Vilmar, August Friedrich Christian - Bedenken über das unter dem 10. September 1855 von der theologischen Facultät zu Marburg ausgestellte Gutachten über die Hessische Katechismus- und Bekenntnisfrage

Vilmar, August Friedrich Christian - Bedenken über das unter dem 10. September 1855 von der theologischen Facultät zu Marburg ausgestellte Gutachten über die Hessische Katechismus- und Bekenntnisfrage

Zwei Metropolitane der Grafschaft Ziegenhain (von Roques zu Treysa und Stolzenbach zu Ziegenhain) hatten der theologischen Fakultät zu Marburg zwei Fragen, die erste den Gebrauch des Heidelberger Katechismus, die zweite den lutherischen oder reformirten Charakter der in dem Hessischen Katechismus enthaltenen Lehre betreffend, mit dem Verlangen vorgelegt, das Gutachten der theologischen Fakultät über dieselben zu vernehmen. Die Fakultät hat diesem Verlangen unter dem 10. September v. J. entsprochen und ihr Gutachten kurz darauf (gegen die Mitte des Octobers v. J.) auch veröffentlicht. Es ist dasselbe somit der öffentlichen Besprechung ausgesetzt worden, und Schreiber dieses, kurz nach dem Erscheinen des Gutachtens in die theologische Fakultät eingetreten, darf am wenigsten anstehen, seine Stellung zu dem Gutachten, welche, wäre dasselbe nicht veröffentlicht worden, höchstens zu einer Verhandlung mit seinen Collegen Anlaß gegeben haben würde, dem theologischen Publikum gegenüber zu bezeichnen. Es geschieht dies hiermit - zugleich auch, um wiederholten Anforderungen und Mahnungen der dringendsten Art, welche von Außen und von Seiten her, denen ich jede innere und äußere Rücksicht schuldig bin, mir zugekommen sind, zu entsprechen - indem ich erhebliche Bedenken, welche mir bei der erst vor wenig Wochen möglich gewordenen aufmerksamen Lesung des Gutachtens entgegengetreten sind, und die, wie ich glaube, vor der weitern Behandlung der in dem Gutachten besprochenen Angelegenheit einer reiflichen Erwägung bedürfen, zu dem Zwecke hier mittheile, um die gedachte Erwägung nicht allein in meinem Vaterlande, sondern auch außerhalb desselben zu veranlassen. Nur muß ich bevorworten, daß dies keineswegs sämmtliche Bedenken sind, welche ich gegen die Grundlage und Ausführung des Gutachtens mit gutem Fuge hegen zu müssen glaube, daß ich mich namentlich in dieser meiner Besprechung nicht auf den innern Gehalt und das Wesen der hier in Rede stehenden Lehre, auch nicht auf die Bedingungen einlasse, unter welchen, wie ich glaube, allein eine Kirche existiren kann, welche mit zweifelloser Gewißheit ihre Glieder dem ewigen Frieden unter der Hut des Erz-Hirten entgegenführen will, Bedingungen, welche bei der hier zu beantwortenden Kirchenfrage von der ernstesten Bedeutung sind, ja gradezu in den Vordergrund treten - und daß ich nicht einmal die historischen Bedenken in ihrem ganzen Umfange hier anzugeben, geschweige denn zu erörtern die Absicht habe. Es kann dieses wie jenes künftiger Zeit und Muße, so Gott will, vorbehalten bleiben, um so mehr, als schon das Detail, auf welches ich mich, im Ganzen dem Gange des Gutachtens folgend, einzulassen genöthigt bin, für die Evangelische Kirchen-Zeitung fast als eine Ueberladung erscheinen kann.

Die wichtigere Frage, die nach dem Bekenntnißstand des Hessischen Katechismus, oder vielmehr der Hessischen Kirche überhaupt - da das Gutachten selbst diese Erweiterung der Frage vorgenommen hat - stelle ich voran, die weniger wichtige und nach Außen wohl schwerlich hinreichend interessirende, welche den Umfang des von dem Heidelberger Katechismus in den Dorfschulen zu machenden Gebrauchs betrifft, werde ich nachher und kürzer behandeln.

Der zweite und umfangreichere Theil des Gutachtens (S. 12-82) hat die Beantwortung der Frage zum Gegenstand: „Ist die vornehmlich in dem Hessischen Katechismus dargelegte Lehre der Hessischen Kirche lutherisch oder reformirt?“ und beantwortet dieselbe S. 81-82 dahin: „Nachdem sich so ergeben, daß die Unterscheidungslehren, wie sie im Hessischen Katechismus vorgetragen und in Kirchenordnungen und im Synodalbekenntniß erläutert sind, mit den unbestritten reformirten, nicht aber mit den lutherischen Confessionen übereinstimmen, daß diese ihre Erklärung sich nicht im Widerspruch befindet mit den in Hessen anerkannten Bekenntnißschriften, namentlich der locupletirten Augustana und der Wittenberger Concordia, welche authentisch nach Bucers Declaration verstanden ward, sondern daß sie durch dieselben, wie auch durch die von den Trägern des Kirchenregiments ausgegangenen Kundgebungen bestätigt und durch die Organisationen der Landgrafen Moritz und Wilhelm IV.“ (soll wohl heißen VI.?) „aufrecht erhalten ist; daß endlich die vom zehnten Artikel der ursprünglichen Augsburgischen Confession, welchem in Hessen niemals rechtliche Geltung gegeben ist, so wie von dem angeblichen symbolischen Ansehen der Schmalkalder Artikel und des lutherischen Katechismus hergenommenen Gegenbeweise auf irrigen Voraussetzungen beruhen: so geben wir unser Urtheil über die zweite Frage dahin ab, daß die in ihrem Katechismus dargelegte Lehre der Hessischen Kirche nicht lutherisch, sondern reformirt ist.“

