Albrecht, Ludwig – Einleitung zum Lukas-Evangelium

Albrecht, Ludwig – Einleitung zum Lukas-Evangelium

Von den neutestamentlichen Schriftstellern ist nur Lukas ein geborener Heide, während alle anderen Juden sind. Nach der kirchlichen Überlieferung stammt er aus Antiochia in Syrien (Euseb. h.e. III, 4.6). Er war von Beruf Arzt (Kol. 4,14). Ein englischer Gelehrter hat in einer gründlichen Abhandlung nachgewiesen, dass der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte ein mit der Kunstsprache der griechischen Arzneikunde völlig vertrauter Mann ist.

In der Stelle Apg. 11,28 heißt es nach einer alten und wahrscheinlich ursprünglichen Lesart von der Gemeinde zu Antiochia bei einem Vorkommnis aus dem Ende des Jahres 40 n. Chr.: „Als wir aber versammelt waren.“ Hier tritt zum ersten Mal in der Apostelgeschichte das „Wir“ auf, ein Beweis, dass Lukas als ein mitanwesender Augen- und Ohrenzeuge redet. Er ist wohl schon damals, Ende 40 n. Chr., ein Glied der Gemeinde zu Antiochia gewesen. Dann mag er durch die griechischen Judenchristen, die nach dem Tod des Stephanus aus Jerusalem flüchteten und in Antiochia predigten, zum Glauben an Christus gekommen sein (Apg. 11,20). Vom Jahr 49 ab finden wir ihn dann als einen Mitarbeiter des Apostels Paulus, mit dem er in Troas zusammentraf (Apg. 16,8-11). Des Lukas Kenntnisse in Bezug auf die Schifffahrt und Seereisen, die sich namentlich in Apg. 27 zeigen, lassen vermuten, er sei als Arzt in den Hafenstädten des Mittelmeeres tätig gewesen. Wenn er bei dieser Tätigkeit seinen Wohnsitz häufig wechselte, so kann es nicht auffallen, dass er sich Ende 40 in Antiochia und kaum neun Jahre später in Troas aufhielt. Er ist wohl schon in Antiochia mit Paulus bekannt geworden, und sein Zusammentreffen mit dem Apostel in Troas beruhte vielleicht auf einer bestimmten Verabredung. Für Paulus konnte bei seinem schweren körperlichen Leiden (2. Kor. 12,7) ein ärztlicher Berater wie Lukas sehr nützlich sein. Und wie treu hat Lukas so viele Gefahren und Beschwerden des Apostels geteilt! Er war bei ihm während seiner Haft in Cäsarea, auf seiner Seereise nach Italien, in seiner ersten Gefangenschaft in Rom. „Nur Lukas ist noch bei mir“, so schrieb Paulus kurz vor seinem Märtyrertod zu einer Zeit, wo er sich in Rom einsam und verlassen fühlte (2. Tim. 4,11). Nach dem Tod des Apostels soll Lukas in Theben, der Hauptstadt der griechischen Landschaft Böotien, gelebt haben und dort im Alter von 84 Jahren ehelos gestorben sein.

