Ahlfeld, Friedrich - Weckstimmen - VI. Gottes Tempelbau geht fort mitten unter Sturm und Wetter.

Ahlfeld, Friedrich - Weckstimmen - VI. Gottes Tempelbau geht fort mitten unter Sturm und Wetter.

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.

Text: I. Brief St. Petri, Kap. 2, V. 5-10:
Und auch ihr, als die lebendigen Steine, baut euch zum geistlichen Hause, und zum heiligen Priestertum, zu opfern geistliche Opfer, die Gott angenehm sind durch Jesum Christum. Darum steht in der Schrift: Siehe da, ich lege einen auserwählten köstlichen Eckstein in Zion; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden. Euch nun, die ihr glaubt, ist er köstlich; den Ungläubigen aber ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben, und zum Eckstein worden ist, ein Stein des Anstoßens, und ein Fels der Ärgernis; die sich stoßen an dem Wort, und glauben nicht daran, darauf sie gesetzt sind. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Tugenden des, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. Die ihr weiland nicht ein Volk wart, nun aber Gottes Volk seid, und weiland nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.

In Christo Jesu geliebte Gemeinde. Wo man jetzt hinsieht, stocken alle Werke des Friedens. Wie in einem kranken Leibe oft ein entzündetes Glied alle Säfte und Kräfte an sich zieht, so der Krieg jetzt alle Gedanken. Handel und Wandel liegen darnieder, und man hört ruhige Leute sagen: „Es werden auch im glücklichsten Falle Jahre dazu gehören, ehe der Schade von den wenigen Monaten wieder eingebracht werden kann.“ - Blicken wir in das häusliche Leben, so wird manche Hochzeit, auf die sich beide Teile längst gefreut hatten, weit hinausgeschoben, und manche auf der Erde nie gefeiert. Mancher Bräutigam liegt in den böhmischen Ebenen begraben, und die Braut wird, wenn einst die. Scharen wiederkehren, einen Zug nach den andern mustern; er aber ist in keinem mehr, er ist nach einem andern Vaterlande gezogen. Aber auch Viele von denen, die wiederkehren oder gar nicht ausgezogen sind, sagen und werden sagen: „Vor dem Kriege war der Boden geordnet; ich hatte eine Stellung und eine Zuversicht, eine Familie ernähren zu können. Das ist Alles anders geworden. Nun muss ich warten, bis sich die Verhältnisse wieder ordnen und gestalten.“ Und wer so redet, tut recht; denn wer einen Hausstand gründet, soll auch die Zuversicht haben, dass er unter Glauben und Gebet in Treue und Fleiß die Seinen ernähren kann. Ganz besonders aber liegt Alles darnieder, was in das weite Gebiet des Bauens fällt. Der Krieg baut nicht, er reißt nieder. Wer möchte wohl die Baurisse zählen, die im vorigen Winter gemacht sind, die diesen Sommer zur Ausführung kommen sollten, die aber nun still in den Schrank gelegt sind, und deren Ausführung auf bessere Tage verschoben ist. Das gilt von Privatbauten, von den Bauten der Staaten, der großen Korporationen und auch von Kirchenbauten. Wir hatten ja auch gehofft, dass unser neues Kirchlein auf dem Tonberge in diesem Sommer wenigstens angefangen und aus der Erde herausgebaut werden sollte. Wer kann aber jetzt Hand an dies Friedenswerk legen? wer den Grund graben und den Eckstein einsenken? Es heißt auch hier: sich in Geduld fassen und warten. Ob aber auch Handel und Wandel und Hausbau und anderer Bau und Kirchenbau stille steht - Einer baut doch fort. Der große Gott baut immer fort. Unser ganzer Text ist voll von Baugedanken, und ein großer Bauplan geht durch denselben hin. Er handelt von dem auserwählten köstlichen Ecksteine, den die Bauleute verworfen haben, und der zum Eckstein geworden ist. Er handelt von den lebendigen Steinen, welche auf diesen heiligen Eckstein gegründet und zu einem lebendigen Tempel zusammengefügt werden sollen. Er handelt von dem großen Gottesdienste, der fort und fort in diesem heiligen Tempel gehalten werden soll. Also haben wir mitten im Kriege den herrlichsten und großartigsten Kirchenbau vor uns, Demnach wollen wir uns auch aus unserem Texte für unsere weitere Andacht das Wort behalten:

Gottes Tempelbau geht fort mitten unter Sturm und Wetter.

