Ahlfeld, Friedrich - Die Zerstörung Jerusalems.
Wo aber ein Aas ist, da sammeln sich die Adler. Ein Aas ist das Volk, aus dem der Heilige aus Gott geborene Lebensodem weggestorben ist, in dem kein Puls zur Buße und zur Erneuerung mehr schlägt. Das Volk Israel war ein Aas geworden. Man weiß nicht, worüber man sich bei ihm mehr wundern soll, ob über die Langmut Gottes bei aller seiner Sünde, oder über seine Sünde bei aller Langmut Gottes. Gott der Herr ist gnädig, barmherzig und von großer Geduld. stellt nach der letzten Bußpredigt gewöhnlich den Völkern und Einzelnen noch Fristen. 120 Jahre hatte er den Menschen vor der Sündflut gestellt; 40 Tage sollte Ninive zu seiner Buße Zeit haben; 40 Jahre sind den Kindern Israel noch übrig geblieben von der Zeit ab, da sie ihr eigen Heil ans Holz genagelt hatten. Solche Fristen sind lang oder kurz nach dem Maße der Liebe, die er an ein solches Volk gewendet hat. Ohne Frucht ist diese Frist auch in Israel nicht gewesen. Viele von dem alten Bundes- und Gnadenvolk haben sich zu dem Herrn bekannt. Auch viele von den Pharisäern und Priestern sind gläubig geworden. Aber die große Masse sank immer tiefer in Tod und innere Fäulnis. Grausame, habsüchtige römische Statthalter drückten das Volk bis aufs Blut, und dieses wehrte sich wiederum mit Empörungen. Einer trieb den anderen immer tiefer in die Sünde. Es blieb nichts mehr übrig als ein Kampf auf Tod und Leben zwischen den Römern und den Juden.
Er hob an im Jahre 66 nach Christi Geburt. Da kommen die Adler geflogen. Seine Taube, seine Gemeinde, hatte der Herr vorher geborgen. Sie war aus Jerusalem nach Pella am toten Meere gezogen. König Aretas von Arabien hatte ihr dort eine Freistätte eingeräumt. Wie die Schwalben ein Haus
verlassen, das die Maurer einzureißen anfangen, so war diese Friedensgemeinde von dannen gezogen. Der letzte römische Statthalter hieß Florus. Er hatte der Gräuel gar viel verübt. Um sie zuzudecken scheint er das Volk absichtlich zum Aufruhr getrieben zu haben. Er brach los. Aus Jerusalem ward die römische Besatzung vertrieben. Das ganze Volk bis nach Galiläa hinauf trat unter die Waffen. Ein wohlgerüstetes römisches Heer unter Cestius Gallus rückte von Syrien her auf Jerusalem los. Es kam bis vor die Stadt. Aber Unentschlossenheit entriss dem Feldherrn den Sieg, den er schon in der Hand hatte. Er wandte sich zum Rückzug. Der Rückzug ward zur Flucht und zur schmählichen Niederlage. Der größere Teil des Heeres ward von den Juden niedergemetzelt. Der Rest zog sich nach Syrien zurück; das jüdische Volk war noch einmal eine Weile frei. In dieser Freiheit hat es gezeigt, dass es reif war zum Gericht. Es konnte sich selbst nicht mehr regieren. In wenigen Wochen dieser Freiheit sind größere Gräueltaten verübt, als unter den Römern in langen Jahren. Das ganze Land, vorzüglich Galiläa, war durchschwärmt von Räuberbanden, und zwar von den wildesten und schamlosesten, die man sich denken kann. In großen Rotten unter schlauen und tollkühnen Anführern plünderten sie Dörfer und Städte. Zuletzt ward ihnen dies Handwerk alltäglich und langweilig. Die Hauptleute traten zusammen, vereinigten ihre Banden, und schlichen sich mit ihnen truppweise in die herrenlose Stadt Jerusalem ein. Sie bemächtigten sich des Tempels, und trieben von dort aus Raub und Mord nach Belieben. Ihr Anführer hieß Eleazar. - Aber die Adler sammeln sich, wenn sie auch langsam heranfliegen. Vespasianus, der Feldherr des Kaisers Nero, und sein Sohn Titus langen mit 60.000 Mann römischer Kerntruppen in Galiläa an. Eine galiläische Stadt nach der anderen wird gestürmt, die Juden wehren sich tapfer; aber keine Gegenwehr hilft, sie fallen zu vielen Tausenden unter den Schwertern der Römer. Aus der Stadt Gischala, vor der die Römer lagern, entflieht in der Nacht ein schlauer, verwegener, meineidiger Abenteurer mit Namen Johannes. Die waffenfähige Mannschaft, Weiber und Kinder nimmt er mit. Sein Weg geht nach Jerusalem. Etliche Stunden draußen im Felde lässt er die Weiber und Kinder zurück. Er selbst kommt mit seiner Schar in die Stadt, und schließt sich an die bessere Partei, an den Hohenpriester Ananus an. Ananus, ein weiser Mann, wohl noch ein echter Israelit ohne Falsch, will Frieden mit den Römern,
