Anselm von Canterbury - Homilien und Ermahnungen. Zehnte Homilie.
Über das Evangelium nach Lukas: Als Jesus in das Haus eines der Obersten der Pharisäer an einem Sabbate kam, um zu speisen; da beobachteten sie ihn. usw. (Luk. 14,1.)
Das was jetzt laut der Geschichte als Wunder erzählt wird, wird laut dem geistigen Sinne als etwas erkannt, was noch mehr Bewunderung verdient. Denn die Pharisäer, die so viel als die Unterschiedenen bedeuten, bezeichnen die Juden, wie sie sich von allen andern Völkern durch die Beschneidung und das Gesetz unterscheiden. Der Oberste der Pharisäer ist im geheimnisvollen Sinne der ehemalige Hohepriester der Juden. Das Haus dieses Obersten ist die Synagoge. In dieses Haus nämlich kam der Herr, als er bei seiner Geburt unter dem Judenvolke aus dem Leibe der unbefleckten Jungfrau wie ein Bräutigam aus seinem Gemache hervorging (Ps. 18,6); und das tat er an einem Sabbate, das heißt als bereits nach Gottes Willen die fleischlichen Werke des Gesetzes und das Gebot der Werke aufhörten, weil das Gesetz und die Propheten sich bis zu Johannes erstrecken. Denn nach dem Gesetz hörte man am Sabbate mit äußerlichem Tun auf; und darum wird mit dem Ausdrucke Sabbat das Aufhören des fleischlichen Tuns des Gesetzes selbst bezeichnet. An einem solchen Sabbate kam der Herr in das obengenannte Haus, und kam, um daselbst das Brot zu essen, das heißt um Speise zu sich zu nehmen, was so viel ist, als um den Willen seines Vaters zu tun. Denn er sagt: Meine Speise besteht darin, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat (Joh. 4,34).
Und sie beobachteten ihn, das heißt auch die, zu denen er gekommen war, lauerten auf ihn. Sie bezeichneten aber denjenigen Teil der Juden, zu dem auch sie gehörten, der ihm stets neidisch auflauerte, und Veranlassungen suchte, ihn zu tadeln oder anzuklagen.
Und siehe ein wassersüchtiger Mensch war vor ihm. Dieser Wassersüchtige, der im Hause des Obersten der Pharisäer war, ist ein Bild des Volks, das sich in der Synagoge der Juden befand und an der Krankheit der Habsucht litt. Denn ein Wassersüchtiger wird immer durstiger, je mehr er trinkt. So brennt auch den Habsüchtigen der Durst nach Geld um so mehr, je mehr er Geld zusammenbringt; und ihm wächst die Liebe zur Münze mit der Zunahme des Geldes selbst. Und ein solches. Volk der Synagoge traf der Herr an, das nur dem tötenden Buchstaben des Gesetzes nachging, und nichts vom belebenden Geiste wusste; und die Verheißungen, welche nach dem Buchstaben daselbst nur in ihrer Fleischlichkeit getroffen werden, von Gott erwartete zur Vergeltung für seine Mühsale, als die größten Güter; und deshalb hatte es sich ganz im Verlangen nach Dingen der Art verloren, und dürstete allein nach den Gütern des gegenwärtigen Lebens, von denen es meinte sie werden allein im Gesetz Gottes verheißen; und so rieb es das übelverstandene Wort auf, und wegen dieser geistigen Erschlaffung antwortete der Herr seinen Laurern, und sprach zu den Gesetzesverständigen und Pharisäern: Ist es erlaubt am Sabbate zu heilen, das heißt, kann es mit Recht dahin gebracht werden, dass nach dem Aufhören der Gesetzeswerke, deren Unterlassung mit dem Ausdrucke Sabbat bezeichnet wird, dieses Volk von seiner Habsuchtskrankheit geheilt wird, von der es aufgedunsen und in Hitze sich befindet? Und in der Tat konnte es nur am Sabbate geheilt werden, denn wenn