Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Fünfzehnte Betrachtung. Über die Erinnerung an die vergangenen Wohltaten Christi, über die Erfahrungen der gegenwärtigen, und die Erwartung der zukünftigen.
Was zur Liebe Gottes erweckt, soll Niemand zu hören verdrießen; man liest aber im Evangelium, dass zwei Schwestern den Herrn heftig geliebt haben, und obgleich beide Gott und den Nächsten liebten, so war doch Martha besonders mit gefälligem Betragen gegen den Nächsten beschäftigt, während Maria aus der göttlichen wahren Quelle der Liebe schöpfte (Luk. 10,39-42). Zur Gottesliebe aber gehören zwei Stücke: die Gesinnung des Geistes und die Beschaffenheit des Werkes. Und zwar beim Werke kommt es auf die Ausübung der Tugenden, bei der Gesinnung des Geistes aber auf die Süßigkeit geistigen Geschmacks an. Die Ausübung der Tugenden empfiehlt sich durch eine bestimmte Lebensweise, durch Fasten, Wachen, das Werk, das Lesen, Beten, Schweigen, durch Armut und Anderes der Art; die Gesinnung nährt sich durch heilsame Betrachtung. Damit also jene so süße Liebe zu Jesus in deiner Gesinnung wachse, bedarfst du einer dreifachen Betrachtung, nämlich über das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige, das heißt über die Erinnerung an das Vergangene, über die Erfahrung des Gegenwärtigen, über die Erwägung des Zukünftigen. Wenn nun dein Geist frei von lärmenden Gedanken, gereinigt durch Ausübung von Tugenden ist, so wende deine bereits hell gemachten Augen auf das, was hinter dir liegt, und schlage zuerst mit Maria, wie sie in ihr Kämmerchen eintritt, die Bücher auf, in welchen das Gebären der Jungfrau und Christi Ankunft prophezeit wird. Dort warte auf die Ankunft des Engels, um ihn eintreten zu sehen, seinen Gruß zu hören, um so voll Staunen und Entzücken die süßeste Maria, deine Herrin, mit dem grüßenden Engel zu grüßen, indem du laut in die Worte ausbricht: Sei gegrüßt, Maria (Luk. 1,27) usw. Indem du das öfter wiederholst, betrachte, was das für eine Fülle von jener Gnade ist, von der die ganze Welt Gnade entlehnt hat, was für ein Wort Fleisch geworden ist, und bewundere den Herrn, der Himmel und Erde erfüllt, und sich doch in den Leib eines einzigen Mädchens einschloss, das der Vater heiligte, der Sohn fruchtbar machte, der heilige Geist überschattete. O süße Herrin, von wie großer Süßigkeit warst du trunken, von welchem Liebesfeuer entzündet, da du im Geiste und Leibe die Gegenwart so großer Majestät empfandst, da er sich Fleisch von deinem Fleische nahm und die Glieder, in denen leiblich die ganze Fülle der Gottheit wohnen sollte (Kol. 2,9), von deinen heiligen Gliedern sich zurecht machte. Das alles um deiner willen, o Jungfrau, damit du die Jungfrau, der du nachzuahmen dir vorgenommen, liebst und den Sohn der Jungfrau, mit dem du vermählt wardst.
Jetzt steige nun mit deiner süßesten Herrin auf das Gebirge, schau, wie die Unfruchtbare und die Jungfrau sich umarmen, und die freundliche Begrüßung, wobei der kleine Knecht den Herrn, der Herold den Richter, die Stimme das Wort, der im Bauche der Alten Verschlossene den im Leibe der Jungfrau Eingeschlossenen nicht nur erkannte, sondern auch mit unsäglicher Freude grüßte. Selige Leiber, in welchen der Heiland der ganzen Welt erscheint und nach Vertreibung der Finsternisse der Traurigkeit mit ewiger Freude prophezeit wird. Laufe, laufe doch herbei, mische dich so großer Freude bei, fall nieder zu den Füßen beider und umarme im Leibe der Einen deinen Bräutigam, im Bauche der Andern aber verehre seinen Freund. Von hier aus begleite Maria mit aller Andacht nach Bethlehem, kehre in die Herberge ein, stelle dich zu ihr und diene der Gebärenden; und wie das Kind in der Krippe liegt, brich aus in Jubel und rufe mit Isaias: Ein Kind ist uns geboren und ein Sohn uns geschenkt worden (Jes. 9,7), und umfasse jene süße Krippe. Liebe mäßige die Scheue, Zuneigung vertreibe die Furcht, dass du die Lippen auf die heiligsten Füße heften magst, und Küsse auf die Knie. Hierauf überlege im Geiste die Wachen der Hirten, bewundere das Heer der Engel, mische deine Bitten unter die himmlische Melodie und singe mit Herz und Mund zugleich: Ehre Gott in der Höhe (Luk. 2,14).
