Ahlfeld, Johann Friedrich - Der Nachtbesuch des Nikodemus bei dem Herrn.
(Trinitatis.)
Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.
Text: Ev. Joh. 3. V. 1-9.
Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. Der kam zu Jesu bei der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, dass Du bist ein Lehrer von Gott gekommen: denn Niemand kann die Zeichen tun, die Du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass Jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass Jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Lass dichs nicht wundern, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. Also ist ein Jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie mag solches zugehen?
In Christo Jesu geliebte Gemeinde. Durchwandert haben wir für dieses Jahr mit einander die hohen Christenfeste. Heute nehmen wir Abschied von denselben. Am Weihnachtsfest hörten wir, welche Erbarmung Gott der Vater an unserm armen Geschlecht geübt hat, indem er seinen eingeborenen Sohn in unser Fleisch sandte. Am Osterfest, welches aufs Innigste mit dem Karfreitag zusammenhängt, haben wir vernommen, wie Christus um unserer Sünde willen gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist. Er hat unsere Sünde selbst geopfert an seinem Leib auf dem Holz, dass wir der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben und durch seine Wunden heil werden. Noch klingt die Pfingstbotschaft mit dem Pfingstwunder in unsern Ohren. Der heilige Geist ist über die Kirche ausgegossen, er hat seinen Teil am großen Gnadenwerk getan. - Den ganzen Gnadenbaum, den neuen Baum des Lebens, haben wir vor uns aufwachsen sehen. Seine Wurzel lag verborgen in der Tiefe des göttlichen Gnadenrates. Ehe ein Mensch beten konnte: „Erlöse uns von dem Übel,“ hatte der Vater unsere Erlösung zuvorbedacht und beschlossen. Am Weihnachtstag brach das Reis hervor aus der Tiefe der Verborgenheit. Dann ist es gewachsen, bis es als hoher Baum mit seinem letzten Trieb am Himmelfahrtstag dem Himmel zustieg. Da aber der Baum seine volle Größe erlangt hatte, trieb er seine Blüte und seinen Duft. Dieser ist nicht mehr an die eine enge Stätte gebunden. Er breitet sich hin über den ganzen Garten. Er wird ein Geruch des Lebens zum Leben. Dieser Duft, der ausgeht von dem Gnadenbaum, ist der heilige Geist. - Du Menschenkind, alle diese größten Taten seiner Gnade hat dich dein Gott schauen lassen. Du hast das Leben deines Herrn von Bethlehem bis Golgatha, ja bis zum Himmelfahrtsberg gesehen. Du fragst nun bei allen Gelegenheiten so gern: Warum? und Wozu? Hast du heute an dem Abschluss und Zusammenschluss der großen Feste der heiligen Dreieinigkeit keine Frage aus dem Herzen? Hast du heute kein Warum und Wozu auf der Lippe? Der Herr muss mit seinen großen Taten nun so viel an dir ausgerichtet haben, dass dein Herz zum Fragen bewegt wird. Wir haben einen Mann gefunden, der Fragens halber zu Jesu geht. Er hat zwar nicht die rechte Frage, aber er kriegt doch die rechte Antwort. An der Frage liegt es auch dir nicht. Die Hauptsache bleibt auch für dich die Antwort. Wir müssen wissen, was der hochgelobte, dreieinige Gott mit den drei großen Festtaten für Zweck und Ziel gehabt hat. Komm, wir wollen mit Nikodemus zum Herrn gehen. Achte aber ja recht auf das Gespräch, das zwischen Beiden geführt wird. Es ist leicht das wichtigste, welches je in der Welt vorgekommen. Wir wollen es uns in zwei Teile teilen. Heute soll uns in unserer Andacht beschäftigen:
Der Nachtbesuch des Nikodemus bei dem Herrn.
Sehen wir:
- Was hat Nikodemus bei Christo gesucht?
- Was hat Nikodemus bei Christo gefunden?
