Vater, so auch der Einzige der einzigen Mutter gehört. Und deshalb wird keine, sollte sie auch als Jungfrau gebären, weder eben diesen noch einen von dieser Beschaffenheit hervorbringen. Es ist also eine gewisse Burg, in die Jesus einging: die Pforte aber, durch die er hineinging, ist der Glaube. Denn weil sie geglaubt hat, so kam für sie zur Ausführung, was der Engel gesagt hatte, sowie Elisabeth zu ihr sagte. Und diese Burg wurde durch das Hineingehen Jesu in sie nicht verlegt: denn Jesus, er bringt Heil, keine Verlegung; das Zerbrochene festigt er, zerbricht nicht das Feste. Wie sein Name, so sein Werk. Und ein gewisses Weib, Namens Martha, nahm ihn in ihr Haus auf; und sie hatte eine Schwester mit Namen Maria. Diese zwei Schwestern bezeichnen, wie die heiligen Väter uns zur vollen Genüge auseinander gesetzt haben, zwei Lebensweisen in der heiligen Kirche: Martha nämlich die tätige; Maria die betrachtende. Jene müht sich ab, um dem, der es bedarf, alle Dienste der Menschenfreundlichkeit zu erweisen; diese ruht und sieht, dass er Gott ist. Jene beschäftigt sich mit dem Äußeren; diese betrachtet das Innerliche. Sowie aber die Mutter Gottes etwas Besonderes ist; so existiert auch die Wirkung jener beiden Lebensweisen, von denen diese beiden Schwestern ein Abbild sind, in ihr besonders. - Denn in keiner Person war ja Martha so tätig, nie sonst Maria der Beschaulichkeit so hingegeben. Nie sonst erwies sie so teils dieses, teils jenes, was ihre Sache ist, auf. Wenn ich Martha oder Maria sage, so verstehe ich darunter das, was sie bezeichnen. Sehen wir uns aber jetzt die Tätigkeit dieser Martha an; hierauf wollen wir damit die Beschaulichkeit dieser Maria zusammenstellen. Und um das vollständiger zu tun, wollen wir vergleichen, wie Andere die Martha spielen, und wie sie sie gespielt hat. Andere nehmen jeglichen Gast in ihrem Hause auf; sie nicht jeglichen, sondern den eigenen Sohn Gottes, der nicht hat, wo er sein Haupt hinlege (Mat. 8, 20), nimmt sie nicht in ihrem Hause, sondern in ihrem Leibe auf. Andere bedecken irgendeinen Nackten mit einem wandelbaren und vergänglichen, mannichfach zusammengesetzten Kleide, sie kleidet das gleichsam nackte Wort Gottes in ihr Fleisch; indem eben dieses Wort in eben dieser Jungfrau in der Einheit der Peron ein Fleisch annahm, das endlos unveränderlich und unzerstörlich bleiben wird. Andere erquicken den nächsten besten Hungernden oder Dürstenden mit äußerlicher Speise oder Trank; sie sättigte den Gottmenschen in seiner menschlichen. Bedürftigkeit nicht bloß mit äußerlichen Speisen oder Getränken, sondern nährte ihn auch von Innen mit ihrer Milch. Und, um kurz jene sechs Werke der Barmherzigkeit durchzugehen, von denen Gott bekennt, sie seien ihm erwiesen, wenn sie einem seiner Geringsten erwiesen werden, so nahm sie nicht einen von den Geringsten, sondern den höchsten Sohn Gottes gastlich in ihrem Leibe auf, bedeckte ihn in seiner Nacktheit mit Fleisch, sogar auch mit Windeln, sättigte ihn in seinem Hunger, tränkte ihn in seinem Durste mit Milch, sah nicht bloß nach ihm, als er in seiner Kindheit hilflos da lag, sondern beschäftigte sich fleißig mit ihm, indem sie ihn badete, wärmte, beruhigte, umhertrug, so dass es mit Recht von ihr heißt: Maria aber war übergeschäftig mit emsiger Bedienung (Luk. 10,40). Sie war bei ihm, als er ergriffen und gekreuzigt und gleichsam ins Gefängnis geworfen war, wie geschrieben steht: Es stand aber neben dem Kreuz Jesu seine Mutter (Joh. 19,25). Dabei war sie aber bekümmert und unruhig, als sie von dem Angesichte des Herodes nach Ägypten floh, der ihren so beschaffenen Sohn so sehr verfolgte, dass er statt seiner viele Knäblein von ungefähr gleichem Alter töten ließ. Sie wird beunruhigt, als sie erkannte, wie ihm die Juden nachstellten und ihn zu töten trachteten. Zuletzt ward sie sehr beunruhigt, und nach Simeons Ausspruch durchdrang ein Schwert ihre Seele (Luk. 2,35), da sie ihren so beschaffenen Sohn ergreifen, binden, geißeln, verspeien, mit Dörnern krönen, verspotten, ins Gesicht geschlagen werden, kreuzigen, sterben, begraben sah. Daher passt es auch wohl auf sie, wenn es heißt: Martha, Martha, du bist bekümmert und um sehr vieles beunruhigt (Luk. 10,41). Niemand aber zweifelt, die seligste Maria hätte nicht gerne ihren Sohn von aller Bedrängnis befreit und sich selbst in der Bestürzung unterstützt gesehen von der Gottheit, von der sie mittels göttlicher Belehrung, die der Teil Marias ist, wusste, dass sie eben in ihrem Sohne wohne. Das ist es, worüber Martha klagt, dass ihr die Schwester die Bedienung allein überlassen habe, und ihre Unterstützung bei der Bedienung verlangt. So viel über den Teil Marthas. Sofort über den Teil Marias, der als der beste gepriesen wird, wer möchte würdig seine Größe oder Beschaffenheit in der seligsten Maria aussprechen? Wenn in der seligen Maria der Teil Marthas so beschaffen ist, wie wir gesagt haben, ja besser, als wir gesagt haben, die vom Herrn nicht eben sehr gelobt, jedoch auch nicht getadelt wird, von welcher Beschaffenheit ist der Teil, den Maria als den besten erwählte, der so gelobt wird, dass es heißt, er werde ihr nicht entrissen (Ebnds. V. 42)?

