Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Zweite Betrachtung. Vom Schrecken des Gerichts, um Furcht in sich zu erwecken.

Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Zweite Betrachtung. Vom Schrecken des Gerichts, um Furcht in sich zu erwecken.

Es jagt mein Leben mir Furcht ein, weil es genau erwogen fast im Ganzen mir entweder als Sünde oder als Unfruchtbarkeit vorkommt, und wenn sich etwas Frucht darin zeigt, ist es entweder so verdorben, oder unvollkommen, oder auf irgend eine Art verdorben, dass es unmöglich Gott gefallen kann, oder ihm missfallen muss. Also, o Sünder, ist dein Leben nun nicht fast ganz, sondern völlig ganz entweder sündhaft und verdammlich; öder unfruchtbar und verächtlich. Aber was mache ich für einen Unterschied zwischen seiner Unfruchtbarkeit und Verdammlichkeit? Es ist ja, wenn es unfruchtbar ist, auch verdammlich. Denn es ist bekannt und wahr, was die Wahrheit gesagt hat: Jeder Baum, der keine gute Frucht macht, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen werden (Matth. 3,10). Wenn ich endlich etwas Nützliches tue, so gleiche ich damit ganz und gar nicht die Leibesnahrung aus, die ich missbrauche. Wer aber füttert ein Vieh, das nicht soviel Nutzen bringt, als es verzehrt? und doch du gütiger Gott, du nährst deinen unnützen Wurm und stinkenden Sünder, und hast Geduld mit ihm. Wie viel erträglicher ist es, wenn ein fauliger Hund vor Menschen stinkt, als eine fündige Seele vor Gott! Wehe nicht dem Menschen, sondern der Schande der Menschen, schlechter als Vieh, schlimmer als Aas. Meine Seele hat Ekel an meinem Leben; ich schäme mich am Leben, fürchte mich vor dem Tode. Was erübrigt dir also, o Sünder, als dass du dein Leben lang dein ganzes Leben beweinst, damit es selbst ganz sich ganz beweine?

Aber auch hierbei ist meine Seele erbärmlich wunderlich, und wunderlich erbärmlich, weil ihr Schmerz nicht gleichen Schritt mit ihrer Selbstkenntnis hält; sondern sie lebt in so sicherem Stumpfsinn dahin, als wüsste sie nicht, woran es ihr fehlt.

O unfruchtbare Seele, was treibst du? was lebst du stumpfsinnig dahin, sündige Seele? Der Tag des Gerichts kommt, nahe ist der große Tag des Herrn, nahe und allzu schnell jener Tag des Zorns, der Tag der Bedrängnis und Angst, der Tag des Unglücks und Elends, der Tag der Finsternis und des Dunkels, der Tag des Nebels und Sturmes, der Tag der Posaune und Trompete. O bittere Stimme des Herrn! Was schläfst du, laue Seele, und wert, ausgespien zu werden? was schläfst du? wer nicht aufwacht, nicht lebt, bei dem so großen Donner, der schläft nicht, sondern ist tot. Unfruchtbarer Baum, wo sind deine Früchte? Baum, der Beil und Feuer verdient, umgehauen und verbrannt zu werden. verdient, welches sind deine Früchte? Nur stechende Dornen und bittere Sünden; möchten sie dich durch Buße so stechen, dass sie brächen: so bitter werden, dass sie unsichtbar würden. Vielleicht hältst du irgend eine Sünde für klein: möchte der strenge Richter irgend eine Sünde für klein ansehen. Aber wehe mir! entehrt nicht jede Sünde Gott durch Übertretung? Wie nun? wird es ein Sünder wagen, eine Sünde klein zu nennen? Denn wann ist es etwas Kleines, Gott zu entehren? Dürres und unnützes und des ewigen Feuers würdiges Holz, was wirst du an jenem Tag antworten, wenn man dich bis auf einen Augenblick verantwortlich machen wird für deine ganze dir zum Leben verliehene Zeit, wie du sie angewendet habest? Dann wird man nämlich Alles verdammen, was sich an dir findet von Tätigkeit oder Ruhe, von Reden und Schweigen, bis zum kleinsten Gedanken, auch das, dass du gelebt hast, wenn es nicht nach Gottes Willen eingerichtet war. Wehe! wie viele Sünden werden da unversehens hervorstürzen, wie aus einem Hinterhalte, den du jetzt nicht siehst? Sicher mehrere und vielleicht schrecklichere als die, die du nun siehst. Wie Vieles, was du nicht für bös hältst? wie Vieles, von dem du jetzt glaubst, es sei gut, wird dort in seiner nackten Gestalt als schwärzeste Sünde erscheinen? Dort wirst du ohne Zweifel erhalten, je nachdem du im Leibe gehandelt hast; dann, wann es nun keine Zeit der Barmherzigkeit mehr geben wird; dann, wann man keine Reue annehmen, wann man keine Besserung versprechen wird.

