Ahlfeld, Friedrich - Christus legt die letzte Hand an zur Rettung Jerusalems
Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.
Text: Lukas 19, V. 41 - 48.
Und als er nahe hinzu kam, sah er die Stadt an, und weinte über sie. Und sprach: Wenn du es wüsstest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern, und an allen Orten ängsten. Und werden dich schleifen, und keinen Stein auf dem andern lassen, darum, dass du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist. Und er ging in den Tempel, und fing an auszutreiben, die darinnen verkauften und kauften. Und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein Haus ist ein Bethaus; ihr aber habt es gemacht zu einer Mördergrube. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten, und die Vornehmsten im Volk, trachteten ihm nach, dass sie ihn umbrächten. Und fanden nicht, wie sie ihm tun sollten; denn alles Volk hing ihm an und hörte ihn.
Unser Evangelium, in dem Herrn geliebte Gemeinde, habt ihr gehört. Es liegt in ihm ein Ton, der in die jetzige Zeit des Kirchenjahres nicht recht passen will. Es handelt von Christi letzter Ankunft zu Jerusalem. Auf seiner Seele liegt schon die letzte schwere Trauer um die verlorene Stadt. Der Abend dämmert durch alle Verse, die Nacht ist vor der Tür. Wir möchten es erwarten in den letzten Sonntagen des Kirchenjahres. Da redet ja der Herr fast ausschließlich von den großen Gerichten, die zurzeit über das zum Gericht reife jüdische Volk, und endlich über die zum Gericht reife Welt hereinbrechen sollen. Warum hat nun die Kirche dies Evangelium in diese Zeit gesetzt? Um der Geschichte willen. Genau genommen gehört es auf den zehnten August. An diesem Tage ist in Erfüllung gegangen, was der Herr in unserm Evangelio geweissagt hat. Am zehnten August 588 Jahre vor Christi Geburt hatte Nebukadnezar Jerusalem zerstört. Am zehnten August im Jahre 71 nach Christi Geburt hat es Titus zum zweiten Male zerstört. Für die Kirche Christi ist dies ein Tag von hoher Bedeutung. Israel feiert ihn als seinen schwersten Trauertag. Auch in der neuen Geschichte steht neben diesem Tage ein schwarzes Kreuz. Es war am zehnten August 1792, wo das von göttlicher und menschlicher Ordnung losgerissene französische Volk in Paris das Schloss seines Königs stürmte, den es kurze Zeit danach auf das Blutgerüst führte. An diesem Tage hätte der Herr auch vor den Mauern jener Stadt stehen und rufen können: „O Volk, Volk, wenn du es wüsstest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient, nun aber ist es vor deinen Augen verborgen!“ - Doch wie auf diesem Tage in der Geschichte Nacht und Schatten ruhen, so ruht auf ihm auch das liebliche Morgenlicht der Gnade und des neuen Lebens. Am zehnten August 1796 fuhr das erste Missionsschiff, welches die Boten des Heils hinausführte nach den Inseln der Südsee, geführt von dem frommen Kapitän Wilson, von London ab. Für unser Kirchlein, für unsere Gemeinde hat der Tag eine ganz besonders liebliche Bedeutung. Unsere Kirche führt den Namen St. Laurentii. Sie hat denselben von dem frommen römischen Diakon Laurentius. Er lebte im dritten Jahrhundert nach Christo in den Tagen des grausamsten Verfolgers der christlichen Kirche, des römischen Kaisers Decius. Als die Verfolgung losbrach, verlangte man von ihm, er solle die Schätze seiner Kirche herausgeben. Er versprach, dieselben auf den folgenden Tag den Verfolgern vorzulegen. Als die Stunde kam, stellte er eine große Schar armer Leute vor den Augen der Widersacher auf. Indem diese nun auf Auslieferung der Güter drangen, antwortete er: „Dies sind die rechten wahren und ewigen Schätze der Kirche, in denen der Herr selber und der Glaube an ihn wohnt.