Nach der kirchlichen Überlieferung hat Lukas sein Evangelium später abgefasst als Matthäus und Markus (Euseb. h.e. V. 8,3). Diese Nachricht stimmt auch mit dem Zeugnis des Lukas selbst im Eingang seines Evangeliums. Da redet er, der kein Augen- und Ohrenzeuge der Worte und Taten Jesu gewesen ist, von den Quellen, die ihm für seine Arbeit zur Verfügung gestanden haben. Es sind teils schriftliche, teils mündliche. Schriftliche Berichte über die evangelische Geschichte gab es damals schon in reicher Anzahl: denn Lukas erwähnt, dass vor ihm schon viele die Tatsachen aus dem Leben und Wirken Jesu aufgezeichnet hätten. Von allen diesen schon vor dem Werk des Lukas entstandenen Evangelienschriften haben aber nur zwei, wenn auch die erste nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt, unter die heiligen Schriften des Neuen Bundes Aufnahme gefunden: die Evangelien nach Matthäus und nach Markus. Lukas bemerkt nun freilich nicht ausdrücklich, dass er die schriftlichen Arbeiten seiner Vorgänger benutzt habe. Aber dies ist doch eigentlich selbstverständlich, denn ihre Nichtbeachtung würde zu der Sorgfalt, womit er alles einzelne erforscht hat (1,3), im Widerspruch stehen. Das Markusevangelium hat Lukas auf jeden Fall benutzt; denn etwa drei Viertel daraus finden wir, obwohl vielfach mit verändertem Wortlaut, in seinem eigenen Evangelium wieder. Auch mit Markus selbst ist Lukas während der Abfassung des Kolosserbriefes, das heißt vielleicht schon Ende 53 in Ephesus oder in den Jahren 55 bis 57 in Cäsarea bei Paulus zusammen gewesen (Kol. 4,10.14), und bei dieser Gelegenheit, wenn nicht schon früher, wird er auch das Markusevangelium kennengelernt haben. Ebenso scheint er das noch ältere aramäische Matthäusevangelium gekannt und benutzt zu haben. War er auch als Grieche mit der Sprache dieses Werkes nicht vertraut, so fand er außer Paulus manche judenchristliche Glaubensbrüder, z.B. in Cäsarea, die es ihm übersetzen konnten.

Neben vielen schriftlichen Berichten über Jesu Leben und Wirksamkeit hat Lukas reiche mündliche Quellen durch „die Erzählung der ursprünglichen Augenzeugen und Diener des Wortes“ (1,2) für sein Evangelium benutzen können. Er nennt zwar diese seine Gewährsmänner, bei denen er sich nach allem sorgfältig erkundigt hat, nicht einzeln mit Namen; aber wir können doch zum Teil vermuten, wer sie gewesen sind. Als er um Pfingsten 55 mit Paulus in Jerusalem war, hatte er die beste Gelegenheit, dort mit vielen zu sprechen, die Jesus selbst gehört und gesehen hatten. So lernte er namentlich Jakobus, den Bruder des Herrn, kennen und auch alle Ältesten der Gemeinde zu Jerusalem (Apg. 21,18). War Maria, die Mutter Jesu, was ja möglich ist, damals noch am Leben, so konnte er durch ihre eigene Mitteilung namentlich das erfahren, was er in den beiden ersten Kapiteln seines Evangeliums berichtet. Vor seiner Ankunft in Jerusalem machte er ferner die Bekanntschaft des Evangelisten Philippus sowie eines anderen Mannes aus dem ältesten Jüngerkreis, namens Mnason (Apg. 21,8.16). Auch diese beiden konnten ihm vieles Wichtige erzählen. Den Hauptstoff für sein Evangelium wird aber Lukas wohl gesammelt haben, als er in den Jahren 55 bis 57 bei dem Apostel Paulus in Cäsarea weilte. Wie viele der ursprünglichen Augenzeugen und Diener des Wortes konnte er hier auf dem Boden Palästinas kennenlernen, wie vieles aus ihrem Mund hören! Vielleicht hat er auch den Apostel Petrus und andere von den Zwölfen oder einige der fünfhundert Brüder, denen der Auferstandene erschienen ist (1. Kor. 15,6), befragen können. Genug, wir sehen: Lukas hatte eine Fülle von zuverlässigen Quellen zur Verfügung, aus denen er für sein Geschichtswerk schöpfen konnte.

Ist nun aber Lukas auch in dem Stoff für sein Evangelium ganz von anderen abhängig gewesen, so ist er doch in der Darstellung selbständig seinen eigenen Weg gegangen.

Während Matthäus seinen jüdischen Volksgenossen Jesus vor allem als den verheißenen Messias Israels erweist und Markus seinen römischen Lesern namentlich Jesu göttliche Erhabenheit kundtut, schildert Lukas Jesus als den Heiland aller Menschen, der nicht nur den Juden, sondern auch den Heiden Rettung bringt. In dieser Hinsicht trifft das Wort des Kirchenvaters Irenäus zu, Lukas habe das von Paulus verkündigte Evangelium in einem Buch niedergelegt (Euseb. h.e. V,8,3). Denn gerade Paulus bezeugt die Wahrheit, dass in Jesus Christus Gottes Gnade zum Heil aller Welt erschienen ist.

