Anselm von Canterbury - Buch der Betrachtungen - Neunzehnte Betrachtung. Über die Süßigkeit der göttlichen Majestät und vieles Andere.
I. Staunen über die unaussprechliche Güte des Schöpfers, und über das große Elend des erschaffenen Menschen.
Während ich überlege, was Gott sei, welch süßes, liebenswürdiges, gutes, unaussprechliches, bewundernswürdiges, wie sehr von jedem Geschöpfe zu verehrendes und anzubetendes Wesen, und wieder sehe und begreife, was der Mensch ist, den Gott selbst nach seinem Bild und nach seiner Ähnlichkeit gemacht, und den er überdies so erschaffen hat, dass, sowie er stets an sich seines Schöpfers Bild ausdrücken sollte, er so stets den Willen und die Liebe dessen im Andenken behalten sollte, der ihn so erschaffen hat, so wundere ich mich sehr und bin erstaunt über die unschätzbare Güte Gottes, des Schöpfers, und über das große Elend des erschaffenen Menschen.
Über die unaussprechliche Güte Gottes wundre ich mich, dass er, während er der Allmächtigste und Gerechteste ist, den Menschen auch nur eine Stunde leben lässt, den er deshalb mit Ehren erschaffen wollte, damit der Mensch selbst, so wie er das geehrteste aller Geschöpfe sein, ehrenhafter als alle Geschöpfe nach seines Schöpfers Willen leben sollte: und er gerade der Elendeste und Unglücklichste tut das Gegenteil, so dass, während alle anderen Geschöpfe stets mit ihres Schöpfers Willen in Eintracht leben, er gerade stets oder beinahe stets seinem Willen widersteht. Über das unermessliche Elend des Menschen aber wundere ich mich, wie er einen so verdorbenen Verstand haben, so wie ein Tier, das keinen Verstand hat, leben, dass er jemals seines Schöpfers vergessen mag, da er ja sich selbst nicht vergessen kann. Ich meine, nur ein Unsinniger könnte einmal seiner selbst vergessen, so dass er nicht einsähe, er habe Dasein, Leben und Verstand. Wenn aber der Mensch einsteht, dass er das Alles habe, so ist es wunderlich und sehr erstaunlich, wie er je dessen vergessen mag, dessen Güte ihm das Alles gegeben hat.
II. Wie sehr der Mensch den Menschen lieben soll; und warum Gott mehr, als irgend ein Mensch geliebt werden soll.
Der Mensch nun pflegt, wenn ihm von irgend einem andern Menschen etwas Gutes auf dieser Welt gegeben wird, öfter den, der ihm dieses Gute gegeben hat, so heiß zu lieben, und sich beständig ihm zum Dienste anzubieten, dass wenn seinem Wohltäter damit geholfen wäre, er sich nicht scheute, sogar in den Tod für ihn zu gehen, und doch gibt es Niemand von so geringer Einsicht, dass er nicht einsähe, dass er nichts, was je ein Mensch auf dieser Welt möchte besitzen können, oder einer dem Andern möchte geben können, auf immer behalten, sondern entweder vor seinem Ende, oder wenn nicht vorher, wenigstens bei seinem Ende, hergebe. Was aber Gott dem Menschen in dieser Welt gibt, ist entweder so beschaffen, dass er so nie verliert, und Niemand es ihm je raubt, oder ist es so beschaffen, dass, wenn es der Mensch auch einbüßen sollte, er sich doch damit das Verdienst erwerben kann, nach diesem Leben auf ewig bei seinem Schöpfer in dem seligen Leben zu sein. Oft aber verleiht Gott dem Menschen in dieser Welt vernünftig zu leben und seinen Schöpfer, wie er selbst befiehlt und es billig ist, zu lieben, seinen Befehlen ohne allen Widerspruch in allen Stücken zu gehorchen, und dieses Gut kann Niemand, wenn man es nicht freiwillig weggibt, rauben. Zeitliches Geld muss der Mensch, er mag wollen oder nicht, hergeben; aber so lange er es hat, wird er, wenn er davon nach Gottes Gebot mitteilt, durch solche Handlungsweise es verdienen, zum ewigen Leben zu gelangen.
O unermessliche Güte unseres Schöpfers! o unschätzbare Barmherzigkeit! Er selbst nie je eines Menschen bedürftig schuf den Menschen bloß seiner Güte zufolge, zierte ihn bei der Erschaffung mit Vernünftigkeit, damit er seiner Seligkeit und Ewigkeit teilhaftig werden und so mit ihm Freude und Wonne auf immer haben möchte. Überdies auch wenn ein Mensch ihm in vielen Stücken zuwider lebt, vieles wissentlich und vorsätzlich begeht, was ihm missfällt, so mahnt er ihn doch, er solle umkehren, und seines Schöpfers Barmherzigkeit suchen und ja über kein, wenn auch noch so schweres Vergehen verzweifeln. Er ist ja die Quelle der Liebe und Barmherzigkeit und wünscht sehnsüchtig Jedermann zu reinigen, mit welcher Sündenbefleckung er sich auch beschmutzt haben mag, und dem Gereinigten die Wonne des ewigen Lebens zu schenken.