Lieber, gnädiger Herr und Heiland, erbarme dich unser! Gib uns Glauben, freudigen Glauben, dass wir fortan nicht mehr verstohlen einmal bei Nacht zu dir kommen, sondern dich suchen und bekennen am hellen, scheinenden Tag. Du hast uns nicht heimlich gesucht, sondern öffentlich unter der Schmach der ganzen Welt. Wir wollen dich auch nicht mehr in blöder Heimlichkeit suchen. Wir wollen dich gern bekennen vor Menschen, wie du uns bekennst vor deinem Vater im Himmel. Gib Mut und Kraft dazu, dass wir dein teures Evangelium rühmen als eine Kraft Gottes, selig zu machen Alle, die daran glauben. Amen.
I. Was hat Nikodemus bei Christo gesucht?
Es war ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. Es war also ein Mann von jener Seele, die mit Werken, mit strenger Haltung des Gesetzes sich den Himmel zu verdienen suchte. Fasten, Almosengeben, Gebete, pünktliche Erfüllungen der alten und neuen Satzungen sollten ihre Himmelsschlüssel sein. Ging er damit noch nicht weit genug auf, dass sie hinein konnten, so sollte Vater Abraham das Übrige tun. „Wir haben Abraham zum Vater!“ das war ihr Schild und ihre Schanze, hinter die sie sich verkrochen, wenn ihnen die Pfeile des Gesetzes nach dem Herzen flogen. Aber nirgends steht in der Schrift, dass solche Werke samt Abraham den Himmel aufschließen. Die Gnade Gottes in Jesu Christo schließt ihn auf. Der ihn zerrissen, der ihn aufgetan, als er zu uns herniederkam, der tut ihn auch auf, wenn wir zu ihm hinaufkommen. - Solcher Pharisäer gibt es heute noch Legionen. Die halbe Christenheit, ja ihre große Hälfte, besteht aus ihnen. Wir Alle haben ein Stück von Nikodemus und von den anderen Pharisäern in uns. Und wenn nur noch der Ernst vor dem Gesetz da wäre, der in der größeren Zahl dieser Pharisäer wohnte! Sie konnten doch in vielen Dingen darben und entsagen um des Gesetzes willen. Sie konnten, wo die Römer wider das göttliche Gesetz heidnische Sitte im jüdischen Land einführen wollten, mutig ihr Leben in die Schanze schlagen. Viele Tausende derselben sind den Opfertod für das Gesetz gestorben. Unsere Pharisäer sind viel schlaffer und innerlich fauler denn jene. Jeder in Sünde und Schande, in offenbaren Abfall von Gott und seinem heiligen Wort versunkene Mensch, wagt heut zu Tage zu sagen: „Ich tue meine Schuldigkeit, und dann wird mich der liebe Gott im Tod schon gnädig aufnehmen.“ Vergleicht man diese Schuldigkeit, die meist nicht einmal vor dem bürgerlichen Gesetz die Probe hält, mit der Strenge der Pharisäer, so sind diese neuen Pharisäer meist nicht wert, dass sie jenen alten die Schuhriemen auflösen. Und doch spricht Christus über die alten ein Wehe über das andere aus! Und doch sagt er ihnen, dass ihre getane Schuldigkeit in Schuld, ihre Gerechtigkeit in's Gericht verkehrt werde! Und doch geht durch jene alten wiederholt ein Zittern und Bangen um ihre Seligkeit! Sie mögen Christum nicht leiden, er ist ihnen ein Dorn im Auge; und doch können sie ihn auch nicht lassen, sie horchen immer wieder zu, ob er nicht Etwas zu sagen habe, wodurch sie ihren Gehorsam noch vervollständigen könnten. Eine Unruhe war durch ihn unter sie gekommen. - Liebe Christen, es gibt eine selige Unruhe. Wenn die Nacht zu Ende geht, wenn der Morgen graut, wenn der Hahn kräht, wenn die Türen in