will den Eleazar im Tempel bekämpfen und der Stadt Ruhe schaffen. Die Bürger folgen ihm, die Räuber werden in den Tempel zurückgeworfen und eingeschlossen. Aber Johannes von Gischala, der sich dem Hohenpriester ins Angesicht überaus freundlich und unterwürfig stellt, ist ein Verräter. Alle Pläne des Hohenpriesters teilt er den Räubern oder Zeloten mit. Weil aber diese allein den Kampf gegen Ananus nicht wagen können, laden sie sich heimlich die wilden Söhne Esaus, die Edomiter, zu Hilfe. Sie langen an. Der Hohepriester verschließt ihnen die Tore. In einer grässlichen Sturm- und Wetternacht liegt ihr Heer draußen vor den Mauern. Unter dem Gerassel des Sturmes sägen die Räuber die Riegel der Tempeltore durch, schlagen die Schlösser ab, brechen heraus, öffnen die Stadttore und lassen die Edomiter ein. Nun geht es an ein Morden, das keine Feder beschreiben kann. Johannes von Gischala schlägt sich öffentlich zu den Räubern. Der Hohepriester Ananus wird getötet und unbegraben hingeworfen. Aber nach etlichen Tagen fingen die Edomiter an, sich der Taten zu schämen, zu denen sie geholfen hatten. Der größere und bessere Teil von ihnen zog wieder in die Heimat. Jerusalem hatte nun zwei Tyrannen, Eleazar und Johannes, Niemand konnte ihnen widerstehen. - Die aber den dreieinigen Gott verachtet hatten, sollten auch noch den dritten Zwingherrn bekommen. In der Festung Masada saß als Fürst einer Meuchelmörderbande Simon von Gerasa. Die ganze Gegend ringsum zitterte vor ihm. Sein Heer wuchs an auf 20 - 30.000 Mann. Hebron eroberte er, ganz Idumäa plünderte er aus, Jerusalem stürmte er, aber vergebens. Durch einen Hinterhalt hatten die Juden in Jerusalem sein Weib gefangen genommen. Seine Wut darüber kannte keine Grenzen. Was sich aus der Stadt herauswagte, ward unter den ausgesuchtesten Martern getötet. Endlich gaben ihm die von Jerusalem sein Weib zurück. Bei dieser Gelegenheit erschien er ihnen sanfter und milder. Sie fassten ein Zutrauen zu ihm und ließen ihn in die Stadt ein, damit er ihnen ein Hort sei gegen Eleazar und Johannes. Der Hohepriester Matthias holte ihn selbst herein. Doch nun war das Maß des Elends erst voll. Simon raubte, schändete, mordete wie jene. Johannes und Eleazar hatten sich entzweit. Jener hatte den Tempel, dieser den Tempelberg und die untere Stadt, Simon die obere Stadt inne. Am Osterfeste, wo Eleazar den Tempel für die Opferer öffnete, schlich sich von dem Heere des Johannes eine Schar mit heimlichen Waffen unter der Menge mit in den Tempel. Plötzlich zogen sie Dolche hervor, stachen die Feinde nieder und machten den Tempel in vollem Sinne zu einer Mördergrube. Sie behielten den Sieg, machten jedoch Frieden mit Eleazar, und beide Parteien schmolzen in eine zusammen. So ist von nun an die Stadt nur noch in zwei Teile geteilt, Simon gebietet in der oberen, Johannes im Tempel und in der untern Stadt. Zwischen den beiden Räuberfürsten war ein beständiger Krieg. Damit sie ein gutes Schlachtfeld gewinnen, brannten sie den Teil der Stadt nieder, der zwischen ihnen lag. Die Drangsale der Bürger waren unaussprechlich. Mord, Unzucht und Plünderung hörten nicht auf. Das waren die Geier, die den Adlern vorangeflogen waren.