III. Dass Gott der Urheber alles Guten und allein nach seinem Wesen gut sei.
Lieblichster und süßester Jesus Christus, der du der milde Liebhaber der Menschen, und der gütigste Erlöser der Sünder bist, dich bete meine Seele an, in deinem Dienste stehe mein ganzes Leben, nach dir sehne sich mein ganzes Inneres. Es will, mildester Herr, es will meine arme Seele über dich nachdenken, deine Wunder betrachten, und begreifen, wie gut und barmherzig du gegen die Sünder bist, um in der Verzweiflung über meine Sünden, mich ja nicht, (ach! zu meinem Unglücke!) dir entfremden zu wollen, um so zu denken und an dich, der du die Wahrheit bist, zu glauben, und dadurch im Stande zu sein, jetzt endlich einmal mit meinen Sünden nachzulassen, und zum Rechttun meinen durch böse Werke und Sünden krumm gewordenen Geist umzuschaffen.
Siehe, Herr, ich weiß, dass Alles was ist, du aus dem Nichts gemacht hast: das heißt, es war nicht, und du machtest es; du selber aber, der du es gemacht hast, warst immer, und es gab keine Zeit, in der du nicht gewesen bist; du bist aber immer gut gewesen, und immer allmächtig und deshalb machtest du alles, was du gemacht hast, gut. Du also, der du immer gewesen bist, bist und sein wirst, und bist nicht vom Nichtsein zum Sein gelangt, sowie du immer das Sein hattest, so hattest du auch stets Güte und Allmacht. Und deshalb hast du kein anderes Wesen, als Güte und Allmacht; sondern eben dein Wesen besteht aus Güte und Allmacht. Und darum kannst du nur gut und allmächtig sein, nebst all dem, was man von dir sagt und glaubt.
Du bist aber in Wahrheit, und es gibt nichts als dich, und du hast nur Eines, weil du nicht nur bist, was du bist, sondern nur immer bist, was du bist. Das Geschöpf aber, das kein beständiges Sein hat, sondern das von Nichtsein und durch dich und von dir zum Sein gelangte, der du stets Sein hattest, hat zu seinem Wesen nicht Güte und Macht; sondern wenn es gut ist, und Gutes tun kann, so ist es von dir gut, und kann von dir Gutes tun, der du deinem Wesen nach gut und allmächtig bist. Du hast aber jedes Geschöpf gut gemacht, dennoch aber gabst du nicht jedem Geschöpfe, wenn es auch von dir gut erschaffen worden ist, die Vernunft, dich zu begreifen. Und obgleich jedes Geschöpf dich preist, dich laut als seinen Schöpfer und Regierer bekennt, so begreift dich doch nicht jedes Geschöpf, sondern nur das Vernünftige, und das, welches du nach deinem Bild und deiner Ähnlichkeit gemacht hast.
IV. Dass jedes Geschöpf seinen Schöpfer preise.
Dich preist auch jenes Geschöpf, dem du die Gabe der Einsicht nicht gegeben hast, wenn das vernünftige Geschöpf sieht, dass du es gut gemacht und schön geordnet hast; und das heißt, dass du von ihm gepriesen werdest, vom vernünftigen Geschöpfe, dass man nämlich einsieht, du hast es gut gemacht und schön geordnet. Zwischen der menschlichen Natur aber, die du vernünftig gemacht hast, und jener Natur, der du die Gabe der Einsicht nicht gegeben hast, machtest du den Unterschied, dass die menschliche Natur, der zu lieb du ein anderes Geschöpf gemacht hast, über dasselbe deinem Willen gemäß verfügen, und von ihm mit deiner Bewilligung Nahrung zu seinem Unterhalte bekommen sollte.