  1. Den Eckstein kann Niemand herausreißen;
  2. Gerade in der Trübsal gründet uns Gott auf denselben als lebendige Steine;
  3. Gerade in der Trübsal wird der herrlichste und seligste Gottesdienst in diesem Tempel gehalten.

O Herr, unser Gott, du großer Baumeister, du legst deinen Eckstein in die rechten Tiefen, in die geängsteten und zerschlagenen Herzen. Dazu gräbst du den Boden auf, dazu rüttelst du uns heraus aus der alten Gemächlichkeit und Sicherheit, dazu lässt du eine Trübsal um die andere über dein Volk kommen, damit du deinen Grund recht in die Tiefe legen kannst. O Herr, unser Gott, lass diese schwere Zeit für uns nicht verloren werden. Lass uns die Not nicht treiben zum Zorn, zur Bitterkeit, zur Verzweiflung und zu allerlei Bosheit. Lass sie uns in uns treiben. Lass uns zum Gericht über uns selbst und zur Buße kommen. Und wenn wir dann sehen, wie mit unserer Macht Nichts getan ist, wie alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid, und wie wir doch keinen andern Grund finden als den, welcher gelegt ist: dann lass uns fest wurzeln auf dem Ecksteine, auf demselben lebendig werden und mit Herz, Wort und Tat seine Ehre verkündigen. Herr, gib Gnade, dass auch diese Gemeinde recht von Herzen bekenne:

„Ich habe nun den Grund gefunden,
Der meinen Anker ewig hält.
Wo anders als in Jesu Wunden?
Da lag er vor der Zeit der Welt,
Der Grund, der unbeweglich steht,
Wenn Erd' und Himmel untergeht.

Bei diesem Grunde will ich bleiben,
So lange mich die Erde trägt;
Das will ich denken, tun und treiben,
So lange mir das Herz noch schlägt.
So sing' ich einst auch nach der Zeit:
„O Abgrund der Barmherzigkeit.““

Ja Herr, da gründe uns fest durch dein Wort im heiligen Geist. Dazu segne uns auch heute die Predigt aus Gnaden. Amen.