Nur einige Beispiele mögen zeigen, wie in dem Lukasevangelium auch den Heiden die Hoffnung auf das Heil verbürgt erscheint. Bei Jesu Geburt singen die Engel von einem Frieden unter allen Menschen, die Gott wohlgefallen (2,14). Bei der Darstellung des Jesuskindes im Tempel redet der greise Simeon von dem Heil, das Gott vor aller Völker Augen bereitet hat (2,30-32). In seiner Predigt zu Nazareth hebt Jesus selbst hervor, dass schon Elia und Elisa auch den Heiden Gottes Hilfe gebracht haben (4,25-27). Die Stammtafel Jesu führt Lukas nicht nur wie Matthäus bis auf Abraham, sondern bis auf Adam zurück; denn ebenso wie Israel soll auch die ganze Menschheit durch den letzten Adam Heil empfangen. Wie oft wird ferner im dritten Evangelium auf Gottes Gnade, Barmherzigkeit und Langmut hingewiesen1): besonders die in Israel verachteten Zöllner und die Samariter erfahren sie voll Freude und Dankbarkeit; ja der Verbrecher am Kreuz ergreift sie noch im letzten Augenblick (23,39ff.).

Beachtenswert erscheint, dass wir im Lukasevangelium sechs Wunder und 18 Gleichnisreden Jesu finden, die bei Matthäus und Markus gänzlich fehlen2).

Es ist auch darauf hingewiesen worden, wie sehr bei Lukas die Frauen hervortreten. Da sehen wir die weissagende Elisabeth, die Prophetin Hanna, die Witwe zu Nain, die große Sünderin (7,37ff.), die Frauen, die Jesus und seine Jünger aus ihren Mitteln unterstützen (8,2-3), die Schwestern Maria und Martha, die weinenden Töchter von Jerusalem (23,27ff.).

Unter den kirchlichen Gesängen finden sich gerade aus dem Lukasevangelium köstliche Schätze: der Lobgesang der Maria, der Lobgesang des Zacharias, der Gesang der Engel, der Gesang Simeons.

Wie wir bei Matthäus die ruhige Erhabenheit und bei Markus die frische Anschaulichkeit der Darstellung bewundern, so zeichnet sich Lukas aus durch innige Zartheit, verbunden mit Schönheit des Ausdrucks und Klarheit der Gedanken. Offenbar ist seine griechische Bildung seiner Schreibweise sehr zugute gekommen. Ja Lukas ist geradezu ein Meister des Stils. Wie sicher er das Griechisch der edlen Schriftsprache beherrscht, davon zeugt vor allem das vollendete Satzgefüge im Vorwort seines Evangeliums (1,1-4). Daneben aber lebt er auch in der Sprache der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der sogenannten Septuaginta, deren sich das Christentum der apostolischen Zeit für seine Predigt und Überlieferung bediente.

Wie die beiden ersten Evangelien, so ist auch das des Lukas zunächst nur eine Privatschrift gewesen. Und zwar widmet Lukas sein Buch einem gewissen Theophilus, von dem wir sonst nichts wissen. Er muss aber, da ihn Lukas mit „hochedel“ anredet (1,3), ein vornehmer Mann gewesen sein, und jedenfalls war er auch ein Christ. Durch mündliche Belehrung war ihm die evangelische Geschichte schon bekannt, und der schriftliche Bericht des Lukas soll ihn nur zu der klaren Einsicht führen, dass alles, was er in dem Unterricht vor seiner Taufe vernommen hat, in jeder Hinsicht wahr und zuverlässig ist (1,4). Der Kirchenvater Origenes behauptet, Paulus habe das Evangelium des Lukas, das dritte der Zahl nach, das für die Gläubigen aus den Heiden geschrieben worden sei, ausdrücklich gutgeheißen (Euseb. h.e. VI, 25,6). Diese Nachricht klingt ganz glaubhaft. Denn was für den einzelnen Heidenchristen Theophilus von Segen war, das konnte auch zur Belehrung und Erbauung aller Heidenchristen nützlich sein. Und dass Paulus die Schrift seines Mitarbeiters Lukas nicht nur gekannt, sondern ihm auch Rat und Anweisung dabei gegeben hat, dies lässt sich nicht bezweifeln, wenn Lukas wirklich schon in den Jahren 55 bis 57 während der Haft des Paulus in Cäsarea den Hauptstoff für sein Evangelium gesammelt und vielleicht auch schon die Niederschrift des Werkes vollendet hat. Nun sagt zwar eine alte Nachricht, Lukas habe sein Evangelium erst nach des Paulus Tod in Griechenland geschrieben, wo er ja auch gestorben sein soll. Diese Nachricht könnte indes auch so verstanden werden, dass Lukas sein Evangelium erst nach dem Tod des Apostels zum Gebrauch für die heidenchristlichen Gemeinden herausgegeben hat.