Übergehe bei deiner Betrachtung die Geschenke der Magier nicht, noch lasse den Flüchtling nach Ägypten ohne Begleitung. Mit andächtigen Augen betrachte Jesum, wie er an den süßen Mutterbrüsten wie ein Kind saugt, und wie ein Kind die Mutterbrust hält, zur Mutter emporlächelnd. Was gibt es Lieblicheres zu sehen? Was Ergötzlicheres? Schau den, der unermesslich ist, mit Kindesarmen am Halse der Mutter hängen, und sprich: Glücklich bin ich, und noch glücklicher, indem ich den sehe, den Könige zu sehen wünschten, und nicht sahen (Matth. 13,17). Er verdient angesehen zu werden, der der schönste von Gestalt unter den Menschenkindern ist (Ps. 44,3).
Denke, und überdenke, welche Gesinnung und Gedanken diese seine süßeste Mutter beherrschten, als sie jenen so großen und doch so kleinen Herrn in ihren Armen jauchzend und fröhlich hielt, als sie häufig nach ihm sah und ihre Freude wie an einem spielenden Kinde hatte, wenn sie ihn beim Weinen auf ihren Knien auf alle mögliche Art zu beruhigen suchte, wenn sie ihm emsig mit einer Liebkosung nach der andern schmeichelte, wobei die mütterliche Liebe sie unterwies, nach wechselnder Beschaffenheit. Stelle dir vor, wie wahr es sei, dass es von ihm heißt, er sei auf dem Wege unter die Räuber gefallen, und durch ein gewisses Kind befreit worden. Es war dies, wie man sagt, der Sohn eines Räuberhauptmanns, der das Kind raubte, als er es im Schoß der Mutter sah, in seinem so schönen Gesichte aber eine so große Majestät wahrnahm, dass er nicht zweifelte, es sei etwas Übermenschliches, und in süßer Liebe es umarmte und sprach: o seligstes der Kinder, kommt anders eine Zeit der Erbarmung für mich, dann gedenke meiner und vergiss dieser Zeit nicht. Man sagt, das sei der Räuber gewesen, der bei der Kreuzigung zur Rechten Gottes den andern, als er lästerte, strafte mit den Worten: Fürchtest auch du Gott nicht (Luk. 23,40) usw., wie er sich aber zum Herrn wandte, sah er an ihm jene Majestät, die er an dem Kinde schon gesehen hatte, erinnerte sich wohl noch der Verabredung und sprach: Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst (Ebends. 42). Nach meiner Meinung wird man diese Meinung mit Nutzen zur Entzündung der Liebe verwenden können, mit Entfernung jeder unbesonnenen Behauptung.
Solltest du überdies nicht dafür halten, es werde dir noch mehr Annehmlichkeit gewähren, wenn du ihn zu Nazareth als Knaben unter Knaben betrachten, wenn du zusehen magst, wie er der Mutter gefällig sich zeigt, dem Nährvater bei seiner Arbeit behilflich ist? Wie, wenn du ihn, wie er zwölf Jahre alt mit seinen Eltern nach Jerusalem hinaufgeht und bei ihrer Rückkehr, ohne dass sie es wissen, in der Stadt bleibt, mit seiner Mutter suchen magst? O wie reichliche Tränen werden fließen, wenn du vernimmst, wie die Mutter den Sohn mit einer Art süßen Tadels straft: Sohn, warum hast du uns also getan? (Luk. 2,48.)