Die Römer hatten sich Zeit genommen. Sie wussten, dass die Juden sich unter einander selbst aufrieben. Dazu war Nero ermordet. Drei unfähige Kaiser hatten sich auf dem Thron nicht behaupten können. Vespasian war vom Heere zum Kaiser ausgerufen, nach Italien gegangen und hatte seinem Sohne Titus allein den jüdischen Krieg überlassen. - Endlich kamen die Adler. Am Ölberg, an derselben Stätte, wo Christus so bitter über Jerusalem geweint hatte, schlug Titus sein Lager auf. Es ist wahr, selber durch diese letzten Gerichte leuchtet noch die Barmherzigkeit Gottes hindurch. Er hat dies Volk lieb gehabt, Ephraim ist sein lieber Sohn gewesen. Er hatte ihm sogar einen barmherzigen Feind geschickt. Es scheint uns, als ob von der Lagerstätte aus noch etwas von dem Liebesgeiste Christi in der Titus aufgestiegen sei. Er wollte säuberlich fahren mit dem wilden Absalom. Schon ehe der Krieg begann, hatte der König von Chalcis, Agrippa, ein Abkömmling der frommen und tapferen Makkabäer, weislich und kräftig zum Frieden geraten. Zum Dank dafür hatten ihn die Juden mit Steinen geworfen. Als die Belagerung schon begonnen hatte, versuchte Titus alle Mittel, das Volk zu gütlicher Unterwerfung zu bringen. Zum Dank dafür ward bei der einen Unterredung sein Freund Nicanor in die Schulter geschossen; bei der anderen der jüdische Geschichtsschreiber Josephus, der das Wort führen musste, mit einem großen Stein an den Kopf getroffen, dass er schwindelnd zu Boden stürzte. Bis zu den letzten Kampfestagen hat dieser milde Sinn den Titus dennoch nicht verlassen. Aber es war umsonst, es war vor ihren Augen verborgen.
Kommen wir nun zum Kampfe. Mit aller Ruhe und Kaltblütigkeit gingen die Römer an die Belagerung. Wälle wurden aufgeworfen, Schutzdächer wurden aufgebaut, unter diese wurden die Mauerbrecher gebracht, die in starken Seilen schwebend mit eisernen Köpfen gegen die Mauern pochten, um Löcher hineinzubrechen oder sie einzustürzen. Aber die Römer hatten es hier mit einem Volk zu tun, das mit der Wut wilder Tiere, mit dem Wahnsinn Verzweifelter focht. Die Juden machten die wildesten Ausfälle. Tausende von Römern fanden ihr Grab vor der Stadt. Titus selbst war wiederholt am Rande des Todes. Nur die kaltblütigste Tapferkeit rettete ihn. Zweimal wurden die römischen Belagerungsmaschinen verbrannt. Wenn auch die Juden von römischen Geschossen schon halb durchbohrt waren, ließen sie doch nicht ab, bis das Holzwerk brannte. Sie fragten nicht nach ihrem eignen Leben, wenn nur Feinde dabei umkamen. Sie hatten auch Volks genug, denn über 1.000.000 Seelen waren in die Stadt zusammengedrängt. Festgäste aus allen Teilen der Erde waren mit eingeschlossen. Indessen dauerte drinnen der Krieg immer fort. Nur wenn die Mauerbrecher der Römer zu gewaltig pochten, machten Simon und Johannes Waffenstillstand, und kämpften eine Weile gegen den gemeinschaftlichen Feind.