I. Den Eckstein kann Niemand herausreißen.

In Christo Jesu geliebte Gemeinde. Gott der Herr verkündigt uns durch den Mund des Propheten Jesaias: „Siehe da, ich lege einen auserwählten köstlichen Eckstein in Zion, und wer an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden.“ Jeder Christ weiß, wer dieser Eckstein ist. Fragst du: wer er ist? Er heißt Jesus Christ. Aus welchem Bruche und von welcher Felsart ist er denn genommen? Aus Gottes eigner Liebe, Art und Wesen. Der Sohn spricht: „Ich und der Vater sind Eins. Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ Und wo hat Gott diesen Eckstein hingelegt? Er liegt so tief in der Weltgeschichte, dass er nie herausgerissen werden kann. Er liegt drinnen in der ganzen Ewigkeit; denn ehe der Welt Grund gelegt ward, ehe ein Mensch geschaffen war, hat Gott in seinem Gnadenrat beschlossen, dass in diesem Christus allen Völkern der Erde das Heil erworben und angeboten werden soll. Er liegt unwandelbar und untrennbar in der ganzen Geschichte der Menschheit. Jesus Christus hat sich so mit uns verbunden, dass er in Ewigkeit nicht von uns getrennt werden kann. Ewig wird er auch unsere menschliche Natur an sich tragen, ewig wird er unser Bruder bleiben. Die Liebe, welche ihn in unser Geschlecht und Elend eingesenkt hat, die stirbt nicht. - Es ist aber ein köstlicher, ein auserwählter Stein, der einzige wahre Edelstein auf der ganzen Erbe, auserwählt durch die ewige Liebe und Weisheit Gottes, köstlich über alle irdischen Bausteine. Alles, was von der Erde ist, ist Sand. Die Flut der Zeit zerspült es, und was darauf gebaut ist, fällt zusammen. Ein Eckstein aber ist er, weil sich an ihm die Welt teilt. An ihm kann endlich Niemand gleichgültig vorübergehen. Es muss ein Jeder von diesem Christus Notiz nehmen. Es muss zuletzt in jeder Seele heißen: „Mit Christus oder wider Christus! Zur Linken oder zur Rechten an diesem Ecksteine!“ Doch, liebe Christen, uns kommt es heute ganz besonders auf die Festigkeit und Unbeweglichkeit dieses Ecksteines an. Gegen keine Person in der ganzen Weltgeschichte ist so viel gestritten worden, wie gegen diesen Jesus Christus. Alle Waffen sind gegen ihn in Bewegung gesetzt. Mit allen Gewaltmitteln, mit Feuer und Schwert hat man seinen großen Namen und seine Ehre aus diesem Geschlechte zu tilgen gesucht. Es war umsonst. Mit allen Waffen der List, der falschen Lehre und der Entstellung hat man gegen ihn gestritten. Es war umsonst. In die Lüfte der Welt und in die feile Klugheit des Fleisches hat man seine Christen hineingelockt. Die Feinde meinten, wenn seine Jünger fielen, fiele er mit. Im Gegenteil, wenn sich seine Jünger in ihrem Elend besannen, von wem sie gewichen waren, dann stand er wieder da in aller seiner Glorie und Herrlichkeit, breitete die Arme nach ihnen aus und rief: „kommt her zu mir, Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Komm wieder, du verlorener Sohn, an meinem Herzen ist noch Platz für dich!“ Ob auch die Fluten über den Eckstein hingingen und ihn bedeckten: wenn sie wichen - und sie mussten weichen! - dann stand er unverletzt und herrlich vor den Augen seiner armen Jünger, und das Wort war wahr: „Jesus Christus gestern und heute, und derselbe in alle Ewigkeit.“ Und nun, liebe Christen, frage ich euch: Hat sich dieser Eckstein auch in unsern Tagen bewährt? Hat er sich auch jetzt als einen bewährten Stein, wie ihn Jesaias nennt, ausgewiesen? Gewiss und wahrhaftig! Wo hast du denn jetzt deine Zuflucht, deinen Grund, deinen Halt, deinen Trost gefunden? Wenn die Seele in ihren Ängsten und Sorgen umherflatterte wie ein Vogel, dem man sein Nest weggerissen hatte; wenn sie sich auf diesen oder jenen Ast niederlassen wollte und doch keine Ruhe fand: wo war endlich Ruhe? Doch nur auf diesem Ecksteine, doch nur in dem Herrn und an seinem Herzen, in seiner Person, in seinem Werke und in seinen Verheißungen. Wenn du betend zu ihm kamst, der für dich das Kreuz getragen hat, dann strömte von dem Stuhl seiner Herrlichkeit ein Hauch des Friedens in deine Seele. Und auch du, der du dich um diesen Eckstein lange nicht bekümmert hattest, in dessen Seele er mit dem Schutt der Welt überdeckt und mit dem grauen Moose des alten Weltwandels überwachsen war, auch du fingest an, ihn wieder aufzugraben und den Fels der Gnade wieder zu suchen. Du fragtest wohl: „Herr Jesu, darf ich denn auch kommen? Ich habe dich so lange verachtet und mich um dich nicht gekümmert. Darf ich denn auch kommen?“ Und er gab dir die Antwort: „Komm, ich bin auch dein Eckstein; auch deine Hütte des Heils und dein Trost soll auf mir erbaut werden.“ Wie Viele haben mir in diesen Nottagen gesagt: „Jetzt weiß ich erst, was Glauben heißt; was es heißt, seine Hoffnung ganz auf die Gnade setzen, die uns dargeboten wird in Christo Jesu. Jetzt verstehe ich jenen Lahmen, welcher die Krücken wegwarf und allein auf das Wort seines Herrn Jesu Christi fest und straff auf seine Füße trat und wandelte. Jetzt weiß ich erst, was beten heißt. Nun verstehe ich den alten Jakob, der auf seinem Wege von Mesopotamien nach Kanaan mit Gott rang.“ Liebe Christen, lasst uns weiter lernen, lasst uns weiter beten: „Herr, stärke uns den Glauben. Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Wie euch aber dieser große vom Himmel auf und in die Erde gesenkte Eckstein jetzt Trost und Halt wird, so ist er es auch in der Zukunft. Wenn ihr in dieselbe hineinschaut, dann tretet nur allemal zuvor erst auf diesen Felsen. Wie sich die Dinge in unserm engeren und in dem ganzen deutschen Vaterlande gestalten werden, und durch welche Trübsal wir noch hindurch müssen, das weiß jetzt kein Mensch; das letzte Wort wird droben im Himmel gesprochen. In Gottes Kanzlei kann aber Niemand hineinsehen. Auch die feinsten Pläne menschlicher Diplomaten sind dieser himmlischen Weisheit gegenüber nur wie Arbeiten armer Schulknaben. Eins aber wissen wir ganz gewiss, Eins hat uns der Herr aus jener himmlischen Kanzlei selbst offenbart. Den Eckstein nämlich, den Gott in die Ewigkeit eingelegt und, da die Zeit erfüllt war, in unser Geschlecht eingesenkt hat, wird Niemand herausreißen können. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal, oder Angst, oder Verfolgung, oder Hunger, oder Blöße, oder Fährlichkeit, oder Schwert? - In dem Allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat. Der Eckstein steht unter dem großen Baue, und er wird stehen bis zu dem Tage, wo er wiederkommt zu richten die Lebendigen und die Toten, bis er wieder dasteht als Eckstein des neuen Himmels und der neuen Erde. Der Christ singt in die Zukunft hinein:

Warum sollte ich mich grämen?
Hab’ ich doch - Christum noch -
Wer will mir den nehmen?
Wer will mir den Himmel rauben,
Den mir schon - Gottes Sohn
Beigelegt im Glauben?

So können wir aber nur singen, wenn wir als feste Bausteine auf jenem Ecksteine ruhen. Und:

II. gerade die Trübsal gründet uns auf denselben als lebendige Steine.

Liebe Christen, wenn irgendwo ein Grund- oder Eckstein gelegt ist, so müssen, wenn anders ein Bau daraus werden soll, die andern Bausteine in guter Ordnung darauf gelegt und gefügt werden. Nur indem dies geschieht, bekommt ein jeder Stein seine Stelle, seine Bedeutung, sein Amt und seine Ehre in dem Baue. So lange sie ungeordnet auf dem Bauplatz liegen, wird nimmer ein Haus daraus. Und so ist es mit dem geistlichen Hause, mit der Kirche des Herrn, auch. Jeder Christ muss auf dem heiligen Grunde, auf dem himmlischen Ecksteine, seinen geordneten Platz haben. Hier lernen wir das Wort Erbauung recht verstehen. Nur da gibt es wirkliche Erbauung, wo Christus der Eckstein ist. Sie besteht darin, dass wir immer fester auf diesen einen Grund gefügt und auch unter einander immer enger und brüderlicher verbunden werden. Sie besteht darin, dass der eigene Wille immer mehr ertötet und die Ecken und Unebenheiten von den Steinen immer mehr abgeschlagen werden. Liebe Christen, lebendige Steine sollen wir in dem geistlichen Hause werden. Was aber lebendig sein und Leben haben soll, das muss mit seiner Wurzel in Verbindung stehen. Zweige und Äste, die von dem Stamme und der Wurzel getrennt sind, haben kein Leben mehr. Christen, die sich innerlich losgelöst haben von ihrem Herrn, liegen als tote Steine in dem Baue. Sie können in dem sichtbaren Bau der Gemeinde noch eine Bedeutung haben und dies und das tragen; aber Leben, Seele, Friede und Freude fehlen darin, sie sind tote Steine. Bist du in dem großen geistlichen Hause ein lebendiger Stein, so bist du dich deiner Verbindung mit Jesu Christo alle Tage bewusst. Du fühlst, wie die Kraft aus der heiligen Tiefe heraufsteigt. Du fühlst, wie er dich selig macht. Du erfährst, wie sein Wille in dir immer stärker, und der deinige schwächer wird. Du erfährst je länger je mehr, dass du nicht mehr dein Eigentum bist, sondern das Eigentum des, der dich erlöst, erworben und gewonnen hat von allen Sünden, vom Tode und der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen teuren Blute und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben. Du fühlst, wie du dir immer mehr stirbst, und ihm lebst. Du lebest in Christo, Christus lebt in dir. Du singst:

Lebst du in mir, o wahres Leben,
So sterbe nur, was du nicht bist.
Ein Blick von dir kann Mehr mir geben,
Als was der Welt das Liebste ist.
O Jesu, du sollst mein verbeiben;
Nichts soll mich von der Liebe treiben,
Die du mir zugesaget hast.
Quell der Freude, der mich tränket,
Wenn sich mein Herz in dich versenket,
Und dich, o Seelenfreund, umfasst!