“ Den Heiden aber lag an diesen Schätzen gar Nichts. Etwas später ward der Bischof des Laurentius, Sixtus, um Christi willen zum Tode geführt. Er sollte durchs Schwert sterben. Laurentius sah ihn wegführen, und hub bitterlich an zu weinen; aber nicht darüber, dass sein Bischof sterben sollte, sondern darüber, dass er noch in diesem Jammertal zurückbleiben musste. „Ach Vater,“ sprach er, „wohin gehst du ohne deinen Sohn? Frommer Priester, wohin gehst du ohne deinen Diener? Du hast nie einen Gottesdienst ohne mich gehalten, und zu diesem willst du mich nicht mitnehmen?“ Der Bischof antwortete: „Mein Sohn, ich verlasse dich nicht, wir Alten und Betagten nehmen jetzt diesen leichten und geringen Kampf an, du aber wirst zu einem größeren aufbehalten.“ Drei Tage danach ward Laurentius auf des Kaisers Befehl lebendig auf einem Rost gebraten. Wir sehen ihn mit dem Rost in der Hand auf unserm Kirchensiegel abgebildet. Aber auch dies Feuer konnte seinen Glauben, sein standhaftes Bekenntnis nicht töten. Sein Todestag war der zehnte August. Fassen wir zusammen, was auf diesem Tage ruht, so haben wir Leute vor uns, die es bedacht haben, was zu ihrem Frieden dient, und Leute, die es nicht bedenken wollten. Möchten wir es bedenken lernen! Möchte uns der Inhalt unseres Evangeliums dazu führen! Wir ziehen ihn zusammen in das Wort:
Christus legt die letzte Hand an zur Rettung Jerusalems.
Er legt sie an:
1) in seinen Tränen;
2) in seiner Weissagung;
3) in seiner Tempelreinigung.
Ach Herr, lass uns bedenken zu unserer Zeit, was zu unserm Frieden dient, ehe es vor unsern Augen verborgen ist. Segne zu solchem Bedenken diese heilige Stunde. Wo die Seelen trotzig und sicher hingehen, da gib einen Einblick in uns selbst und einen Aufblick zu dir. Gib Buße und Glauben, dass deine Tränen, deine Weissagung, deine Züchtigung nicht fruchtlos an uns vorübergehen. Amen.
Christus legt die letzte Hand an zur Rettung Jerusalems
1) in seinen Tränen.
Von Jericho kommt Christus her. Vom Ölberge herab will er durch das Tal des Baches Kidron nach Jerusalem wandern. Die ganze Stadt auf ihren Felsen, mit ihren gewaltigen Mauern, mit ihren prächtigen Palästen, mit dem herrlichen Tempel liegt vor ihm. Den Tempel hatte Herodes erst vor Kurzem neu vollendet. An Größe und Pracht stand er hoch über dem zweiten, den die Juden nach der babylonischen Gefangenschaft gebaut hatten. Als der Herr nahe hinzukommt, bleibt er stehen, und fängt an bitterlich über die Stadt zu weinen. Das war die Stadt, von der geschrieben steht: „Zu Zion hat der Herr sein Feuer, zu Jerusalem seinen Herd. Von Zion wird das Gesetz ausgehen, und des Herrn Wort von Jerusalem.“ Da stand der Tempel, von dem die Kinder Korah singen: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.“ Dem ganzen Volke war die Stadt als seine Krone so ins Herz gewachsen, dass die Gefangenen in Babylonien ausrufen: „Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen. Meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.