Weil aber der Mensch aus zwei Naturen besteht, nämlich aus Seele und Fleisch, so bekommt er die Nahrung, von der er dem Fleische nach lebt, vom Geschöpfe; wovon er aber der Seele nach lebt, das bekommt er vom Schöpfer, beides jedoch aber vom Schöpfer. Der Mensch lebt aber inzwischen hier dem Fleische nach, indem er von den menschlichen Speisen genährt wird; er lebt aber der Seele nach, indem er den Willen und die Gebote seines Schöpfers beobachtet. Und gleichwie er dem Fleische nach stirbt, wenn er von menschlichen Speisen nicht unterhalten wird, so stirbt er dem Geiste nach, wenn er den göttlichen Geboten nicht gehorcht. Der Mensch also, der aus Seele und Fleisch besteht, lebt nach Fleisch und Seele dadurch, dass er Gottes Gebote erfüllt, weil er durch diese Handlungsweise verdient, glückselig mit seinem Schöpfer im ewigen Leben zu leben. Sucht er aber der Vollziehung der Gebote seines Schöpfers aus dem Wege zu gehen, und wünscht er mehr nach fleischlichen Gelüsten zu leben, so ist das kein wahres Leben, sondern das heißt sich unglücklich das Leben nehmen; würde ihn Jemand genau betrachten, so würde er an einem solchen nicht das Bild jenes Menschen sehen, der nach dem Bild Gottes gemacht worden ist, sondern das Bild eines Viehs, dessen Betragen er geschäftig nachahmt, und dann kann man in Wahrheit behaupten, er sei tot, indem er ohne Zweifel dem ewigen Tode verfallen wird, sollte er dabei bis an sein Ende beharren.
V. Worin der Mensch seinem Schöpfer ähnlich ist.
Gott aber schuf den Menschen nach seinem Bild und seiner Ähnlichkeit, weil er ihn vernünftig erschaffen hat. Und gleichwie Gott mit Willen gut ist, so ist der Mensch mit Willen gut, weil er nach seiner Ähnlichkeit erschaffen worden ist; darin seinem Schöpfer ähnlich, weil der Schöpfer mit Willen gut ist, wie der Mensch; aber mit dem Unterschiede, dass der Schöpfer von sich selbst und seinem Wesen nach gut ist; der Mensch aber gut ist, weil er den nachahmt, der ewig und wesentlich von sich selbst gut. Der Schöpfer ist aber, wie gesagt, mit Willen gut, der Mensch nach der Ähnlichkeit mit seinem Schöpfer ist mit dem Willen gut, aber mit dem Unterschiede, dass der Schöpfer nicht anders will und kann, als gut sein, denn Wille und Macht hat er zu seinem Wesen. Der Mensch hat aber Wille und Macht anders denn als Wesen.
Stimmt er jedoch mit dem Willen Gottes überein und will er eben das, was Gott will, so stellt er das Ebenbild Gottes in sich dar. Und wenn er dabei bis an sein Ende beharrt, so erwirbt er es sich durch die göttliche Barmherzigkeit, dass er auf ewig dem Willen seines Schöpfers anhängt und sich nicht mehr von ihm losreißen lässt. Und wie es hierauf immer gehen wird, wie es gehen wird, so wird es immer nach seinem Willen gehen. Und wie der Schöpfer kein anderes Wesen hat, als seinen Willen, und keinen andern Willen als sein Wesen, so wird der Mensch, wenn er nun in der Seligkeit selbst lebt, nach seiner Art durch ein Geschenk seines Schöpfers einen Willen haben, so unwandelbar wie sein Wesen, das zweifelsohne Alles, was es will, so können wird, wie zweifelsohne sein Wesen selig fortbestehen wird. Und alsdann wird der Mensch einen freien in Wahrheit von allem Bösen gänzlich befreiten Willen haben, demgemäß, dass er inzwischen hier bei seinen Lebzeiten mit Hilfe der Gnade Gottes den Willen hat, zu tun, was Gott befohlen hat, zu lassen aber, was er verbietet.
VI. Dass der Mensch in zwei Naturen lebe, von denen die eine zum Höchsten strebt, die andere zur Tiefe hinabgedrückt wird.
Der Mensch aber besteht aus zwei Naturen: aus der Natur der Seele und aus der Natur des Fleisches. Die Natur der Seele aber strebt, weil die Seele geistig ist, von Natur zum Höheren; die Natur des Fleisches aber strebt, weil das Fleisch von der Lust in fleischliche Begierden übergeht, gleichsam naturgemäß nach Unten. Zwischen diesen zwei Naturen aber, aus denen der Mensch besteht, steht der Wille, gleichsam als freie Entscheidung die Mitte haltend. Stellt er sich mit dieser freien Entscheidung auf die Seite der Seele, die naturgemäß zum Höheren strebt, dann erheben Seele und Wille (jedoch nur unter Beistand der göttlichen Gnade) das Fleisch mit sich aufwärts zur Höhe und weisen ihm seine endlos siegreiche Stellung in der ewigen Seligkeit an, so dass nun ferner entfernt kein Streit mehr zwischen Fleisch und Seele besteht, sondern stets gleiche Liebe, und gleicher Wille. Und dann wird der Schöpfer und der erschaffene Mensch, den er nach seinem Bild und seiner Ähnlichkeit erschaffen hat, einen Willen haben, wann Gott Alles in Allem ist. Tritt er aber mit der nämlichen freien Entscheidung auf die Seite der Lüste des Fleisches, das gleichsam natürlich nach Unten strebt, dann ziehen der Wille, indem er einen bösen Gebrauch von der freien Entscheidung macht, und das Fleisch die Seele, die der Hilfe von Oben beraubt ist, nach Unten, und die Sünden des Menschen versenken den ganzen Menschen selbst, nämlich Seele und Fleisch ins Verderben, so dass er hinfort nur Böses hat, oder nichts als Qual leidet.