Wenn es aber Freude macht, dem jungfräulichen Bräutigam zu folgen, wohin immer er gehen mag (Offenb. 14,4), so forsche nach seinen höheren und verborgeneren Geheimnissen, um am Jordanflusse in der Stimme den Vater zu vernehmen, im Fleische den Sohn, in der Taube den heiligen Geist zu sehen. Dort zur geistigen Hochzeit geladen empfängst du den Bräutigam als Geschenk vom Vater, die Reinigung vom Sohne, das Pfand der Liebe vom heiligen Geiste. Sodann gab für dich der geliebteste Jesus den Geheimnissen der Einsamkeit ihre Weihe, und dem Fasten, dem du dich zu unterziehen hast, seine Heiligung, indem er dich im Kampfe mit einem listigen Feinde unterrichtet. Das ist dort geschehen, für dich geschehen, und du sollst sorgfältig Acht haben, wie es geschehen ist. Liebe den, durch den es geschehen ist und ahme das Geschehene nach.
Jetzt falle dir jenes auf dem Ehebruche ergriffene Weib ein, und erinnere dich, was Jesus um seine Ansicht befragt getan oder gesagt hat. Er blickte zur Erde nieder, um die Angeklagte durch Anblicken nicht etwa zu sehr zu beschämen. Denn indem er auf die Erde schrieb, zeigte er damit auf ihren mehr irdischen als himmlischen Sinn, und sagte daher: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie (Joh. 8,7). O wunderbare und unzerstörliche Güte Christi! Wie mit Recht konnte er verurteilen, schau, wie milde und vorsichtig er lossprach. Denn da sein Ausspruch Alle getroffen und aus dem Tempel hinausgetrieben hatte, so stelle dir vor, wie mild er jene angeblickt, mit welch süßer und lieblicher Stimme er das Wort ihrer Lossprechung vorgebracht haben mag? Sicher hat er geseufzt, geweint, als er sprach: Weib, hat dich Niemand verurteilt (Ebends. 10) usw. Glücklich, wenn ich so sagen darf, war dieses ehebrecherische Weib, da sie von dem Vergangenen losgesprochen, über das Zukünftige beruhigt wird. Wenn du guter Jesus sagst: so will auch ich dich nicht verurteilen (Eds. 11), wer wird verurteilen? Gott ist es, der rechtfertigt, wer mag verurteilen? (Röm. 8,33.34.) Übrigens soll man hören, was du noch gesprochen hast: Gehe und sündige nun nicht mehr (Joh. 8,11).
Nun tritt ein in das Haus des Pharisäers, und habe Acht auf deinen Herrn, der dort beim Mahle sitzt, nahe seinen Füßen mit der seligsten Sünderin, benetze sie mit Tränen, trockne sie mit deinen Haaren, schmeichle ihnen mit Küssen, tue ihnen mit Salben gütlich. Ergießt sich nicht schon der Heilige Geruch jener Flüssigkeit über dich? Verweigert er dir noch seine Füße, so halte an, bete, erhebe die tränenschwere Augen, und erpresse deine Bitte mit deinem Ächzen und unsäglichen Seufzern. Ringe mit ihm, wie Jakob (1. B. Mos. 32,24), dass er selbst sich über seine Besiegung freut. Scheint es dir einmal, er wende die Augen weg, verschließe die Ohren, verberge die ersehnten Füße; so halte du nichtsdestoweniger an, ob es gelegen oder ungelegen ist (2. Timth. 4,2), rufe: Wie lange soll ich rufen, ohne dass du erhörst? (Habk. 1,2.) Gib mir wie der, guter Jesus, die Freude deines Heils (Ps. 50,14); denn zu dir spricht mein Herz, dein Angesicht suche ich, dein Angesicht begehre ich (Ps. 26,8). Sicher wird er seine Füße der Jungfrau nicht versagen, die er der Sünderin zum Küssen überließ.