“ Von aller dieser Herrlichkeit war nichts mehr da als der Schein. Umsonst saßen die Bürger hinter ihrer stolzen Mauer. Sie bargen sich nicht mehr in Demut hinter dem, der Israels Mauer, Wagen und Reiter war. So waren ihre Mauern lose Lehmschanzen. Ihre Paläste waren voll Hoffart und Grausamkeit. Der Tempel war entweiht durch der Sadduzäer Unglauben, durch der Pharisäer Heuchelei und durch Blut. Ein Arzt trauert, wenn er einen starken Mann steht, in dessen Gebein und Adern der Tod schon arbeitet, der Kranke aber ihm nicht glauben will. So trauert Christus über diese arme Stadt: „Wenn du es wüsstest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen.“ O sie hätten es wissen können. Moses hatte es dem Volke vorausgesagt, dass, wenn sie abfallen würden von Gottes heiligem Gesetze, sie in alle Welt zerstreut werden würden. Die Propheten hatten ihnen genug geweissagt von dem Friedekinde und Friedefürsten. Jerusalem selbst in seiner Geschichte, in seinem Namen, legte ihnen schon ans Herz, was die Bestimmung der Stadt war. Melchisedek, das heißt ein König der Gerechtigkeit, hat sie gebaut. Der wahre König der Gerechtigkeit wollte sie machen zu einem vollendeten Bau der Ehre Gottes. Jerusalem bedeutet Wohnung des Friedens. Der Friedefürst war da, er will den Gottes Frieden in die Stadt pflanzen. Aber er steht draußen vor dem Tor und weint, denn die Stadt verachtet den Frieden. Sie hat sich so tief in die Sünde hineingesenkt, dass sie gar nicht mehr heraus will. Ihre Herzen sind so verstockt, dass sie den Wächter Israels, der zum Erwachen ruft, für einen törichten Schreier, für einen Friedensstörer halten. Liebe Christen, wir wollen jetzt absehen von dem jüdischen Volke. Das alte Zion ist zerstört. Aber die Kirche ist weiter gebaut. Sie ist das neue Zion. Wie sich die Kirche über unser Vaterland ausgebreitet hat, ist auch dieses ein Zion geworden. Jede christliche Gemeinde ist ein Zion, ein Bau in der großen Gnadenstadt. Wenn nun der Herr jetzt käme, wenn er in unsere Kirche, nein, wenn er in unsere Stadt einwanderte, wenn er draußen vor ihren Toren stehen bliebe! Und er wandert ein, denn er ist bei seiner Kirche alle Tage bis an der Welt Ende. Und er steht draußen und steht Alles bis in unser innerstes Leben, denn es ist Alles bloß und entdeckt vor seinen Augen. Er steht allen Gräuel in Staat, Kirche, Haus und Herzen. Er steht draußen und weint, und ruft hinein: Wenn du es wüsstest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient. Weißt du es denn nicht? O ihr wisst es Alle, die ihr hier seit: Ohne Buße und Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen. Ohne dass wir den bitteren Kelch der Demütigung und des Absterbens unseres sündlichen Fleisches trinken, kann uns Gott nicht salben mit dem Freudenöl der Kinder Gottes. Ohne dass wir den Taumelkelch der Welt verachten, kann uns Gott nicht tränken mit Gnade und Vergebung der Sünden.
Wir wissen es Alle, was zu unserm Frieden dient. Wir wissen auch, dass Gottes Gerichte wie Wetter und Erdbeben hereinbrechen über die Völker, die das Heil verachten. Wir wissen's aus der Geschichte, aus dem Untergang Israels. Wir wissen's aus der eigenen Erfahrung, denn der Boden bebt noch unter unsern Füßen. -
Nun woran fehlt es denn? An dem Bedenken. „So würdest du auch bedenken, was zu deinem Frieden dient.