VII. Hier fleht der Mensch Gott an, er möchte ihn von der freien Entscheidung keinen schlimmen Gebrauch machen lassen.
O süßester Herr, o mein mildester Gott, mein Schöpfer, mein Heil, mein Leben, meine Hoffnung und Trost, meine Zuflucht, durch deine Gnade und mildeste Barmherzigkeit regiere und erhalte meine freie Entscheidung, dass ich sie nicht schlimm anwenden und dich meinen süßesten Schöpfer dadurch nicht beleidigen kann, und so oft ich Wohlgefallen am Bösen habe, vernichte und verwirre jede böse Lust in mir, bevor ich sie mit dem Werke vollziehe. Lieber will ich von dir, süßester Vater, entweder wider Willen gezogen, oder sogar mit eisernen Ketten gebunden in irgend einen Winkel deines Hauses geworfen, als von dir getrennt werden, wo ich, wenn ich auch nicht in dein mildestes Angesicht wegen meiner Sünden blicken kann, wenigstens die Wonne und Freude jener, die dir dienen, zu vernehmen vermag.
Wer, süßester Schöpfer der Menschen, kann deine unaussprechliche Güte schätzen, mit der du die menschliche Natur so sehr geliebt hast, dass du sie nicht bloß schufst, als sie nicht war, sondern du ihr Schöpfer aus Liebe zu ihr selbst ein Geschöpf wurdest? Wessen Herz sollte so hart, so eisern sein, dass es deine so große Liebe gegen den Menschen, dein Geschöpf, wissen und verstehen sollte, und sich nicht erweichen und ganz auflösen ließe in Dank und Verehrung deiner Süßigkeit? Wahrhaftig, meine Seele, wahrhaftig, mein Herz, und mein ganzes Inneres, es ist ein Wunder, wenn ihr je so große Liebe und so große Milde eures Schöpfers vergessen könnt. Siehe, armer Mensch, was dein Schöpfer, was dein Herr getan hat. Er der stets Sein hat, und stets Sein hatte, der Unveränderliche und Unsichtbare, der Unschätzbare und Unfassliche, der auf eine unaussprechliche Weise sein Sein nicht von sich lässt, hat sich für dich entäußert, als er für dich ein Geschöpf werden wollte, um dich, der du vom Nichtsein zum Sein gelangtest, für sich, der nicht vom Nichtsein zum Sein gelangt ist, sondern der stets Sein hatte, freundlicher wieder zu gewinnen, den Wiedergewonnenen und gänzlich zu seiner alten Würde Umgestalteten zu sich zurückzuführen, damit du stets glücklich und vergnügt dich mit ihm in seiner ewigen Herrlichkeit ewig freuen solltest. Siehe, mein Gott und mein Schöpfer, siehe du siehst, wohin mich mein Denken geführt hat, und welch großen Eitelkeiten und Torheiten dennoch meine unglückliche Seele bei diesem Gedanken unterworfen ist. Wenn mich einmal deine Gnade anblickt und ich es zu bedenken anfange, welchen Nutzen es für meine Seele habe, so sinkt mein unbeständiger, und von allem Guten beinahe leerer Geist schnell zum Eitlen und Schädlichen herab, wie die Spreu, die der leichteste Windstoß von der Tenne wegbläst. Da du nun, mein Schöpfer, die so große Unbeständigkeit meines Geistes, so stumpf und träg zum Nachdenken über das, was nützlich ist, siehst, so blicke nicht darauf, dass ich ein Sünder bin. Ich bekenne, ich bekenne es, ich bin ein Sünder, bin unwürdig, bin unrein, und doch weiche ich nicht von dir, süßester Jesus Christus, du magst wollen oder nicht, ich lasse dich nicht, wenn ich auch mit schwacher Hand dich halten werde, und du wirst nicht von wir weichen, bis du mich von jedem Gedanken an die Sünde befreiest. Schlage mich, bessere mich, und strafe mich, und züchtige so lange deinen Knecht, bis du mich durch deine unsägliche Güte zur Herrlichkeit deiner Anschauung führst.