Aber gehe auch an jenem Haus nicht vorüber, wo man den Gichtbrüchigen durch das Dach vor seine Füße herablässt, wo Milde und Gewalt sich begegneten. Sohn, sprach er, deine Sünden werden dir erlassen (Mat. 9,2). O wunderbare Nachsicht, o unaussprechliche Barmherzigkeit! Der Glückliche erhielt für seine Sünden die Verzeihung, um die er nicht bat, der kein Bekenntnis vorausgegangen war, die keine Genugtuung verdient hatte, keine Zerknirschung erheischte. Um körperliches, nicht um Seelenheil bat er, und bekam sowohl leibliches als auch Seelenheil. Wahrhaftig, Herr, in deinem Willen liegt das Leben, wenn du unser Heil beschließt, wird Niemand ein Hindernis machen können. Hast du es anders beschlossen, so gibt es Niemand, der zu sagen wagte: Warum handelst du so? Pharisäer, was murrst du? Oder ist dein Auge bös, weil er gut ist? (Mat. 20,15). Er erbarmt sich ja, über wen er will (Röm. 9,18); weinen und beten wir, dass er will. Auch durch gute Werke soll das Gebet fest, die Andacht größer, die Liebe geweckt werden. Beim Gebet muss man reine Hände erheben, die kein unreines Blut besudelt, keine unerlaubte Berührung beschmutzt, kein Geiz verhärtet hat, auch das Herz soll man ohne Zorn und Zank erheben, Ruhe soll es gestillt, Frieden beruhigt und ein reines Gewissen gewaschen haben. Aber wie wir lesen, hat dieser Gichtbrüchige nichts von diesem vorausgeschickt, und doch liest man von ihm, er habe die Vergebung aller Sünden verdient. Das ist aber eine Wirkung seiner unaussprechlichen Barmherzigkeit, der etwas abzusprechen, ebenso gotteslästerlich als es die größte Torheit, sich darauf zu verlassen. Er kann, zu wem er will, ebendas sagen, was er zum Gichtbrüchigen gesagt hat: Deine Sünden werden dir vergeben. (Matth. 9,5). Aber jeder, der darauf wartet, es werde das zu ihm gesagt werden, ohne Anstrengung von seiner Seite, oder Zerknirschung, oder Bekenntnis, oder auch ohne Gebet, nie werden ihm die Sünden erlassen.
Aber man muss von hier weg und nach Bethanien gehen, wo die heiligsten Freundschaftsbündnisse durch den Herrn geweiht werden. Denn Jesus liebte Martha, Maria und Lazarus (Joh. 11,5). Dass es so heißt wegen des besonderen Vorrechtes der Freundschaft, mit dem jene mit vertraulicher Zuneigung an einander hingen, wird Niemand bezweifeln wollen. Zeuge sind jene süßen Tränen, die er vergoss, als er mit den Weinenden weinte, die das ganze Volk für ein Zeichen seiner Liebe erklärte. Seht, hieß es, wie er ihn liebte (Joh. 11,36). Und sie bereiten ihm ein Abendmahl daselbst, und Martha bediente; Lazarus aber war einer der Tischgenossen. Maria aber nahm eine Balsambüchse mit Salbe (Joh. 12,2.3) usw. Freue dich doch, diesem Mahle beizuwohnen. Unterscheide, was jeder Einzelne für eine Verrichtung hat. Martha bediente, Lazarus saß zu Tische, Maria salbt. Letzteres ist deine Sache: zerbrich dort die Büchse deines Herzens und Alles was du von Andacht, von Liebe, von Sehnsucht, von Zuneigung hast, das gieße ganz aus über das Haupt deines Bräutigams, indem du Gott in dem Menschen, und den Menschen in Gott anbetest. Wenn der Verräter brummt, murrt, neidisch ist, wenn er Andacht Verschwendung nennt, so kümmere es dich nicht. Wozu, sagt er, diese Verschwendung? Man hätte diese Salbe teuer verkaufen können (Mrk. 14,4 usw.). Der Pharisäer murrt aus Neid über die Bußfertige, Judas murrt aus Neid über das Vergießen der Salbe. Aber der Richter nimmt die Anklage nicht an, spricht die Angeklagte los. Lasst sie, sprach er: denn ein gutes Werk (Ebends. 6) usw. Arbeiten mag Martha, bedienen, dem Gaste die Herberge bereiten, dem Hungernden Speise, dem Dürstenden Trank, das Kleid dem Frierenden. Ich halte es allein mit Maria und sie mit mir. Sie bietet Alles, was sie hat; so erwarte sie von mir Alles, was sie wünscht. Denn wie? Sorgst du für Maria, indem du die Füße verlässt, die sie mit süßen Küssen bedeckt, indem du die Augen wegwendest von jenem schönsten Angesichte, das sie betrachtet, indem du das Gehör wegwendest von seiner süßen Rede, an der sie sich erquickt?