“ Man denkt jetzt allerdings so viel, dass Viele von allem Denken schier dumm geworden sind. Unser Volk gleicht jetzt so recht dem Manne, der jenseits des Flusses auf einem dürren Baume einen Vogel sitzen sah. Er starrt hin mit unverwandten Augen und will gern herausbringen, ob es ein Rabe oder eine Krähe sei. Dabei steht er nicht auf seinen Weg, kommt von demselben ab, schreitet in den Fluss hinein und ertrinkt. Wem unter uns ist es ein rechter voller Ernst mit seinem Heile? Wer denkt fleißig an das Eine, das Not tut? Bedenke deine Sünde, steige hinunter in die Tiefen deines Herzens. Bedenke die Gerichte Gottes. Er lässt sich nicht spotten. Bedenke die Barmherzigkeit deines Heilandes. Erst hat er vor Jerusalem seine Tränen, dann hat er auf Golgatha sein Blut vergossen, um dich auf rechte Gedanken zu bringen. Ist denn dein Herz so hart geworden, dass es weder mit Tränen noch mit Blut weich gemacht werden kann? Fühle es doch nur einmal durch, was es sagen will: Vor den Toren von Jerusalem, von Berlin, von Bern, von Halle, oder wie dein Ort sonst heißt, steht dein Heiland und weint über deine Sünde! Scheidewasser löst Eisen und anderes Metall auf. Vater- und Muttertränen haben oft noch mehr getan, sie haben Steine, ich meine steinerne Kinderherzen, aufgelöst. Sollen die Tränen des Herrn an dir Nichts ausrichten? Sie sind die teuersten, welche je geweint sind. Bedenke zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient. Hier hat jedes Wort sein mächtiges Gewicht. „Alles hat seine Zeit,“ sagt Salomo im Prediger. Und dann zählt er die mannichfaltigsten Dinge auf. Auch die Buße hat ihre Zeit. Es ist draußen nicht immer Tauwetter. Diese Zeit ist aber gerade eine rechte Bußzeit. Warum fährt denn Gott der Herr so durch die Völker hindurch? Warum wanken die Kronen? Warum bersten und krachen die alten sichern Ordnungen bis in den Grund? Hat Gott etwa seine Lust daran, dass Eins über das Andere stürzt, wie die Kinder ihre Lust daran haben, wenn ihre Kartenhäuser zusammenstürzen? Das sei ferne! Er rüttelt an den Ordnungen der Welt, damit die Herzen durchgerüttelt werden, damit das Unterste, das Verdeckte und Vergrabene, die Furcht des Herrn, zuoberst komme. Das ist diese Zeit.
Es ist aber auch deine Zeit. Wie lange währt deine Zeit? „So lange wie ich lebe,“ antwortest du. Es ist nicht wahr, dass das Alles deine Zeit ist. Deine Zeit ist die, so lange die Gnade Gottes noch über dir waltet. Als Jerusalem vom römischen Heer und von der Wagenburg umschlossen war, da war es seine Zeit nicht mehr. Es war hingegeben in die Strafe seiner Sünde. Wir hören gar nicht, dass da noch Bußstimmen in der Stadt erschollen seien, dass sich da noch Knie gebeugt haben vor dem Sohne Gottes. - Bis zu dem Morgen, da Noah in die Arche ging, konnte die erste Welt noch sagen: „Es ist unsere Zeit.“ Von dem Morgen an war sie geworfen unter das Schwert der göttlichen Gerechtigkeit. Es war nicht mehr ihre Zeit. - Bis zu der Stunde, wo der Engel den Lot aus Sodom führte, konnten die Sodomiter sagen: „Es ist unsere Zeit.“ Sie konnten mit der Zeit noch machen, was sie wollten. Sie konnten sie noch brauchen zur Buße und zur Sünde. Von der Stunde an waren sie geworfen unter das Schwert der göttlichen Gerechtigkeit. Es war nicht mehr ihre Zeit. Denke an den verhärteten Pharao. Als die Wellen des roten Meeres von beiden Seiten über ihm zusammenschlugen, da war nicht mehr seine Zeit. Liegst du erst ganz fest geschmiedet in den Ketten der Sünde, dann ist deine Zeit nicht mehr. Drei Dinge sind es, sagen unsre Alten, deren wir auf den morgenden Tag nicht versichert sein können: des Lebens, der Buße, und eines gnädigen Gottes. Lass dir die Tränen deines Herrn aufs Herz fallen! Ergreife das letzte Restchen deiner Zeit. Bedenke, dass es keinen Frieden gibt, als wenn du dich mit Herz und Seele, Leben und Liebe in deinen Herrn eingesenkt hast. -
2) In seiner Weissagung.