Das ist ein Stück der Erbauung zum geistlichen Hause, da wächst der Baustein mit dem Ecksteine zusammen. Dazu kommt denn als zweites die Einigkeit im Glauben und in der herzlichen Liebe mit den Brüdern. In einem guten Bau wird ein Stein an den andern gefügt, jeder findet seinen Platz, jeder hat an seinem Orte sein Amt und seine Ehre. Und so geschieht es in der Kirche Christi, in dem geistlichen Hause, auch. Da treibt Jeder still seinen Beruf. Einer erkennt den Andern in seinem Amte an und kommt ihn mit Ehrerbietung entgegen. Der Große verachtet den Kleinen, und der Kleine neidet die Großen nicht. Was ist denn groß vor Gott? Nicht das Amt und die Stellung, sondern nur die Treue; und Treue kann bei den Niederen eben so gut sein wie bei dem Hochgestellten. Einer trägt des Andern Last, Einer bietet dem Andern die Hand. So wird es in dem einen Glauben ein Bau ohne Risse und Spalten. Und zu dieser doppelten Erbauung treibt Nichts mehr als die Trübsal. Sie treibt zu dem Herrn. Wenn Trübsal da ist, dann suchen sie ihn; und wenn er sie züchtigt, dann schreien sie ängstlich. Als der verlorene Sohn die Säue hütete und Hunger litt, da lernte er nach seinem Vater fragen. Und so erwacht auch in der Trübsal bei Vielen die brüderliche Liebe. Gemeinsame Not lässt den alten Hochmut vergessen, welcher Einen von dem Andern geschieden hat. Gemeinsame Not legt die alten Streitigkeiten bei. Einer sagt dem Andern: „Du, lass uns zu dem Leiden, welches Gott uns aufgelegt hat, nicht durch unsere Sünde und Schuld noch neues fügen.“ Ich habe in diesen Tagen im Lazarett öfters zwei Verwundete, die sich im Felde auf Tod und Leben entgegen gestanden hatten, in den Betten dicht neben einander liegen sehen. Auf die Frage, ob sie hier auch als Feinde neben einander lägen, erhielt ich die Antwort: „Nein, hier Nichts von Feind, Nichts von Krieg, hier gute Freunde, wir helfen Einer dem Andern.“ Seht, das sind Alles Gottes Arbeiten an dem großen Baue. Er lässt sich nicht stören. Mag ihm denn sein Werk auch an uns gelingen. Mag in diesem Elend an dem großen geistlichen Hause frisch weiter gebaut werden. O dass die Tage kämen, wo in demselben überall ein lauterer Gottesdienst zu Gottes Ehre gehalten würde!