Hier bedenke, wie du gehandelt hast, was du dafür hinnehmen musst. Wenn viel Gutes, wenig Böses; freue dich sehr: wenn viel Böses, wenig Gutes; traure sehr. O unnützer Sünder! genügt dir das nicht zum schrecklichsten Wehklagen? genügt es nicht, um Blut und Mark zu weinen? Wehe der verwunderlichen Härte, die zu brechen so schwere Hämmer zu leicht sind! O gefühlloser Stumpfsinn, zu dessen Erweckung so scharfe Nägel zu stumpf sind! O der tödlichen Schlafsucht, zu deren Erweckung so schreckbarer Donner zu leise ist. Unnützer Sünder, das sollte für dich genug sein zu unausgesetzter Trauer: es kann dir zureichen, beständig Tränen zu schlürfen. Aber warum soll ich etwas über die Schwere, über die Größe des bevorstehenden Elends verhehlen und verschweigen und den Augen meiner Seele wegstehlen: etwa damit die plötzlichen Schmerzen unversehens herandringen, damit der unerträgliche Sturm plötzlich hereinbreche? So taugt es doch dem Sünder nicht. Wenn ich aber Alles sage, was ich erdenken kann, so wird es sich mit der Sache selber noch nicht vergleichen lassen. Somit mögen meine Augen Tag und Nacht tränen und nicht verstummen. Vermehre also, Sünder, vermehre dem obigen Kummer das Gewicht; füge Schrecken zu Schrecken, Geheul zu Geheul; denn eben der wird dich richten, auf dessen Schmach Alles absicht, was der gegen Gott Unfolgsame, oder der Übertreter sündigt, der mir Böses mit Gutem vergolten hat, während ich ihm Gutes mit Bösem, der jetzt der Geduldigste, dann der Strengste; jetzt der Gütigste, dann der Gerechteste ist.

Wehe mir, wehe mir! an wem habe ich mich versündigt? Gott habe ich entehrt, den Allmächtigen herausgefordert. Was tat ich Sünder? gegen wen tat ich? wie übel tat ich? Wehe, wehe! Zorn des Allmächtigen, stürze nicht auf mich. Zorn des Allmächtigen, wie wirst du Raum in mir finden können? In meinem ganzen Wesen ist nichts, was dich ertragen könnte. O Bedrängnisse: hier werden die Sünden mit ihrer Anklage, dort die schreckende Gerechtigkeit sein; unten das schauerliche Chaos der Hölle gähnend, oben der erzürnte Richter; innen das brennende Gewissen, außen die verbrennende Welt. Kaum der Gerechte wird gerettet werden; der so ertappte Sünder, nach welcher Seite hin wird er sich drücken? Wo will ich mich verbergen in meinen Banden? wie mich sehen lassen? Verborgenbleiben wird unmöglich, Sichsehenlassen unerträglich sein. Jenes werde ich mir wünschen, und nirgends wird es sich zeigen: dieses verwünschen, und es wird überall stattfinden. Was doch dann? was wird es dann sein? wer wird mich den Händen Gottes entreißen? woher mir Rat? woher Rettung? Wer ist es, den man Engel des großen Rats nennt, den man Heiland nennt, damit ich seinen Namen anrufe? Nun das ist gerade, nun das ist selbst Jesus, eben er derselbe Richter, unter dessen Händen ich zittere.

Atme nun wieder auf, o Sünder, atme wieder auf; verzweifle nicht, hoffe auf den, den du fürchtest. Fliehe zu dem hin, von dem du weggeflohen bist. Rufe ungestüm den an, den du stolz herausgefordert hast. Jesu, Jesu, um deines Namens willen tue mir diesem deinem Namen gemäß. Jesu, Jesu, vergiss die stolze Herausforderung, siehe auf die jammervolle Anrufung des süßen Namens, des freudvollen Namens, des Namens voll Stärke für den Sünder, und der seligen Hoffnung. Denn was heißt Jesus anders als Heiland? Also Jesu, um deiner selbst willen sei mir Jesus, der du mich gebildet hast, dass ich nicht verloren gehe; der du mich erlöst hast, verdamme mich nicht; der du mich mit deiner Güte erschaffen hast, damit dein Werk nicht durch meine Bosheit zu Grunde gehe. Ich bitte, Liebevollster, dass meine Bosheit nicht zu Grunde richte, was deine allmächtige Güte gemacht hat. Anerkenne, Gütigster, dass es dir gehört; und nimm das Fremde davon weg. Jesu, Jesu, erbarme dich, so lange es Zeit zum Erbarmen ist, damit du zur Zeit des Gerichts nicht verdammst. Denn was für einen Nutzen hättest du an meinem Blut, wenn ich zum ewigen Verderben hinabstiege? Denn die Toten werden dich, Herr, nicht loben, noch alle, die in die Hölle hinabsteigen (Ps. 113,17). Wenn du mich in den so weiten Busen deines Mitleidens aufnimmst, so wird er, Herr, um meiner willen nicht enger. Nimm mich also, o erwünschtester Jesu, nimm mich auf in die Zahl deiner Auserwählten, damit ich dich mit ihnen lobe, deiner genieße, und mich in dir unter allen rühme, die deinen Namen lieben. Der du mit dem Vater und heiligen Geiste verherrlicht bist durch die unbegrenzte. Ewigkeit. Amen.

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