Sind jedoch seine Tränen dazu für dich noch nicht heiß und schwer genug, so lass seine Weissagung dazu kommen. Sie lautet: Denn es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten. Und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum, dass du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist. Wenn die Leute zu Jerusalem den weinenden Jesus vor ihren Türen gesehen und sein Wort gehört hätten, so möchten sie gesagt haben: „Er weiß nicht, was er redet. Wer will diese Feste auf ihren Felsen stürmen und ihre Mauern zerbrechen?“ Dennoch hat der Herr Recht. Er rollt in seiner Weissagung den Vorhang auf, der über der Zukunft lag. Er hebt die vierzig Jahre weg, die nach seiner Kreuzigung dem Volke noch als Bußzeit gelassen waren. Als sie wirklich verflossen waren, bietet die Stadt in der Tat das Bild dar, das in der Weissagung vorgezeichnet ist. Das römische Heer liegt ringsum, die Wagenburg ist geschlagen, die Feinde ängstigen die feste Stadt mit allen Zerstörungsmitteln, die die damalige Welt kannte. Noch einmal hatte König Agrippa mit aller Beredsamkeit, die ihm zu Gebote stand, und vielen Tränen vorher zum Frieden geredet. Er sagt dem Volke: „Noch liegt das Schiff im Hafen, noch spielen die Stürme nicht mit demselben, noch könnt ihr es im Hafen erhalten.“ Er wies sie hin auf die gewaltige Macht der Römer: „Wenn man in die Höhe haut, fallen einem die Späne in die Augen!“ Es war umsonst. Die sich durch die Tränen und Weissagungen des himmlischen Königs nicht hatten rühren lassen, verachteten auch das Wort und die Tränen des irdischen. Als später das römische Heer wie Riesenarme die Stadt umschloss, da kommt so Vieles vor, was an die Geschichte des Herrn erinnert. Aber es war Alles anders. Es ist keine Gnade mehr darin, es sind eitel Schrecken. Da kommt noch einmal eine Maria vor; aber eine, die aus Hunger ihren Sohn geschlachtet, gekocht und gegessen hat. Da kommt auch noch einmal ein Jesus vor, aber einer, der Tag für Tag auf den Mauern der Stadt herumläuft und schreit: „Wehe, wehe über Jerusalem!“ An einem Tage rief er außer seiner alten Klage noch: „Wehe auch mir!“ An diesem Tage ward er von einem römischen Geschosse getroffen und getötet. In den Schreckenstagen der Belagerung hat die Stadt auch noch einen Simon und einen Johannes. Sie sind die Anführer zweier großer Parteien, sie sind Blutmenschen, die die Juden untereinander zum Kampfe führen, wenn der Kampf mit den Römern ein wenig schweigt. Sieht es doch aus, als ob Gott der Herr dem Volke die alten Namen noch einmal vor die Seele führen wollte. Aber die Personen, die sie trugen, waren gerade umgekehrt. Die Zeit, darinnen Israel heimgesucht ward, war vorüber. Die Christen waren schon längst fortgezogen in das Städtchen Pella am roten Meere, das ihnen der König Aretas von Arabien eingeräumt hatte, wie die Schwalben wegziehen von einem Haus, das eingerissen werden soll. Endlich ist es vollendet. Die Stadt ist samt dem Tempel verbrannt und geschleift. Es ist kein Stein auf dem andern geblieben. Das Volk ist ebenso wie die Steine seiner Stadt zerstreut in alle Völker. Was noch lebte, ward meist in die Sklaverei verkauft. Und noch liegt es in dieser Zerstreuung. Es ist ein Volk ohne Land, ohne Obrigkeit, ohne Heimat, ohne Tempel, Altar und Leibrock. Wie zerstreute Steine liegen sie unter den Völkern umher, leider auch darin Steine, dass sie nicht weich werden wollen, dass kein Glaube in ihnen wachsen will. Du Menschenkind, was jener Stadt geweissagt ist, ist auch dir geweissagt. Wenn Gott sein altes Bundesvolk nicht verschont hat, wenn er den alten zahmen Ölbaum ausgerissen hat, um seiner Unfruchtbarkeit willen, wie sollte er die Zweige des wilden stehen lassen, die er in jenen einpflanzte, wenn sie keine Frucht bringen! Auch unser Volk hat die Zeit seiner Heimsuchung gehabt. Lange hat Christus unter demselben gewandelt, lange ist ihm das süße Evangelium gepredigt. Hunger und Aufruhr haben endlich Prediger Gottes werden müssen. Hat ihre Predigt gefruchtet? Ist es anders geworden im Volke, wenigstens in denen, die noch einen Zug zu ihrem Heilande hatten? Habt ihr denn diese Geschichte ansehen lernen als einen geringen Abschlag auf das große Gericht Gottes, das unfehlbar hereinbricht, so wir nicht umkehren? Ist dir deine Schuld noch nicht mit Flammenschrift ins Herz geschrieben, ist der Zug zur Gnade noch nicht lebendiger geworden, gehst du noch nicht daran, christliche Herzens- und Hausordnung bei dir einzuführen: so hat dein Herr umsonst geweint, geweissagt und geblutet. Nur demütige Buße wendet seine Drohungen ab. Wenn das Kind auf den Knien liegt und den Namen des Mittlers, des lieben Sohnes Gottes im Herzen und auf den Lippen hat, dann bricht dem Vater das Herz dem Kinde entgegen, dann fällt ihm das Schwert aus der Hand. Sonst hilft nicht Kraut, nicht Pflaster, nicht Konstitution, nicht Bürgerwehr, nicht Landtag, nicht Parlament. Nur Eins hilft: Bekehrt euch zu Gott von ganzem Herzen! Folgt diese Bekehrung nicht, so wird er auch um dich seine Wagenburg schlagen.
