Anselm von Canterbury - Homilien und Ermahnungen. Dreizehnte Homilie.
Über das Evangelium nach Lukas: Als Jesus nach Jerusalem ging, wanderte er mitten durch Samaria und Galiläa. usw. (Luk. 17,11.)
Was soeben vorgelesen worden, erfüllte sich zwar nur einmal tatsächlich nach der Geschichte, erfüllt sich aber täglich nach dem geistigen Sinne. Denn wir hatten uns in Adam von der Anschauung des Friedens, wie Jerusalem gedeutet wird, entfernt und waren in die zänkischen Unruhen dieser Verbannung geraten, und eilten den Höllenstrafen entgegen, um nichts Friedliches mehr zu sehen. Da aber das Wort Gottes, durch das Alles gemacht worden ist, uns barmherzig zur Anschauung seines Friedens zurückführen wollte, damit wir ewig in ihm Ruhe fänden, so ließ er sich zu uns herab, da wir uns nicht, zu ihm erheben konnten; nahm unsere Menschheit an sich und lenkte seine Schritte zum himmlischen Jerusalem, wo man immer den wahren Frieden sieht, und eröffnete uns den Weg dahin; und weil er die auserwählten Menschen zu seinen Gliedern machte, so geht er eben in diesen seinen Gliedern täglich nach Jerusalem, indem er seine Auserwählten von dieser Verbannung ins Vaterland zurückführt, wo der Friede ohne alle Unruhe des Fleisches oder Geistes herrscht. Dieses Vaterland nämlich wird hier mit dem Namen Jerusalem bezeichnet, das mit Friedensanschauung wie gesagt, gedeutet wird. Auf seinem Wege dahin wanderte er mitten durch Samaria und Galiläa. Denn Samaria wird mit Wahrung gedeutet, und bedeutet die Sorgfalt der Ges rechten, welche die Gebote Gottes wahren, die ihr Herz mit aller Wahrung bewahren, die ihre Handlungen stündlich überwachen. Galiläa aber, was vollbrachte Wanderung heißt, bezeichnet das Leben derer, die von bösen Werken zu frommem Wandel durch den engen Weg der Buße wanderten. Auf seinem Gange also nach Jerusalem wanderte er mitten durch Samaria und Galiläa; weil er täglich Einige in Vereinigung mit ihm zur seligen Anschauung des ewigen Friedens wandern macht, sowohl von denen, die nicht geirrt haben, als auch von denen, die vom Irrtume zur Wahrheit zurückkehrten. Denn in diesen wandert er nach Jerusalem, die er zu seinen Gliedern macht und sie dieser bösen Welt entreißt und zur ewigen Anschauung himmlischer Majestät führt. Er geht mitten durch Samaria und Galiläa, d. h. er teilt mit diesem Durchwandern Samaria und Galiläa in der Mitte, unter denen wir, wie gesagt, die Gerechten und Bußfertigen verstehen, weil er nämlich sowohl von den Ges rechten als von den Bekehrten Einige auswählt und sie mit sich ins Land der Lebendigen führt, Einige auch von denen, die er hier noch im Kampfe lässt. Mit dem Ausdrucke aber der unvollkommen vergangenen Zeit heißt es: er durchwanderte, um uns zu verstehen zu geben, dass die Wanderung selbst noch nicht vollendet ist, sondern noch vor sich geht. Jener Teil der Auserwählten aber, der noch in den Mühen dieses Lebens zurückgehalten wird, wird nicht unpassend mit einer Burg bezeichnet, von der es weiter unten heißt: es seien Jesu, während er eine gewisse Burg betrat, zehn aussätzige Männer begegnet. Denn die Heiligen wahren sich selbst, wie eine Burg, unter den gefährlichen Versuchungen dieser Welt durch vorsichtigen Umblick. Eine Burg befestigt man nämlich gegen Feinde, und wahrt sie sorgfältig, indem sie die Kirche bedeutet, die unter den Gefahren dieses Lebens stark von allen Seiten verschlossen und wider die bösen Geister befestigt und mit sehr wachsamer Sorgfalt bewahrt wird. Diese Burg heißt eine gewisse, damit man sie nach dem Buchstaben nicht kenne, und nach dem geistigen Sinne erkenne. In dieser geistigen Burg nämlich, das heißt in der Kirche, befindet sich stets der Herr, wie er seinen Jüngern sagte: Siehe ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt (Mat. 28,20); dennoch aber scheint er manchmal nicht da zu sein, wenn er die Gottlosen sich mehren lässt, und seine Hilfe seinen Auserwählten nicht offen gewährt, sondern sie mit Drangsalen und Widerwärtigkeiten beugen lässt, als wären sie von ihm verlassen. Daher auch jener Ausruf: Warum, Herr, hast du dich weit entfernt, schaust weg zur gelegenen Zeit, in der Drangsal? (Ps. 9,1.)