Städten und Dörfern anfangen zu knarren und zu klappern, dann ist die Morgenunruhe. Der Kranke, dem die Nacht auf seinem Lager gar lang geworden ist freut sich des neuen Lebens. Wenn die hohlen Tauwinde im Frühjahr aus der Mittagsgegend wehen, wenn die Bäume knarren und der hohe Schnee sich setzt, dann gibt es die Frühlingsunruhe. Bürger und Landleute, Alte und Kinder freuen sich dieser Zeit. Sie wissen zwar, dass es noch durch feuchte und trübe Tage geht; aber die Unruhe ist doch der Übergang zum Frühling. So gibt es eine Seelenunruhe. Du musst zweifelhaft und misstrauisch werden gegen deine eigene Gerechtigkeit. Der hohe Schnee deiner eigenen Werke - ja sie sind Schnee vor dem göttlichen Gericht - muss zusammensinken. Das eigene weiße Kleid wird vor der Erleuchtung des göttlichen Wortes zerrinnen und zerfallen wie der Schnee von den Bergen. Hier bleibt nichts übrig, als nackte schwarze Erde; und bei dir bleibt nichts übrig, als ein armer, nackter Sünder, der nicht einmal Feigenblätter finden kann, seine Blöße zu verhüllen. Wenn's dahin kommt, wird dem Menschen gründlich angst. - Ein Stück solcher Angst war auch auf Nikodemus gefallen. Es mochte bei ihm noch nicht ganz klar sein, aber es regte sich, es war ihm nicht mehr ganz richtig in ihm selber. Er ging zu Jesu. Er kam zu Jesu bei Nacht. Das ist dir zuerst zur Freude geschrieben. Jesus nimmt ihn auf. Daraus siehst du, dass dein Heiland auch in der Nacht für dich wacht. Hat dir das Geräusch des Tages einmal keine Zeit gelassen, ihn bei Tage zu suchen, geh zu ihm in der Nacht, da wacht er auch für dich. Ist es in dir finstere Nacht der Seelenangst geworden, zage und zweifle nicht, klopfe nur bei ihm an, er wacht auch für dich. - Aber warum kam Nikodemus bei Nacht? Hatte er am Tage keine Zeit? Die hatte er wohl. Er war ja ein Herr in Israel, ein Glied aus dem hohen Rat. Er hätte wohl ein Stündchen Tageszeit übrig gehabt. - Oder wählte er die stille Nacht, um recht ungestört mit Jesu zu sein? Da gingen keine Kranken ab und zu, die geheilt werden wollten; da waren seine Jünger nicht um ihn. Nein, es war ein anderer Grund. Er hing noch an den Ketten der Menschenfurcht. Seine Herren Kollegen sollten es nicht wissen. Er fürchtete ihre Feindschaft, ihren Spott. Er war in seinem Glauben und in seiner Freudigkeit noch nicht so weit, dass er sich bei heller, scheinender Sonne zu Jesu gewagt hätte. - Teure Gemeinde, hier haben wir die faule und kranke Stelle im Leben unseres Volkes. Wir fühlen deutlich, dass eine Wiedergeburt unseres Volkes eintreten muss, wenn demselben noch einmal ein Tag aufgehen soll. Nur durch frisches, freies, fröhliches Bekenntnis zu Jesu Christo kann es gerettet werden. Nur dies ist die Macht, die die Hölle überwindet. Das fühlen viele Obrigkeiten auch. Aber sie wagen sich nicht heraus mit dem Wort. Sie schleichen einmal bei Nacht zu Jesu. Sie fürchten sich vor der ungläubigen Masse. Sie fürchten die Volksgunst zu verlieren. Sie fürchten, dass der Sand, auf dem sie mit einem Fuß stehen, ihnen unter demselben weggleite. Es geht ihnen wie dem König Zedekia. Der ließ auch den Propheten Jeremias heimlich zu sich kommen. Er fragte ihn, ob er einen Ausspruch Gottes an ihn habe. Aber es sollten ja! ja! seine Großen, seine Fürsten nichts davon