Du kennst die Wagenburg des Gewissens. Man möchte gern heraus, und kann nicht heraus. Man möchte gern auf andere Gedanken kommen, und kann doch nicht aus seinen Gedanken heraus. O wir haben schon darin gelegen in dieser Wagenburg. - Du weißt es, wie er dich an allen Orten ängsten kann. Die Pfeile des Gesetzes sind scharfe Pfeile. Sie gehen durch Panzer und Rüstungen. Sie gehen durch alle Schilder der Entschuldigungen und der eigenen Gerechtigkeit. - Ist es dir schon einmal vorgekommen, dass er das stolze Gebäude deiner Gedanken und deines Hochmuts in der Nacht schleifte und keinen Stein auf dem andern ließ? Ist's nicht geschehen, so wird es geschehen. -
Auch um ganze Völker kann er seine Wagenburg schlagen. Seine lange Gnade hat uns so sicher gemacht, dass wir uns fast einbildeten, er könnte nicht mehr ganze Völker schlagen. In der Hungersnot und im Aufruhr hat er uns gezeigt, dass er es doch noch kann. Aber das sind alles nur Vorwolken zu dem großen Gewitter, welches hereinbricht, wenn es nicht durch den Ostwind der Buße und des Glaubens zurückgetrieben wird. Scheint es doch auch eine Weile zu stehen, es kommt doch heran.
Gottes Mühlen mahlen langsam,
Mahlen aber trefflich fein;
Was durch Langmut er versäumet,
Bringt durch Schärf' er Alles ein.
Mit der Weissagung über Jerusalem ist auch das letzte Nachtbild aufgerollt. Möge es uns ein Schreckbild sein! Möge es an uns ausrichten, was es an den Juden nicht ausgerichtet hat! Zwar klingen schon viele Stimmen solcher verkehrten Jesus von den Mauern des jetzigen Zion; aber das wissen wir, dass es mit seiner Barmherzigkeit noch nicht gar aus ist; er wirbt noch um unsre Seelen. Möge es dem Herrn gelingen