Stehen wir nun aber auf und gehen von da weiter. Wohin? sagst du. Doch nur, um den auf dem Esel sitzenden Herrn Himmels und der Erde zu begleiten, und voll Verwunderung über so Großes, das dir zu lieb geschieht, dein Lob in das der Kleinen zu mischen, indem du in die Worte laut ausbrichst: Hosanna dem Sohne Davids (Matth. 21, 9) usw.
Nun steige mit ihm hinauf zum großen eingerichteten Speisesaal (Mrk. 14,15), und wünsche dir Glück zur Teilnahme an den Freuden des heilsamen Abendmahls. Liebe überwinde die Scheu, Zuneigung verbanne die Furcht, dass er wenigstens von den Brosamen jenes Tisches dem Bettler ein Almosen gebe. Wenigstens stelle dich in einige Entfernung und gib wie ein Armer auf den Reichen Acht, strecke die Hand aus, um etwas zu bekommen, verrate deinen Hunger durch Tränen. Wenn er aber vom Mahle aufsteht und das Leintuch anzieht, und das Wasser in das Becken gießt (Joh. 13,4.5), so bedenke, welche Macht Menschenfüße abwäscht und trocknet, welche Güte die Fußsohlen des Verräters mit heiligen Händen berührt. Warte und erwarte und gib ihm zu allerletzt deine Füße zum Abwaschen, weil der, den er nicht gewaschen hat, keinen Teil an ihm haben wird (Ebds. 8). Warum willst du jetzt eilig weggehen? Halte dich noch ein wenig auf. Siehst du denn nicht, ich bitte dich, wer das ist, der an seiner Brust liegt (Ebds. 25), und sein Haupt an seinen Busen lehnt? Glücklich, wer immer das ist. gewiss, stehe schon sehe ich es. Er heißt Johannes. O Johannes, welche Süßigkeit, welche Gnaden und Lieblichkeit, welches Licht und welche Andacht schöpftest du dir aus jener Quelle? Gewiss sind dort alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft verborgen (Colss. 2, 3). Dort ist die Quelle der Barmherzigkeit, dort die Wohnung der Milde, dort der Honig ewiger Lieblichkeit. Wie kommst du, Johannes, zu diesem Allem? Bist du erhaben über Petrus, heiliger als Andreas, oder mehr als die übrigen Apostel in Gnaden? Das ist das besondere Vorrecht der Jungfräulichkeit, weil du Jungfrau bist, erwählt vom Herrn, und unter den Übrigen mehr geliebt. Jauchze nun, Jungfrau, tritt näher herzu und verschiebe es nicht, einen Teil dieser Süßigkeit in Anspruch zu nehmen, wenn du es nicht so weit bringen kannst, überlass dem Johannes die Brust, wo er sich im Weine der Wonne im Gedanken an die Gottheit berauscht; lauf du zu den Brüsten der Menschheit und drücke die Milch aus, um dich damit zu nähren. Inzwischen, während er in jenem heiligsten Gebete seine Jünger dem Vater mit den Worten empfahl: Vater, erhalte sie in deinem Namen (Joh. 17,11), neige dein Haupt, um zu verdienen, zu vernehmen: Ich will dass, wo ich bin, auch sie bei mir sind (Ebends. 24).