Doch hier wie in so vielen anderen Punkten der Evangelienfrage sind wir auf bloße Vermutung angewiesen. Es ist ja jedem Bibelleser wohlbekannt, wie ähnlich sich die drei ersten Evangelien in vieler Hinsicht sind. Schon der im Jahr 1827 verstorbene Göttinger Professor Eichhorn hat hervorgehoben, dass 44 Abschnitte darin in Inhalt, Form und Umfang der Darstellung wesentlich übereinstimmen. In der ältesten Kirche scheint nur Augustinus über das Verhältnis der drei ersten Evangelien zueinander nachgedacht zu haben; er meinte, Markus habe das Matthäusevangelium teils wörtlich wiederholt, teils verkürzt. Erst vor etwa 140 Jahren ist dann die Frage durch unseren Dichter Lessing aufgenommen und seitdem in einer Fülle von Schriften erörtert worden. Hinreichend sichere und allgemein anerkannte Ergebnisse hat man aber darin bis heute kaum erzielt, und es ist auch fraglich, ob dies je gelingen wird.

Kurze Übersicht über den Inhalt der Frohen Botschaft nach Lukas

  • Vorwort: 1,1-4.
  • Johannes und Jesu Geburt und Kindheit: 1,5 - 2,52.
  • Die Vorbereitung für Jesu öffentliche Wirksamkeit: 3,1 - 4,13.
  • Jesu Wirken in Galiläa und dem Nachbarland: 4,14 - 9,50.
  • Jesus auf der Reise nach Jerusalem: 9,51 - 19,28.
  • Jesus in Jerusalem: 19,29 - 21,38.
  • Jesu Todesleiden, Auferstehung und Himmelfahrt: 22 - 24.
1)
1,50.78; 4,18-19; 9,55-56; 13,6-9.
2)
Die sechs Wunder sind: 1) Petri Fischzug: 5,1-11; 2) Die Auferweckung des Jünglings zu Nain: 7,11-17; 3) Die Heilung des gelähmten Weibes: 13,10-17; 4) Die Heilung des Wassersüchtigen: 14,15-; 5) Die Heilung der zehn Aussätzigen: 17,11-19; 6) Die Heilung des abgehauenen Ohres: 22,51. - Die 18 Gleichnisreden sind: 1) Vom barmherzigen Samariter: 10,30-37; 2) Von dem Freund um Mitternacht: 11,5-8; 3) Von dem reichen Mann, der das Leben genießen will: 1,16-21; 4) Von den wachsamen Knechten: 12,35-40; 5) Von der Vergeltung: 12,47-48; 6) Vom unfruchtbaren Feigenbaum: 13,6-9; 7) Vom Untenansitzen: 14,7-10; 8) Vom großen Abendmahl: 14,16-24 (verschieden von Matth. 22,1-13); 9) und 10) Vom Turmbauen und vom Kriegführen: 14,28-33; 11) bis 13) Vom verirrten Schaf, vom verlorenen Silberling und vom verlorenen Sohn: Kap. 15,4-32; 14) Von dem untreuen Verwalter: 16,1-12; 15) Von dem reichen Mann und dem armen Lazarus: 16,19-31; 16) Warnung vor Lohnsucht: 17,7-10; 17) Von der bittenden Witwe: 18,1-8; 18) Von dem Pharisäer und dem Zöllner: 18,9-14.
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