O welche große Süßigkeit Gottes war in der seligen Jungfrau, als der heilige Geist über sie kam, und die Kraft des Höchsten sie überschattete (Luk. 1,35) und sie von eben diesem heiligen Geiste empfing! Was sollte sie von Gott nicht wissen, da die Weisheit Gottes in ihr verborgen war und er sich in ihrem Leibe einen Leib zurichtete? Christus ist, sagt der Apostel, eine Gottesmacht und Gottes Weisheit (1. Kor. 1,24); und in ihm liegen alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft verborgen (Kolss. 2,3), Christus aber in Maria. Also liegt Gottesmacht und Gottesweisheit, sowie alle Schätze der Weisheit und des Wissens in Maria. Sie saß nicht nur zu den Füßen des Herrn, sondern auch zu seinem Haupt und vernahm das Wort aus seinem Mund. Sie bewahrte alle Worte der Engel, Hirten, Magier, wie auch ihres Sohnes selbst, indem sie sie in ihrem Herzen miteinander verglich (Luk. 2,19). Nie kostete je irgend Jemand wie sie, wie lieblich der Herr ist (Ps. 33,9). Sie ward übersatt vom Reichtum des Hauses Gottes, und ward mit dem Strome seiner Wonne getränkt (Ps. 35,9). Es ist auch kein Wunder; denn bei ihr, ja in ihr war die Quelle des Lebens (Ebends. V. 10), aus der die ganze Vollkommenheit der beiderseitigen Lebensweise floss. Mit sehr Vielem war sie, wie Martha, beschäftigt; an Einem hatte sie, wie Maria, ihre Lust, weil er das eine Notwendige ist (Luk. 10,42); das Meiste wird genommen, das Eine bleibt. Einzig vollendete sie also Marthas Teil, einzig erwählte sie Marias besten Teil: aber Marthas Teil wird ihr genommen. (Ebends. 42). Denn nun wird sie nicht mehr darum bekümmert sein, ihm zu dienen, wie in seiner Kindheit, da ihm alle Engelordnungen, als ihrem Herrn, dienen. Nun wird sie nicht mehr beunruhigt durch die Flucht mit ihm nach Ägypten von dem Angesichte des Herodes; weil er in den Himmel aufstieg und Herodes von seinem Angesichte zur Hölle hinabstieg. Nun wird sie nicht mehr durch so vieles beunruhigt werden, was die Juden ihrem Sohne getan haben; weil ihm Alles unterworfen ist (1. Kor. 15). Nun wird der Sohn Marias nicht mehr von den Juden, oder Soldaten gegeißelt, noch getötet werden; weil Christus nach seiner Auferstehung von den Toten nun nicht mehr stirbt, der Tod nicht ferner über ihn herrschen wird (Röm. 6,9). Marthas Teil wird ihr also genommen, aber zu ihrem Frommen; Marias Teil aber vollendet sich für sie, der nicht von ihr genommen werden wird. Denn sie ward erhoben über alle Engelchöre, ihre Sehnsucht mit Gütern gestillt (Ps. 102,5), sie schaut Gott von Angesicht zu Angesicht, sowie er ist (1. Joh. 3,2), freut sich ewig mit ihrem Sohne. Das ist der beste Teil, der nicht von ihr genommen werden wird; möchten auch wir desselben teilhaftig werden durch ihre Verdienste und Bitten, durch Jesus Christus ihren Sohn, welcher lebt und regiert, mit Gott dem Vater in der Einheit des heiligen Geistes, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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