Es ist gut für dich, hier zu sein, aber man muss fortgehen. Er selbst wird zum Ölberge vorangehen, geh du ihm nach. Und wenn er auch den Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus geheimnisvoll besonders nimmt, so schau wenigstens von ferne, wie er unsere Not auf sich nimmt. Siehe, wie der, dem Alles gehört, anfängt, zu zagen und missmutig zu sein. Betrübt ist, spricht er, meine Seele (Matth. 26,38) usw. Wie so, mein Gott? So leidest du mit mir und zeigst dich als Menschen, um gewissermaßen nicht zu wissen zu scheinen, dass du Gott bist. Auf das Angesicht wirfst du dich nieder zum Gebete, und der Schweiß ward (Luk. 22,44) usw. Was stehst du, laufe herbei und schlürfe jene süßesten Tropfen, und lecke den Staub seiner Füße. Schlafe nicht mit Petrus, damit du es nicht verdienst, zu hören: So könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? (Mat. 26,40.)
Aber siehe nun tritt er dem Verräter, der an der Spitze des gottlosen Haufens geht, entgegen, und während Judas den Kuss bietet, legt man die Hände an Jesum, seinen Herrn, nimmt ihn fest, und fesselt jene süßen Hände. Wer mag es ertragen? Ich weiß es, nun bemächtigt Liebe sich deines Herzens, Eifer entflammt dein ganzes Inneres. Lass, ich bitte, ihn leiden, der für dich leidet. Was wünschst du ein Schwert? was zürnst du? was bist du unwillig? Wenn du aber wie irgend ein Petrus abhaust, wenn du dir mit Eisen den Arm abnimmst, wenn du den Fuß abhaust, so wird er Alles ersetzen. Ja, wenn du auch tötest, wird er ohne Zweifel erwecken. Folge ihm vielmehr bis in den Vorhof des Hohepriesters, und wasche du sein so schönes Angesicht, das sie mit Speichel besudeln, mit Tränen. Schau, mit welchen milden Augen, wie barmherzig, wie wirksam er den zum dritten Mal verleugnenden Petrus angeblickt, als jener sich umwandte, in sich ging und bitter weinte. Möchte, guter Jesus, dein süßes Auge mich anschauen, der ich so oft bei der Stimme der frechen Magd, nämlich meines Fleisches, dich mit den schlimmsten Werken und Neigungen verleugnet habe. Aber nun, da es Morgen geworden, wird er dem Pilatus übergeben, dort angeklagt, und er schweigt, weil er wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt ist (Jes. 53,7. Apstlg. 8,32). Schau, gib Acht, wie er vor dem Landvogte steht, mit. niedergeschlagenen Augen, ruhiger Miene, wenigen Worten, bereit Beschimpfungen zu erdulden, willig Schläge hinzunehmen. Ich weiß es, du kannst es nicht länger aushalten, weder wirst du es mit ansehen können, wie sein süßester Rücken von Geißeln aufgerieben, noch wie sein Angesicht mit Maulschellen geschlagen, noch wie jenes zarte Haupt mit Dornen gekrönt, noch wie die Rechte, die Himmel und Erde regiert, mit einem Rohre entehrt wird. Siehe er wird hinausgeführt, gegeißelt, während er die Dornenkrone und das Purpurkleid trägt, und Pilatus spricht: Seht, der Mensch (Joh. 19,5). Wahrhaft ein Mensch ist es, wer möchte zweifeln? Zeugen sind die Rutenmale, die Blutflecken, der Schmutz des Speichels. Nun erkenne, Zabulus, er ist Mensch. Er ist in Wahrheit Mensch, sagst du. Aber was ist es mit ihm, sagst du. Aber was ist es, dass er bei so vielen Unbilden nicht zornig wird, wie ein Mensch, nicht erregt wird, wie ein Mensch, über seine Quäler nicht unwillig wird, wie ein Mensch? Also ist er mehr als ein Mensch. Aber wer erkennt ihn? Wohl