Wann aber der Herr nicht da zu sein scheint, dann dringen die heraus, die unter den zehn Aussätzigen versinnbildet werden. Denn Viele wollen, entweder gebeugt von Widerwärtigkeiten, vom Glauben abfallen und sich den Ungläubigen beigesellen, als wollten sie sagen: Lasst uns gehen und einen Bund mit den Völkern machen, die um uns her sind (1. Machb. 1,12); oder tun sie, besiegt von den Versuchungen ihrer Fehler, so vieles und so großes Böse, dass sie den Heiden mit ihrem Tun ähnlich werden, indem sie vom Innern der Kirche zu den Weltdingen lüstern hinausdrängen. Das sind nämlich die geistig Aussätzigen und man sagt von ihnen deshalb, es seien ihrer zehn, weil sie wider Gottes Gebote tun, die man wegen des Zehngebotgesetzes unter der Zehnzahl zu verstehen pflegt. Denn gleichwie die Beobachter der himmlischen Gebote dadurch Seelenreinheit und Gesundheit erlangen; so ziehen sich die, welche diesen Geboten zuwider handeln, geistige Befleckung und Krankheit zu, so dass sie so an der Seele werden, wie man es körperlich an denen sieht, die am Aussage des Fleisches leiden. Sie streben um so mehr hinaus, je verkehrter sie handeln; und so geht es zu, wenn Jesus abwesend zu sein scheint.
Es geschieht aber gewöhnlich mittels der Rücksicht, die die göttliche Gnade nimmt, dass Jesus, der Herr selbst zu dieser Burg der Kirche öffentlich zu kommen und in sie einzugehen scheint, indem er nämlich plötzlich die Drangsale stillt, und von seinem Volke die Verkehrtheit abwendet, und ihm großen Zuwachs der Frömmigkeit verleiht. Und dann geht geistig vor sich, dass, wie gesagt, ihm zehn aussätzige Männer begegneten, während er selbst in diese Burg eingeht. Denn er trifft sie, indem sie wider ihn vordrängen, das heißt auf dem ihm entgegengesetzten Wege gehen, während sie hinaus und er herein gehen will; und er hält sie auf, und macht sie stehen und nicht weiter gehen, damit sie auf dem verkehrten Wege nicht weiter fortgehen. Sie standen nämlich, und standen von ferne; weil sie sich ihm nicht sogleich nähern konnten, sondern von ferne stehend wandten sie sich zum Bitten und sagten mit lautem Herzensrufe: Jesus, Lehrer, erbarme dich unser. Sie begriffen nicht, dass er der Heiland sei, im Stande alle Sündenkrankheiten zu heilen, und anerkannten, dass sie deshalb unglücklich seien, weil sie den Geboten zuwider gehandelt haben; und deshalb nannten sie ihn Jesus, das heißt Heiland und Lehrer, und flehten ihn an, sich ihrer zu erbarmen. Sobald er sie mit einem gütigen Blicke ansah, sprach er: Geht, zeigt euch den Priestern, das heißt, entdeckt mit demütiger mündlicher Beichte den Priestern wahrhaftig alle Flecken eures inneren Aussatzes, um gereinigt werden zu können. Und es geschah ihnen, um was sie flehten, während sie nämlich hingingen zu den Priestern, wurden sie rein, weil die Sünder, wenn sie von schwerem Aussatze der Verbrechen entstellt sind, doch, wenn sie zur Beichte gehen, durch die Beichte selber gereinigt werden um der Buße willen, die sie tun wollen. Während sie gingen, wurden sie rein, weil sie, sobald sie diesen Weg betreten, Gerechtigkeit zu wirken anfangen und das Wirken der Gerechtigkeit ist ihre Reinigung. Während sie gingen, wurden sie rein, denn sobald sie sich zur Beichte und Buße anschicken und mit ganzer Geistesüberlegung ihre Sünden verdammen und verlassen, werden sie vor dem Blicke des innern Aufsehers von ihnen befreit. Daher bezeugt der Herr selbst auch durch den Propheten, dass die Gottlosigkeit des Gottlosen ihm nicht schaden werde, an welchem Tage immer er sich von seiner Gottlosigkeit bekehre (Ezchl. 33,12). Jedoch muss man zu den Priestern gelangen, und bei ihnen Lossprechung nachsuchen, damit die, die bereits vor Gott rein sind, durch das Gericht der Priester auch den Menschen als rein gezeigt werden.