erfahren. Auf solchem Nikodemusweg holt man keinen Segen. Der Herr Christus ist zu groß, als dass er so verstohlen und heimlich mitgenommen werden könnte. Er muss bei heller, scheinender Sonne genommen werden. - Ihr Väter, die ihr das Verderben fühlt, das sich in eure Häuser eingeschlichen hat, das alles Familienglück untergräbt, das die Kinder von den Eltern scheidet, ihr habt schon manchen Nikodemusgang gemacht. Ihr habt geklagt und geseufzt: „Wenn doch die alte Zucht noch da wäre, die bei unseren Vätern herrschte, wenn doch der alte Glaube und die alte Treue noch da wäre, wenn sie doch wiederkämen!“ Wo sollen sie herkommen? So lange du dies unter guten Freunden in der Stille so hinseufzt, kommen sie nicht. Du musst sie holen. Geh nur hin zu Christo. Er hat sie noch. Er kann sie auch geben. Frage ihn nur, du wirst Antwort bekommen, wie sie Nikodemus bekommen hat. - Es gibt in diesen Zeiten viele Seelen, die für ihre Person denken: „Du musst umkehren! Du musst dich wieder anschließen an den alten Heiland, der in seinem Eigentum zu Hohn und Spott ward, und in dem doch die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte!“ Du hast erkannt, dass es mit der neuen Weisheit ist wie mit Laub, Gras und Blüten. Jedes Jahr hat seinen Wuchs, sein Laub und seine Blüte. So hat auch jedes Jahr seine Menschenweisheit. Sie liegt alle Herbst mit im Staub. Gewächse derselben, die etliche Jahre durchdauern, sind in dieser Zeit ein gar selten Ding. Das fühlst du. Dabei sprichst du: „Das alte Wort Gottes wird doch bestehen.“ Allerdings wird es bestehen. Aber wenn du es bei etlichen beifälligen Redensarten bewenden lässt, hast du auch nur mit Nikodemus einen Nachtbesuch beim Herrn Jesus gemacht. Tritt hervor aus deiner Halbheit! Wenn im Frühjahr die jungen Pflanzen aus der Erde kommen, tragen sie auch noch die alte vergängliche Kappe oder Hilfe auf dem Haupt. Kaum aber sind etliche Tage in's Land, so wird sie abgeworfen. Wer an Christum glaubt, muss ihn lieben; wer ihn liebt, muss ihn bekennen. Das ist eine schlechte Liebe, die es nicht zu sagen wagt, wem sie ihr Herz geschenkt hat. Also herunter mit der Nikodemushülle! In den Tagen des heiligen Augustinus sprach ein angesehener Mann, Namens Victorinus, zu dem alten frommen Simplicianus: „Höre, ich werde auch wohl noch ein Christ werden!“ Simplicianus antwortete: „So gebe Gott, dass ich dich in wenigen Tagen in der Kirche sehe!“ Victorinus antwortete: „So machen eure Kirchenwände den Christen! Kann ich doch wohl ein Christ sein, wenn ich gleich zu Hause bleibe!“ Er wollte aber seine vornehmen Freunde in der Heidenschaft nicht erzürnen. Simplicianus führte ihm darauf das Wort des Herrn zu Gemüte: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater; wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Da schlug der kluge Mann in sich. Bald fand er sich ein in der Gemeinde der Gläubigen. - Noch aber haben wir gar nicht gehört, was Nikodemus wollte. Er hebt an: „Meister, wir wissen, dass du bist ein Lehrer von Gott gekommen, denn Niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.