das Tun des fleischlichen Guten nach dem Gesetz der Verheißungen nicht aufgehört hätte, würde auch die Lust im Herzen des jüdischen Volkes nicht erlöschen. Aber jene, an die die Frage darüber gestellt worden war, schwiegen; weil sie über die Abschaffung der fleischlichen Beobachtungen nicht reden wollten, von denen sie doch nicht zu zeigen vermochten, sie müssen schon nach der Vernunft Bestand haben. Denn seit jener Zeit, als sie eine Verschwörung gegen den Heiland angezettelt hatten, dass wenn ihn Jemand als Christus bekennen würde, er aus der Synagoge verstoßen würde (Joh. 9,22), hatten sie bereits den Mund sich verstopft gegen das Bekenntnis der Wahrheit. Ihr Schweigen ist bezeichnet durch das Verstummen des Zacharias, als er nicht glaubte. Der Herr aber ergriff den Kranken und heilte ihn; weil er das an der Krankheit der Habsucht leidende Judenvolk, wie gesagt, an denen ergriff, die er erwählte, und von aller irdischen Begierde befreite; als man Alles verkaufte, was man im Besitz hatte, und seinen Preis zu den Füßen der Apostel legte, führte man in einträchtiger Liebe ein armes gemeinschaftliches Leben (Apstlg. 4,32). So also heilte sie Christus durch seine Gnade von jener ganzen Pest der unersättlichen Habsucht; und entließ sie so, das heißt er löste sie los vom Joche des Gesetzes, und machte sie los durch die Freiheit der Liebe nach seinem Willen, so dass sie nun nicht mehr das Gute aus Zwang, sondern aus freiem Willen taten. Denn wer von Liebe brennt, hat nicht not, dass man ihm etwas anderes auflege, als dass er ganz nach Belieben tue. Sofort widerlegt der Heiland den Neid der Missgünstigen und sagt zu ihnen: Wem von euch wird ein Ochs oder Esel in den Brunnen fallen, ohne dass er ihn nicht unverzüglich am Sabbattage herausziehen wird? Ein Ausspruch nämlich, der sowohl die Laurer überführt, als auch sich besonders auf den Urheber unserer Freiheit selbst bezieht. Denn er selbst war nach der Materie des Fleisches Einer aus den Juden, der Fleisch aus ihrem Volke angenommen hatte. Und sein Ochs und Esel fiel in den Brunnen; weil das Heiden- und Judenvolk, das beides er erschaffen hatte, in die tiefsten Laster stürzte. Der Esel bezeichnet nämlich das über die Maßen vernunftlose Heidenvolk unter der Last aller Irrtümer; der Ochs das jüdische unter dem Joche des Gesetzes. Denn nicht allein der Esel, d. h. das Heidenvolk, sondern auch der Ochs, das heißt das jüdische, sank in die Tiefe der Sünden herab, weil es sich selbst auch nicht mit den Werken des Gesetzes rechtfertigen konnte. Beide aber zog der Herr heraus, weil er beide durch den Glauben an ihn rechtfertigte und zur Freiheit der Liebe emporführte. Und so machte er es unverzüglich, das heißt ohne Aufschub; denn in der Taufe tilgte er ohne Aufschub ihre Verschuldungen, und verlieh ihnen Unschuld. Am Tage des Sabbats, das heißt am hellen Tage des Glaubens und der Erkenntnis, beim Aufhören der Gesetzeswerke. Und sie konnten ihm darauf nicht antworten; weil durch die Befreiung zweier Völker aus der Tiefe des Bösen und durch ihre Berufung zum Lichte des Glaubens Gott die Weisheit der Welt so zur Torheit gemacht hat, dass ihre Weisen, welche auf die Kirche des Erlösers neidisch sind, keine Antwort finden, im Gegenteile nichts Vernünftiges vorbringen, sondern bei verschlossenem Mund Stillschweigen halten und sich mit innerlichem Neide verzehren.