Zu den Feinden drinnen und draußen kam noch ein dritter, der Hunger. Die Horden der beiden Tyrannen lebten zwar noch in Saus und Braus, denn sie hatten von den Bürgern zusammengeraubt, was sie brauchen konnten. Aber in dem eigentlichen Volk trieb der Hunger seine grause Arbeit. Scharenweise liefen sie die Nacht hinaus, um Kraut und Gras zur Nahrung zusammenzurupfen. Viele von ihnen wurden von den Römern gefangen. Denen aber, die zur Stadt zurückkehrten, ward ihre Beute von anderen Haufen, die auf sie lauerten, wieder entrissen. So viel Liebe, dass man sich darin geteilt hätte, war nicht mehr da. Man schlug sich um den letzten Bissen Brot, und riss ihn sich aus dem Munde. Dennoch ward manches in die Stadt eingeführt, dennoch ging dem Titus die Belagerung zu langsam. Er bot die letzte Kraft seines Heeres auf, und ließ eine Mauer um die ganze Stadt bauen. Niemand konnte mehr aus und ein. Nur auf dem schmalen Raume zwischen beiden Mauern suchte man in der Nacht arme Kräuter. So groß war der Hunger, dass oft 500 solche Sucher in einer Nacht gefangen genommen wurden. Mit dem Trotz der Juden wuchs der Grimm der Römer. Wer als Flüchtling aus der Stadt kam, wurde zwar noch gut von ihnen aufgenommen. Aber jene Gefangenen wurden zumeist gekreuzigt. Es fehlte endlich an Holz zu den Kreuzen, an Platz für die Kreuze. Drinnen überstieg der Jammer alle Beschreibung. Vom Hunger verzehrt bis aufs Gebein baten Bürger die Räuber um einen gnädigen Tod durchs Schwert. Diese antworteten ihnen höhnisch, sie möchten sich gedulden, bis ihnen der Hunger den Garaus machte. Anfangs begrub man in der Stadt die Toten noch. Später reichten die Kräfte dazu nicht mehr hin. Man warf sie über die Mauern in die Schluchten des Berges. An solcher ritt Titus vorbei. Das Herz ging ihm über bei dem Anblick. Er hob seine Hände zum Himmel empor und bezeugte vor Gott, dass er nicht Schuld an diesem Gräuel sei. Doch das war nicht das letzte. Der Überläufer ins römische Lager wurden immer mehr. Da fehlte es an Nahrung nicht. Aus Syrien und anderen Nachbarländern kam Zufuhr genug. Die dem Hunger entflohen waren, starben hier am Essen. Sie konnten ihre Gier nicht zähmen. Ihre Leiber waren völlig zerstört. Über dem ersten Gericht gaben sie den Geist auf. Noch grässlicher erging es anderen. Im römischen Heere dienten viele Syrer und Araber. Diese hatten erfahren, dass viele Überläufer ihr Gold verschluckt und im Leibe mit herausgebracht hätten. Da sollen sie in einer Nacht 2000 von ihnen aus Goldgier den Leib aufgeschlitzt haben.