“ Das ist offenbar nur ein Eingang, eine Vorrede. Nikodemus will noch mehr sagen, er will mit seiner Bitte erst heraus. Jesus aber, der wohl wusste, wo es bei ihm hinaus sollte, schneidet ihm die weitere Rede kurz ab. Er gibt ihm gleich die volle Antwort. Nikodemus ist im ganzen Gespräch nicht dazu gekommen, seinen Satz zu vollenden. Doch können wir aus seinem Anfang sicher schließen auf das, was er auf dem Herzen hatte. Er will fragen, was ihm noch fehlt, um selig zu werden. Er will Jesu vorrechnen, was er alles schon hat an Stücken der Gerechtigkeit. Jesus soll ihm angeben, was da noch hinzuzufügen ist, um der Seligkeit sicher zu werden. Er kommt nicht um das neue Kleid. Jesus soll ihm noch einen neuen, recht hellen Lappen auf sein geflicktes Kleid setzen. Er sucht nicht die Sonne der Gerechtigkeit. Jesus soll ihm noch einen neuen, recht hellen Stern an seinen Himmel setzen helfen. Er will noch ein recht schweres Gesetzesstück erfragen, damit er, wenn er auch dieses erfüllt habe, in sich sicher sein könne. Das geht schon daraus hervor, dass er Jesum als einen Lehrer anredet. Ein Lehrer zeigt den Weg, den man gehen soll, aber er kann keine Kraft dazu geben. Ein Lehrer kann mit Ermahnung und Vorbild höchstens die Kraft wecken, die in uns ruht. Neue kann er nicht hineinschütten. Ein Lehrer kann nicht rüsten mit dem heiligen Geist, wie es Jesus mit seinen Jüngern tut: „Nehmt hin den heiligen Geist!“ Er kann Keinem seine Sünde vergeben, wie Jesus spricht: „Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben.“ - Nun frage dich, was du willst. Wenn du zu Christo kommst, um an dir hie und da ein wenig ausbessern, um einen neuen Flicken auf dein altes Kleid, einen neuen Stern an den Himmel deiner eigenen Gerechtigkeit setzen zu lassen, dann fährt er dir auch so durch die Rede, schneidet er dir das Wort auch so ab. Der Herr Jesus handelt nicht mit einzelnen Stücken. Er macht neu. Siehe, ich mache Alles neu; das Alte ist vergangen, es ist Alles neu geworden. Nikodemus suchte Anweisung, wie er hinfort besser den Weg der Seligkeit verfolgte. Jesus sollte ihn lehren, er wollte es tun. Das suchte er.
II. Was hat Nikodemus bei Christo gefunden?
Etwas ganz Anderes, als er suchte. Anstatt ihm mit seinem klugem Rat entgegenzutreten, sagt ihm Jesus scharf in's Gesicht: „Es sei denn, dass jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ „Von Neuem geboren werden“ das ist die Wurzel alles Neubaues in der Heidenwelt und in der Christenwelt, in Staat und Kirche. „Von Neuem geboren werden“ das ist die Angel, in der die Tür unserer Zukunft hängt, wenn wir anders noch eine gnädige Zukunft haben wollen. - Nikodemus versteht das Wort rein äußerlich. Er fragt: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wieder in seiner Mutter Leib gehen? Jesus antwortete ihm: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was vom Geist geboren ist. das ist Geist.“ Er scheidet hier aufs schärfste das Gebiet des fleischlichen und geistlichen Menschen. Es kommt Alles auf die Wurzel des inwendigen Lebens an. Dieselbe Art, die in der Wurzel des Baumes steckt, steckt auch in dem letzten Blättlein desselben. In dem natürlichen Menschen ist die Wurzel die Natur. Das liebe Ich mit allem seinem Hochmut, seiner Lüge, seiner Trägheit, seiner Fleischeslust, seinem Hass, ist der Punkt, um den sich Alles dreht. Von ihm gehen alle Befehle da drinnen aus. Zu ihm muss auch Alles zurückkehren. All dein Denken und Tun muss