Weiter heißt es: Einer aber von ihnen kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme, sobald er sah, dass er rein geworden. Einer bezeichnet Einen von denen, die in guter Gesinnung verharren, die, nachdem sie durch Buße Verzeihung erlangt haben, in Demut und Danksagung verharren. Denn dass es heißt Einer, ist so zu verstehen, dass er nun nicht mehr von verschiedenem Willen sich hin- und herwerfen lasse, sondern in dem Willen, Gott zu gefallen, verharre. Denn sowohl alle Auserwählte kann man mit Recht nicht bloß Eines, sondern auch Einen nennen, wegen ihrer Einmütigkeit im Guten, wie der Apostel andeutet, wo er von allen Guten und Bösen, die in der Kirche sind, geheimnisvoll redet: Es laufen zwar Alle, aber Einer bekommt den Preis (1. Kor. 9,24). Denn alle Christen, sowohl gute als böse, jeder in seiner Art, laufen nach dem Preise; aber Einer, der gesetzlich läuft, bekommt ihn, sowie auch alle diese Aussätzigen rein wurden, aber ein Einziger dankte. Einer also, als er sich vom Aussatz der Verbrechen rein sah, kehrte zum Reiniger zurück, und dankte, und demütigte sich noch mehr vor ihm und war ergeben und bemüht, ihm auf immer zu gefallen. Denn dieser Eine bezeichnet wie gesagt die, die so handeln. Er wollte nun nicht mehr undankbar sein, sondern kehrte zurück und pries Gott mit lauter Stimme. Mit Recht mit lauter Stimme, weil er sich Glück wünschte; große Wohltaten von Gott erhalten zu haben. Mit lauter Stimme, darunter müssen wir mehr mit andächtiger als schreiender verstehen. Denn er wünschte Gott nicht mit geringer Andachtsstimme zu preisen, da er sich der herrlichen Befreiung von so großen Übeln erfreute. Er hatte die Heilung des innern Aussatzes von Christus erlangt und pries daher Gott, damit der Vater im Sohne verherrlicht würde.
Und er fiel auf das Angesicht ihm zu Füßen, weil er über sein früheres Tun sich schämte und sich daher gering vorkam, und sich in andächtiger Demut vor Christus niederwarf. Er war nun nicht mehr im Zustande der Härte und des Stolzes, sondern lag ganz bestürzt im Geiste zu seinem Glücke zu den Füßen des Heilands, danksagend für seine Befreiung aus so großem Elende; und das war ein Samariter, das heißt ein Bewahrer, weil er, um die empfangene Wohltaten nicht verlieren zu können, sie in demutsvoller Hut hielt, und sich selbst nun mit Vorsicht wahrte, um nicht wieder in das Unglück des geistigen Aussatzes zu rennen, und wahrte sein Herz und Tun vor dem Bösen.
Jesus aber erwiderte und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? und wo sind nun die neun? Auf die Werke dessen, der Dank erstattete, und der Andern, die undankbar waren, erwiderte der Herr: Sind nicht, sagte er, die zehn rein geworden und hätten nicht alle zu gleicher Dankeserstattung umkehren sollen? Die zehn sind rein geworden, weil die gesetzliche Zahl gereinigt worden. Aber neun kennt der Herr gleichsam nicht, weil sie mit ihren Sünden lieber von ihm fern bleiben wollten, als sich ihm mit guten Werken nähern. Und von diesen sagt er: Wo sind sie? Und damit will er sagen: Wo sind die, die in Demut und Danksagung da sein sollten? Wo sind die, die durch verdienstliches Sichhingeben und Wirken sich mir nahen sollten? Wo sind die, die bei der Beobachtung meiner Gebote sein sollten? Weil aber die Neunzahl dreimal drei hat, und sich auf den Glauben an die Dreieinigkeit bezieht, so bezeichnen diese Neun jene, die, nachdem sie durch Buße gereinigt worden sind, nach den früheren Sünden in Trägheit und Sicherheit leben, auch sich in guten Werken nicht üben, sondern meinen, der Glaube allein sei genug für sie.
Es fand sich Keiner, der umkehrte und Gott die Ehre gäbe als dieser Fremdling, weil man keinen findet, der nach erhaltener Verzeihung sich der göttlichen Liebe erinnern und mit andächtigem Herzen Dank erstatten und in guten Werken beharren mag, als den, der nicht zu den Kindern des Landes Babylon, sondern zu den Kindern des himmlischen Jerusalems gehören mag.
Und er sagte zu ihm: Stehe auf, geh, denn dein Glaube hat dir geholfen. Der, der noch demütig in Buße für Tilgung seiner Sünden da lag, erhält den Befehl, aufzustehen zu gutem Handeln und hinzugehen, das heißt sich aufzumachen und in guten Werken fortzuschreiten, Denn wer seine hilflose Lage demütig erkennt, und erwägt; dass er Staub und Asche ist, dem wird befohlen, zu starken Werken aufzustehen, und sich zum Fortschritte in der Gerechtigkeit aufzumachen. Auch sagt man zu ihm: Dein Glaube hat dir geholfen. Denn er glaubte, dem Dank abstatten zu müssen, der ihn gereinigt und sich als Gott tatsächlich zu erkennen gegeben hatte, und er besaß den Glauben, der durch Liebe tätig ist (Gal. 5, 6), und durch ihn ward ihm vom früheren Bösen geholfen, in dem er zuvor zu Grunde gegangen war, weil er dafür hielt, dass ihm der Glaube allein ohne Werke nicht genüge, wie jene Neun.