III. Gerade in der Trübsal wird in dem geistlichen Hause des Herrn der herrlichste Gottesdienst gehalten.

So haben wir denn, in dem Herrn geliebte Gemeinde, den Tempel, das geistliche Haus, vor uns. Jesus Christus, er, der Eckstein, bildet es mit der ganzen gläubigen Gemeinde. Wer aber sind die Priester in demselben? Da gibt es keinen besonderen Stand. Alle Christen sind Priester des höchsten Gottes. „Ihr aber,“ schreibt Petrus, „seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Tugenden des, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.“ „Ihr aber,“ wen meint er denn da? Die ganze gläubige Christenheit. Er meint alle die, welche den Eckstein nicht mehr verwerfen; alle die, welchen er kein Fels des Anstoßens und der Ärgernis geworden ist; alle die, welche sich mit ihrem Glauben und Hoffen in der Tat auf diesen Jesus Christus gründen. Sind wir aber ein priesterlich Volk, so haben wir auch Alle in diesem heiligen Tempel priesterliches Amt zu verwalten und priesterlich Werk zu treiben. Welches ist nun das priesterliche Amt und Werk? „Wir haben täglich zu opfern geistliche Opfer.“ Alle rechten Christen bringen täglich ihr Dankopfer. Danke deinem Gotte, dass er dich errettet hat von der Obrigkeit der Finsternis und versetzt in das Reich seines lieben Sohnes. Danke ihm, dass er dich teilhaftig gemacht hat des Erbteils der Heiligen im Licht. Danke aber auch für jede geringere in das irdische Leben fallende Gabe. Wir haben heute wieder eine Woche unter seiner Gnade verlebt. Er hat uns auch diese Woche Leben und täglich Brot gegeben, und uns vor schwerem Unfall behütet. Danke ihm auch für alles Kreuz. Kreuz ist es ja doch nur nach unserer Anschauung und nach unserem Gefühl; nach seinem Herzen und Rate ist auch die Trübsal Gnade. Zum Dankopfer lass auch das tägliche Sünd- und Schuldopfer kommen. Liebe Christen, lasst uns gerade jetzt recht in die Erforschung der eigenen Herzen eingehen! O wir haben Zeit genug dazu! Lasst uns bei dem Stillstand der äußern Geschäfte dies innere recht treiben! Und was wir dann aus unserem Herzen und Leben erforscht und erfahren haben, das lasst uns auch in demütigem Bekenntnis vor den Gnadenthron des Herrn bringen. Lasst uns keinen Abend die Augen zutun ohne Sündenbekenntnis, ohne Schreien nach Gnade. Liebe Freunde, lasst uns jetzt recht treu werden in der Fürbitte. Wenn eine Mutter ihren Sohn draußen hat unter dem Heere und es ist mehr denn eine hier, die ihn draußen hat ob die wohl jetzt einen Tag ihre Augen schließen kann, ohne das Kind vor den Herrn zu bringen, ohne es ihm ans Herz zu legen? Und nun vergesst nicht, dass alle unsere Kinder, Angehörige und Freunde stets unter dem Heere und im Kampfe stehen. Alle Christen sind Streiter Christi. Ihr Glaube ist ihre Losung und ihr Feldgeschrei. Ihre Feinde sind das eigene Herz, die Welt und ihr Fürst. Sie können täglich zum Tode verwundet werden und fallen. Darum lernt sie Alle recht auf betenden Händen tragen. Doch wir haben noch auf andere Arten des Opfers zu schauen. Opfere Gott täglich dein Herz und deinen Willen. Bitte, dass das Wort Pauli immer wahrer werde: „Ich lebe, doch nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben.“

Und nun werfen wir noch einen Blick hinaus in das äußere Gebiet. Unsere Stadt hat jetzt eine gar eigene Gestalt angenommen. Viele sind beschäftigt in der Pflege und Fürsorge für unsere eigenen zum Teil brotlosen Armen. Andere kümmern sich um die Verwundeten. Wo man hinsieht, wird Charpie1) gezupft, werden Binden genäht, wird Bedarf an Wäsche beschafft. Tritt man in die Lazarette, so sieht man dort viele liebe Gesichter, Helfer und Helferinnen, die keinen Lohn verlangen. Es ist recht so. Nehmt es aber ja recht als Gottesdienst in dem großen Tempel Christi. Er sagt: „Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich besucht.“ Dort liegt er gefangen und verwundet. Er sagt uns durch seinen Knecht Jakobus: „Ein rechter vor Gott dem Vater wohlgefälliger Gottesdienst ist der, die Witwen und Waisen in ihrer Trübsal besuchen und sich vor der Welt unbefleckt erhalten.“ Die Kranken und Verwundeten sind da auch mit gemeint. Was ihr gebt, das gebt dem Herrn; dann ist es ein Opfer, und das Herz ist dabei. Was ihr tut, das tut dem Herrn zu Liebe; dann ist es wieder ein Opfer, und das Herz ist dabei. Und der alte Mensch in seiner Eitelkeit hat dann keine Nahrung. Liebe Gemeinde, da seht ihr denn recht deutlich, wie Gott gerade in der Trübsal an seinem hohen herrlichen Tempel fortbaut. Der Grundstein wird fester gelegt. Mag er jetzt auch in recht vielen Seelen gelegt werden, die von diesem Grunde und Felsen bisher Nichts wissen wollten! Die einzelnen Seelen werden lebendig auf ihrem Ecksteine und wachsen immer fester mit ihm zusammen. Und endlich verkündigt die Gemeinde immer Lauter und klarer im Bekenntnis und Wandel die Tugenden des, der sie berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. Gottes Werk geht weiter in Sturm und Wetter, und viele Seelen werden dem Herrn einst danken für den Segen dieser schweren Zeit, wo sie lebendige Steine in seinem heiligen Bau geworden sind. So segne uns, du großer Kreuzträger, aus Gnaden unser Kreuz. Amen.

1)
Scharpie oder Charpie (von lateinisch carpere ‚zupfen', ‚pflücken') war ein bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchliches Wundverbandmaterial, das aus Fasern bestand, die durch Zerzupfen von Baumwoll- oder Leinenstoffen gewonnen wurden.
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