dazu dienen, den Wurm zu nähren, der dir das wahrhaftige Leben wegfrisst. „Von mir und zu mir sind alle meine Taten,“ spricht der natürliche Mensch. Wenn er noch hinzusetzen könnte: „ Mir sei Ehre in Ewigkeit. Amen“ - dann wäre seine Herrlichkeit vollständig. Aber da bricht es ab. - Nun, mein Christ, belausche und behorche dich einmal selbst. Steh einmal hinter dem Vorhang und höre dem Zwiegespräch deines Herzens zu. Du wirst bald hören, wo der mächtigere Zug in dir hingeht, ob die Natur und dein Ich, oder ob der lebendige Gott in dir die Überhand hat. Suche dir eine Stunde aus deinem Alltagsleben aus. Was hörst du denn da? Die Ehre Gottes schweigt in dir. Die ewigen Gnadengüter sind in den Hintergrund geschoben, sie sind als gleichgültiger Hausrat geachtet. Die Stimme der einen Begierde durchkreuzt sich mit der der anderen. Habsucht, Wollust, Eitelkeit, Lüge führen ihr wüstes Konzert drinnen aus. Furcht und Übermut, Hochmut und Kleinmut ringen hin und her. - Warum ist's denn nicht anders? Kann man sich drinnen nicht beschäftigen mit Gottes Person, mit seinen Gnadenführungen, Wundern, Gütern und Gaben, mit den Hoffnungen, die er den Gläubigen vorgestellt hat? Genug kann man sich damit zu tun machen. Die Zeit verfließt einem unter solcher seligen Beschäftigung, man weiß nicht wie. Warum beschäftigst du dich in deinem innersten Kämmerlein nicht damit? Warum hast du keine Lust dazu? Warum ist es dir so langweilig? Antwort: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, und das Fleisch versteht nichts vom Geist Gottes, das Fleisch hat keine Lust an den Wundern Gottes.“ Durch das Fleisch weht aber auch beständig der Odem der Nichtigkeit und Vergänglichkeit. Darum musst du von Neuem geboren werden. - In dem Wiedergeborenen, in dem geistlichen Menschen ist der heilige Geist die Wurzel seines Lebens. Das ist das neue Ich. Die Liebe Gottes steht als Sonne mitten im Herzen. Von da gehen die Strahlen nach allen Seiten aus. Sie fallen in das Haus, in die Kirche, in den Beruf, in das Vaterland, ins Offenbare, ins Verborgene, überall hin. Ein Strahl heißt Demut, ein anderer Geduld, ein anderer Fleiß, ein anderer brüderliche Liebe, ein anderer Keuschheit. Wenn dir das Leben und Weben und Sein in deinem Gott und Heiland so lieb, so zur Natur geworden ist, wenn du dich mit ihm innerlich so gern beschäftigst, wie du es jetzt mit deinen irdischen Göttern tust, dann bist du ein wiedergeborener Mensch. Wenn die Zweige vom Baum des Lebens so in dir rauschen, wenn die aus dem Geist geborenen christlichen Tugenden so in dir Zwiegespräche halten, wie jetzt deine Schoßsünden, dann bist du ein wiedergeborener Mensch. Das Konzert ist dann ein anderes geworden. Es ist kein wildes Schreien und Kreischen mehr, es ist Harmonie darinnen. - Warum aber verlangt der Herr so viel? Warum diese ganze Geburt? Ist es denn nicht mit etwas Besserung getan? Nein, Flickwerk hilft nichts. Ehe dein Leben gereinigt werden kann, muss der Quell gereinigt werden, aus dem es fließt. Der Quell ist das Herz. Aus dem Herzen, des natürlichen Menschen nämlich, kommen arge Gedanken: Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse und Lästerung. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. So lange das Herz Fleisch ist, wird der Mund fleischliche Dinge reden, und die Hand wird sie tun. Wenn deine inneren Säfte verdorben sind, reicht es nicht hin, dass du die Haut bepflasterst. Innerlich muss es angegriffen werden, die Säfte zu reinigen. Wenn du einen Kreis ziehen willst, ist es vor allen Dingen nötig, dass du den Mittelpunkt mit dem Zirkel feststellst. Soll nun dein Leben ein Kreis von Gottesfurcht und Zucht sein, so muss der Mittelpunkt desselben fest stehen. Du musst ein neuer Mensch werden. Der Mittelpunkt ist das neue Herz. Es kann allerdings auch ohne eine neue Geburt gewisse schöne und scheinende Werke geben. Furcht ist bei Vielen die Triebfeder zum Gehorsam, Eitelkeit zu großen Taten, Weichlichkeit zu Werken der Güte. Alles dies kommt nicht aus lebendig erneutem Herzen. Alles dies hat keinen Mittelpunkt. Es ist heute so, morgen kann es anders sein. Es sind allerdings Früchte. Aber sie gleichen den Weihnachtsäpfeln, die an den Tannenbaum gebunden werden, der eigentlich keine Äpfel, sondern Tannenzapfen trägt. Die Äpfel verwelken bald, weil sie keinen Saft aus dem Stamm ziehen. Der Stamm hat selber keinen, weil er nicht in Gott gewurzelt ist. - Hier, geliebte Gemeinde, stehen wir an der Pforte unserer Zukunft. Alle Konstitutionen oder Verfassungen, alle Bundestag, Kammern und Volkshäuser, alle Ministerien werden das Vaterland nicht retten, wenn das nicht erfüllt wird: „Du musst von Neuem geboren werden.“ Alle Kirchenverfassungen, Synoden und Presbyterien werden die Kirche nicht retten, wenn das nicht erfüllt wird: „Du musst von Neuem geboren werden.“ Alle Gewerbeordnungen und Innungen werden den Bürgerstand nicht retten, wenn das nicht erfüllt wird: „Du musst von Neuem geboren werden.“ Alle Klugheit in der Erziehung, alle seine Methode, alle strenge Zucht wird dir keinen gesegneten Hausstand verschaffen, wenn das nicht erfüllt wird: „Du musst von Neuem geboren werden.“ Alle guten Werke, und wenn du für Andere deinen Leib brennen ließt, selbst Jesus Christus und seine Erlösung werden dir zu keiner Seligkeit helfen, wenn das nicht erfüllt wird: „Du musst von Neuem geboren werden.“ Darüber wunderst du dich. Nikodemus hat sich auch gewundert. Er sagt zwar kein Wort, aber der Herr las es in seinem Gesicht und Herzen. Er sagt ihm: „Lass dich's nicht wundern, dass ich gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden.“ Du sollst dich darüber auch nicht wundern. Wasser kann man aufhalten durch Dämme, wilde Tiere kann man bändigen durch Käfige und Gatter. Die Sünde kann man zurückdrängen und in ein gewisses Maß bringen durch Zucht. Aber überwunden wird sie nur durch ein neues Leben aus Gott. - Nikodemus wird aber in dem Gespräch immer stiller. Erst hat er eine Frage auf der Zunge. Aber Christus lässt sie ihn nicht herausbringen. Dann führt er, darüber erzürnt, eine kecke Widerrede: „Wie mag ein Mensch geboren werden, so er doch alt ist. Kann er auch wieder in seiner Mutter Leib gehen?“ Dann bittet er sich nur weitere Erklärung aus: „Wie mag das zugehen?“ Zuletzt sagt er kein Wort mehr. - Möge der Herr deine Seele auch so stille machen, mögest du herausfallen aus den Himmeln, die du dir selbst gebaut hast, dass du bald im eigenen Leben und in der eignen Erkenntnis erfährst, wie das zugeht, wenn der Mensch von Neuem geboren wird. Amen.