Doch genug und schon zu viel davon. Ihr werdet fragen, liebe Leser: Sah man denn unter diesem unaussprechlichen Elend keine Buße, kein Suchen nach dem barmherzigen Gotte?
wisst, auch die Buße hat ihre Zeit. Es kommen Tage, wo man auch sie nicht mehr finden kann. Jerusalem hat von Anfang an in mancher Anfechtung gestanden. Gott hat es oft um seiner Sünde willen unter die Zuchtrute genommen. Fühlte es dann seine Schuld, so riefen die Könige und Priester Bußtage aus. In Sack und Asche beweinte das Volk seine Sünden. Dann hörte der Herr, und erweckte ihm einen Heiland. Von dieser letzten und größten Züchtigung Israels haben wir eine vollständigere Beschreibung, als von irgend einer in der älteren Zeit. Aber kein Wörtlein von einem Fasten, von einem bußfertigen Schreien zu dem Herrn kommt vor. Der Jude Josephus, der uns die genaueste Nachricht über dies große Gottesgericht gibt, sagt selbst: „Gott hatte das Volk mit Blindheit geschlagen wegen seiner Sünde,“ und „Gott war es, der das ganze Volk verdammt hatte.“ Es war ein Sumpf in einen tiefen Bergkessel, kein frischer Wind wehte mehr hinein, ihn zu reinigen.
Vergleichen wir aber diese letzten Zeiten der Belagerung mit den Tagen, da der Aufgang an der Höhe das Volk heimsuchte, so befällt uns ein wunderbares Grauen. Die Gerichtshand Gottes schaut zu klar aus dieser Geschichte heraus. Noch einmal kommt in diesen letzten Zeiten eine Maria vor, aber eine, - die ihren eigenen Sohn geschlachtet, gekocht und zur Hälfte gegessen hat. Die andere Hälfte setzte sie den Banden des Johannes und Simon vor, die vom Geruch des Fleisches in das Haus gelockt waren. Noch einmal kommt in diesen letzten Zeiten ein Jesus, ein Sohn des Ananus vor. Aber es ist ein anderer Jesus. Vier Jahre vor Beginn des Krieges fing er am Laubhüttenfeste plötzlich an zu schreien: „Eine Stimme vom Aufgang, eine Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den vier Winden! Eine Stimme über Jerusalem und über den Tempel, eine Stimme über den Bräutigam und die Braut, eine Stimme über das ganze Volk!“ Das schrie er dann Tag und Nacht. Er ward deshalb vor den römischen Landpfleger Albinus geführt. Derselbe ließ ihn geißeln, bis die Knochen bloß lagen. Aber der Jesus hatte darauf keine andere Antwort, als den kläglichen Ruf: „Wehe, wehe über Jerusalem!“ So hat er's getrieben 7 Jahre und 5 Monate. Am letzten Tage setzte er hinzu: „Wehe auch mir!“ Gleich darauf ward er durch einen schweren Stein von einer römische Wurfmaschine getötet. Er starb mit dem Wehe im Munde. Ihm war von dem ersten Jesus nichts übrig geblieben, als das Wehe. - Noch einmal kommen die Namen Johannes und Simon vor. Ihr kennt die beiden Männer schon. Sie sind Spottbilder auf die heiligen Apostel, die das Volk verachtet hatte.