erkennt man ihn als einen Menschen, der sich die Verurteilung gottloser Erdenkinder gefallen lässt, aber man wird ihn als Gott erkennen, der Gericht hält. Spät nimmst du wahr, Zabulus. Warum meinst du, betrieb das Weib seine Loslassung? Du zögerst mit der Rede. Der Richter sitzt zu Gericht, der Spruch ist gefällt. Schon trägt er sein eigenes Kreuz und wird zum Tode geführt. O Schauspiel! Siehst du es? Siehe seine Herrschaft ist auf seiner Schulter (Jes. 9,6). Das ist die Rute der Billigkeit, die Rute seines Reiches. Man gibt ihm Wein mit Galle vermischt, entkleidet ihn, und teilt seine Gewand unter die Soldaten aus. Der Rock wird nicht zerschnitten, sondern geht durchs Los an Einen über. Seine süßen Hände und Füße werden mit Nägeln durchbohrt, am Kreuz ausgespannt hängt er unter Räubern. Der Mittler zwischen Gott und den Menschen, in der Mitte zwischen Himmel und Erde hängend, einigt das Unterste mit dem Obersten, verbindet das Irdische mit dem Himmlischen. Der Himmel staunt, die Erde jammert. Was du? Es ist kein Wunder, wenn du trauerst, während die Sonne trauert; wenn du bebst, während die Erde bebt: wenn dein Herz zerrissen wird, während Felsen gespalten werden; wenn du mitweinst, während die Weiber neben dem Kreuz weinen. Hierauf betrachte bei dem Allem jene süßeste Brust, welche Ruhe der Milde sie bewahrt hat. Er hat keine Acht auf seine Kränkung, achtet die Strafe nicht, fühlt die Beschimpfungen nicht. Vielmehr hat er gerade mit denen Mitleid, durch die er leidet; er heilt die, von denen er verwundet wird; er sorgt denen für das Leben, von denen er getötet wird. Mit welch' süßem Sinnen, mit welch' hingebendem Geiste, mit welcher Fülle von Liebe ruft er: Vater vergib ihnen! (Luk. 23,34.) Siehe also, Herr, ich bin der Anbeter deiner Majestät, nicht der Mörder deines Körpers; der Verehrer deines Todes, nicht der Spötter über dein Leiden; der Betrachter deiner Barmherzigkeit, nicht der Verächter deiner Schwäche. Also lege deine süße Menschheit Fürbitte für mich ein, empfehle mich deinem Vater deine unsägliche Milde. Sag also, süßer Herr: Vater vergib ihm.
Aber du, Jungfrau, die beim Sohne der Jungfrau mehr Zutrauen hat, als die Weiber, die von Ferne stehen, tritt mit der jungfräulichen Mutter und dem jungfräulichen Jünger hin zum Kreuz und betrachte in der Nähe das von Blässe übergossene Angesicht. Wie nun? Wirst du ohne Tränen, du voll Liebe, deiner Herrin Tränen sehen können? Bleibst du trocknen Auges, und ihre Seele durchdringt ein Schwert? (Luk. 2,35.) Wirst du ohne Schluchzen vernehmen können, wie er zu Maria sagt: Frau, sieh deinen Sohn; und zu Johannes: Siehe deine Mutter? (Joh. 19,26.27.) Ebenso als er dem Jünger die Mutter anvertraute, dem Räuber das Paradies verhieß, durchbohrte hierauf Einer von den Soldaten seine Seite mit einer Lanze (Ebds. 34). Eile, zögere nicht, iss deinen Seim samt deinem Honig (Hohl, 5,1). Trinke deinen Wein mit deiner Milch (Ebends). Das Blut wird dir in Wein gewandelt, damit du trunken wirst. Das Wasser wandelt sich zu Milch, um dich zu nähren. Im Felsen entstehen für dich Flüsse, Wunden in seinen Gliedern,
und an seinem Leibe eine Mauer, eine Höhle. Dort bist du geborgen, wie eine Taube, und küsst Alles nach einander, aus seinem Blute mögen deine Lippen wie ein Purpurstreifen werden, und deine Rede holdselig (Hoh. 4,3).