III. mit der Tempelreinigung.
Er trieb aus, die darinnen kauften und verkauften. Treibst du auch Markt und Handel im Heiligtume Christi? Ja wohl, alle Tage. Du bist getauft in den dreieinigen Gott, d. h. dein ganzes Herz soll ihm geschenkt, in ihn gesenkt sein. Nun handelst du fortwährend, ob er nicht mit einem halben, oder einem Viertel - oder einem Achtelherzen zufrieden sein will. Wie weit sind wir in diesem Handel flugs schon in die Brüche gekommen! Gottes Gesetz soll ganz gehalten werden. Da wird täglich gefeilscht und gehandelt: „Lieber Gott, bist du denn nicht zufrieden, wenn ich es halb, oder zum Viertel, oder zum Achtel halte?“ Gott mag von uns verlangen, was er will, es muss Etwas abgehandelt werden. Das Wenige aber, was du bringst, ist noch dazu falsche Ware und Münze. Es ist nicht bezeichnet mit dem Siegel des Kreuzes Christi, sondern der eignen Kraft. -
Du bist aber in der Kirche, im Heiligtume des Herrn. Du bist in der Taufe eingetreten in seinen Tempel. Also ist es Handel in seinem Heiligtume. Christus aber will und wird die Händler austreiben. Ananias und Sapphira haben auch gehandelt. Sie sind hinausgestoßen in den Tod. Lass den Handel. Reinige dein Herz, ehe der Herr den Tempel der Kirche reinigt. Bringe deinem Heilande ein ganzes Herz. -
Christus klagt über den Tempel und zugleich über unsere Kirche: „Mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt es gemacht zur Mördergrube.“ Zacharias, Barachias Sohn, war im Tempel ermordet. Doch das war das Wenigste, wodurch er den Namen Mördergrube verdiente. Viele Seelen aus dem jüdischen Volk waren durch der Pharisäer Heuchelei und Satzungen geistlich getötet, auf ewig getötet. Dahin zielt der Herr. - Nun schaut unsere Kirche an. Welchen Gräuel der Verwüstung sehen wir in ihr! Abfall von Jesu Christo und dem lebendigen Gotte wird frei und öffentlich gelehrt. Viele Lehrer tun es in den Schulen, und töten dem Herrn seine Lämmer. Viele Prediger tun es auf den Kanzeln, und töten dem Herrn seine Schafe. Die Hirten sind zum Teil Wölfe geworden. Wenn wir die in diesem Jahre geistlich Getöteten zählen könnten, so würden wir es das geistliche Pestjahr nennen. Es würde heißen wie bei Ezechiel: „Und stehe, des Gebeines lag sehr viel auf dem Felde.“ Teure Gemeinde, lasst uns mit unserm Herrn ringen, dass er seine Kirche reinige, dass sie keine Mördergrube mehr sei, dass er täglich im Tempel lehre. Jesus Christus ist der einzige Meister, der einzige Lehrer in Israel. Alle Andern sind nur seine Diener. Niemand hat in seiner Kirche zu lehren, denn er allein. Wer den Mund austut, zu leugnen den eingebornen Sohn Gottes, die ewige Erlösung, so in Christo Jesu geschehen ist, die einzige Gerechtigkeit aus dem Glauben, die Vergebung der Sünden allein in Christo, die Auferstehung und das ewige Leben, wer die ewige Wahrheit Gottes weghandelt mit eigner Klugheit, der hat in der Kirche Christi nicht zu lehren.
Wie stille war es in dem Tempel zu Jerusalem geworden, als der Herr die Wechsler, Händler und Taubenkrämer hinausgetrieben hatte! Da konnte man sein Wort, ja sein Wort so deutlich hören. Ach, dass doch das Handelsgeschrei der eigenen Meinung, des eignen Willens, des eignen Vorteils in unserer Kirche auch bald verstummte! dass durch dieselbe von einem Ende bis zum andern die lautere Stimme Christi schallte! Dann könnte die Welt draußen, die Pharisäer und Schriftgelehrten und die Vornehmsten im Volk, immerhin danach trachten, Christum zu töten, seine Gemeinde zu verderben. Dann könnten Ständeversammlungen, Parlamente und ungläubige Obrigkeiten Rat halten so viel sie wollten. Sie würden doch nicht finden, was sie ihm tun sollten. Er würde doch das Feld behalten. Doch wo ist diese Zeit! Wie fern liegt diese Hoffnung! Wir dürfen jetzt gar nicht ins Weite sehen. In uns, in unserm kleinen Herzenstempel wollen wir dem Handel ein Ende machen. Er soll keine Mördergrube der Propheten und des Heiligen Gottes mehr sein. In ihm wollen wir Christum täglich lehren lassen. An uns soll sein letzter Versuch zur Rettung nicht vergeblich sein. Wenn alles Volk, wenn alle Glieder unseres Hauses, alle Gedanken und Wünsche unseres Herzens ihm anhängen, dann gibt es für uns keinen zehnten August. Amen.