Der Hunger, die Krankheit und das Schwert wüteten in der Stadt. Den Hohenpriester Matthias, der den Simon eingelassen hatte ermordete dieser samt seinen drei Söhnen. Die Reichen boten ihr ganzes Vermögen für ein Maß Weizen oder Gerste. Gürtel, Schuhe und andere Dinge, die wir gar nicht nennen mögen, wurden aus Hunger verzehrt. Alle Liebe und Teilnahme der Familien war zerrissen. Die Frau riss dem Manne, der Mann der Frau den Bissen aus den Zähnen. Wie bleiche, hohle Schatten schlichen die Bürger durch die Stadt. - Die untere Stadt hatten die Römer ziemlich schnell erobert. Ehe sie der Burg Antonia in der Nähe des Tempels Herr werden konnten, lief Mannai, der Sohn des Lazarus, zu ihnen über. Er hatte das Amt gehabt, die Toten zu zählen, die zu dem einen Tore hinausgeschafft waren. Ihrer waren bis dahin 115.880 gewesen. Endlich gewannen die Römer die Burg Antonia. Die Gegenwehr der Juden war matter geworden. Nun war der Angriff auf den Tempel leichter. Noch einmal ließ Titus die Juden durch Josephus zu friedlicher Übergabe ermahnen. Es war umsonst. Simon und Johannes mordeten jeden, der dazu raten wollte. Aber heimlich flohen viele der Vornehmen ins römische Lager. Noch einmal gelang es den Juden, eine große Zahl Römer, die in der Hitze der Verfolgung auf Leitern eine hohe Halle erstiegen hatten, mit derselben zu verbrennen. Aber nun drang Gottes Gericht auch heran bis zu der heiligen Stätte. Titus wollte zwar den Tempel retten. Aber der Grimm seines Heeres, der auch jetzt noch durch Hohn und Spott von den Juden angeschürt ward, hörte selbst die Stimme des geliebten Feldherrn nicht mehr. Die Außenwerke des Tempels brannten bereits. Da stieg ein Soldat auf die Schultern eines anderen und schleuderte durch ein goldenen Fenster einen Feuerbrand in die dem Tempel näheren Zellen. Der Brand zündete. Die Stätte, da Gott der Herr seinen Herd und sein Feuer gehabt hatte, stand in Flammen. Die Juden erhoben ein grässliches Geschrei. Titus mit seinen Anführern ging hinein in das Allerheiligste. Als er heraustrat, befahl er dem Hauptmann Liberalis, er solle die Soldaten mit Schläuchen zum Löschen zwingen. Es war umsonst. Wut und Raubsucht machte sie taub auch gegen Schläge. Der ganze Tempel ward ein Raub der Flammen. Das ist geschehen am 10. August im Jahre 70 nach der Geburt unseres Herrn und Heilandes. An demselben Jahrestage hatte einst Nebukadnezar auch den ersten Tempel verbrannt. Vom Bau des ersten salomonischen Tempels bis zur Zerstörung dieses letzten waren verflossen 1130 Jahre, 7 Monate und 15 Tage.
Noch war die obere Stadt in der Gewalt der Juden. Noch einmal versuchte Titus durch Güte dies verstockte Geschlecht zu überwinden. Josephus war wiederum Dolmetscher. Spott war auch jetzt noch die Antwort auf seine Ansprache. Die Maschinen der Römer rückten an. Der Kampf dauerte noch einen Monat. Der Mut der Juden war gebrochen. Was fliehen konnte floh. Simon und Johannes verkrochen sich in unterirdische Höhlen. Dieser von Hunger getrieben, bat die Römer um Gnade. Jener hatte Nahrung mitgenommen, wollte sich mit etlichen Genossen unter der Erde fortarbeiten und entfliehen. Aber de Nahrungemittel gingen zu Ende, und sie waren noch nicht weit gekommen.
Auch Johannes trieb der Hunger heraus. In weißem Kleide mit purpurnem Überwurf kroch er an der Stätte, wo der Tempel gestanden, aus der Erde heraus und ward gefangen. Johannes ward zu ewigem Gefängnis verurteilt, Simon im Triumph mit aufgeführt und zu Rom getötet.
Die Zahl aller durch die inneren Kämpfe und durch die Römer Getöteten gibt Josephus auf 1.100.000, die der Gefangenen auf 97.000 an. Dieser Rest ist teils umgekommen in den Schauspielen, wo sie wilden Tieren vorgeworfen wurden, teils in die Sklaverei verkauft. Die Stadt ist verbrannt, ihre Mauern sind niedergerissen, das Volk ist zerstreut in alle vier Winde, allen Völkern zum Denkmal, dass sie ein so unbarmherzigeres Gericht erfahren werden, je größere Gnadengüter sie verscherzt haben.