Aber warte noch, bis jener edle Hauptmann kommt, die Nägel ausziehen und Hände und Füße lösen lässt. Siehe, wie er mit seinen glücklichsten Armen den Leib umfasst, und an seine Brust drückt. Dann konnte jener so heilige Mann sagen: Ein Myrrhenbüschlein ist mein Geliebter (Hoh. 1,12) usw. Gehe dem kostbarsten Schatze Himmels und der Erde nach, und trage teils seine Füße, teils unterstütze seine Hände und Arme, oder sammle wenigstens etwas sorgfältig die Tropfen des langsam abfließenden köstlichsten Blutes und lecke den Staub seiner Füße. Schau überdies, wie süß, wie emsig Nikodemus seine heiligsten Glieder mit seinen Fingern berührt, mit Salben ihrer pflegt, und den in feine Leinwand Gehüllten mit dem heiligen Joseph ins Grab legt (Luk. 19,38-42). Unterlass es überdies nicht, Maria Magdalena zu begleiten, aber gedenke daran, Gewürze zuzurichten und mit ihr das Grab des Herrn zu besuchen. O dass du es verdientest, wie jene mit den Augen, so du im Geiste, jetzt den Engel auf dem von der Tür des Grabes gewälzten Stein zu sehen (Mrk. 16,3-5), jetzt die Verkündiger der herrlichen Auferstehung innerhalb des Grabes einen am Haupt, einen zu den Füßen (Joh. 20,12.); nun Christus selbst, wie er Maria die weinende und trauernde mit so süßem Auge erquickt, mit so lieblicher Stimme anredet: Maria (Ebds. 16). Bei diesem Worte reißen alle Wasserfälle des Hauptes, aus dem Innersten selbst brechen Tränen, Schluchzen und Seufzen kommt von den innersten Eingeweiden herauf. Maria. O Selige, wie war dir zu Sinn, wie zu Mut, als du bei diesem Worte dich niederwarfst, und beim Erwidern des Grußes riefst: Meister (Ebends.) Mit welcher Liebe, ich bitte, mit welcher Sehnsucht und welch' feurigem
Geiste riefst du: Meister? Jetzt verhindern Tränen am Weiterreden, während vor Gefühl die Stimme versagt, und im Übermaß von Liebe die Sinne der Seele und des Leibes dahin sind. Aber, o süßer Jesus, warum hältst du die Liebenden so ab von deinen geheiligten und ersehntesten Füßen? Rühre, sagst du, mich nicht an (Ebds. 17). Wie so, Herr? Warum soll ich jene deine ersehnten für mich mit Nägeln durchbohrten Füße, von Blut überronnen, nicht berühren, nicht küssen? Bist du feindlicher als sonst, weil herrlicher? Siehe, jetzt will ich dich nicht lassen, noch von dir weichen, der Tränen nicht sparen, die Brust wird von Schluchzen und Weinen reißen, wenn ich nicht berühre. Und er sagt: Fürchte dich nicht. Dies Gut wird dir nicht genommen werden, wenn es aufgeschoben wird; gehe jedoch und verkündige meinen Brüdern, ich sei auferstanden (Ebnds.). Sie lief schnell, Willens, schnell wieder da zu sein. Sie ist wieder da, aber mit andern Weibern, denen Jesus selbst entgegenkommend mit freundlichem Gruße ihre Niedergeschlagenheit aufrichtet, sie in ihrer Traurigkeit tröstet (Matth. 28,9). Merke: damals ward gegeben, was zuvor aufgeschoben worden war. Denn sie traten herzu und hielten seine Füße fest (Ebnds.). Hier, Jungfrau, weile so lange als möglich. Diese deine Wonne soll kein Schlaf unterbrechen, kein Lärm von Außen stören. Weil aber in diesem armseligen Leben es nichts Festes, nichts Ewiges gibt; und der Mensch nie auf der nämlichen Stufe verharrt, so muss unsere Seele, während unseres Lebens, gewissermaßen mit verschiedenen Speisen genährt werden. Lasst uns daher von der Erinnerung an Vergangenes zur Erfahrung der Gegenwart übergehen, um auch daraus zu begreifen, wie sehr wir Gott lieben sollen.