Dieses Ergebniß wird auf dem, bereits in den Streitigkeiten über die Verbesserungspunkte des Landgrafen Moritz (1605) eingeschlagenen Wege1) gefunden, daß behauptet wird, es sey bereits zu des Landgrafen Philipp Zeit (1526-1567) die reformirte Lehre in Hessen die kirchlich geltende gewesen, mithin durch den kirchlichen Organisationsact des Landgrafen Moritz in Hessen-Cassel eine Veränderung der Lehre nicht bewirkt worden; grade das Festhalten am Bestehenden habe im Jahre 1605 die Ausscheidung der lutherisch gesinnten Theologen veranlaßt (S. 75), so daß die Letzteren somit als Gegner des Bestehenden, als Abfallende von der hergebrachten Lehre (S. 48), als Neuerer betrachtet werden müssen.

Wie bedenklich dieser Weg schon im Allgemeinen sey, ergibt sich leicht für einen jeden, welcher sich die Mühe nehmen will, den von 1606-1647 gepflogenen Verhandlungen nachzugehen, und die weitschichtige Privatliteratur, so wie die kaum minder weitschichtige officielle Darstellung (Kasselischer Seits die Wechselschriften 1632 und die Acta Marburgensia; Darmstädtischer Seits vornämlich die Specialwiderlegung 1647) mit einiger Aufmerksamkeit durchzulesen.

Mit demselben Schein, mit welchem in den Wechselschriften und in dem vorliegenden Gutachten die Geltung der reformirten Lehre während der Regierungszeit des Landgrafen Philipp im damaligen Hessen dargethan werden will, kann man die Geltung der lutherischen Lehre zum Beweise bringen; jedenfalls setzt man sich in dem ersten Falle bei jedem vorgebrachten Beweise einem Gegenbeweise aus, so daß zuletzt auf das mindeste die Sache als unentschieden beruhen muß, wenn sie nicht gar in schlimmere Lage für die reformirte Lehre geräth, als sie vor Beschreitung dieses Weges war.

Diese Bedenklichkeit würde mich bestimmt haben, selbst wenn ich mit dem zuvor festgestellten Resultate (daß die Lehre des Hessischen Katechismus nicht lutherisch, sondern reformirt sey) einverstanden gewesen wäre, mich gegen die Einschlagung dieses Weges Seitens der Fakultät auf das Nachdrücklichste zu erklären, indem ich namentlich daran hätte erinnern müssen, daß selbst die Wechselschriften (in der „wohlgegründeten Rettung“) haben eingestehen müssen: „die Kasseler Theologen behaupteten, es sey das, was sie jetzt lehrten, schon zu Landgraf Philipps Zeit gelehrt worden, aber sie behaupteten nicht, man lehre und glaube jetzund im Niederfürstenthum Hessen eben dasjenige, was bei Lebzeiten und Regierung Landgraf Philipps geglaubt und bekannt worden.“ Der Sinn dieser spitzfindigen, aber nicht unrichtigen Aeußerung ist der, daß zwar zu den Zeiten des Landgrafen Philipp hin und wieder das gelehrt worden, was seit 1605 in Niederhessen bekannt und gelehrt werde, daß aber das Ganze der Lehre und des Bekenntnisses, wie solche in jenen Zeiten vorhanden gewesen, seit 1605 in Niederhessen nicht mehr vorhanden sey; oder mit andern Worten: Zu Landgraf Philipps Zeiten habe man officiell lutherisch gelehrt, bekannt und sich genannt, privatim aber auch abweichend (bucerisch, calvinisch, zwinglisch) lehren können.

Die obgedachte und so eben näher bezeichnete Bedenklichkeit ist durch das vorliegende Gutachten der theologischen Fakultät nur nicht benommen, im Gegentheil um ein sehr Bedeutendes verstärkt worden, wobei ich übrigens auf die Lehre von der Prädestination, welche von den Niederhessen in ihrer eben citirten Aeußerung mit in Rechnung gebracht war, selbstverständlich keine Rücksicht nehme, da diese Lehre im Bekenntniß der Niederhessischen Kirche rechtlich keine Stätte hat, wie denn auch das Gutachten dieselbe ganz richtig außer allem Betrachte läßt.

Das Gutachten kehrt nun ausschließlich die eine Seite, die der Meinungen, Absichten und Gesinnungen, welche neben den Thatsachen hergehen, die gelegentlichen und privaten Aeußerungen über den Bekenntnißstand, wie diese Meinungen, Absichten und Aeußerungen während der Regierungszeit des Landgrafen Philipp vorhanden waren, heraus; die officiellen Thatsachen bleiben entweder ganz unberücksichtigt, oder sie werden an den Meinungen und Absichten gemessen: ein Verfahren, durch welches jene Bedenklichkeit auf das Höchste gesteigert wird. Ein theologisches Gutachten hat, wo zwei Parteien sind, beide zu verhören und sein Urtheil erst nach vollständiger Anhörung beider Theile: der Meinungen und Absichten auf der einen, der Thatsachen auf der andern Seite, auszusprechen, ohne die Einen im Voraus zu zwingen, sich an den Andern messen zu lassen und denselben sich unterzuordnen. Aber noch mehr. Ein theologisches Gutachten ist, als wesentlich kirchliches Gutachten, vor allen andern Dingen darauf gewiesen, den öffentlich anerkannten Thatsachen, durch welche zwar nicht die Meinungen der Einzelnen, aber die kirchlichen Rechte, wozu auch das öffentliche Bekenntniß gehört, bestimmt werden, eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und darf dieselben jedenfalls nicht völlig unerwähnt lassen. Jenes Parteienverhör und diese Berücksichtigung des kirchlichen Rechtes sind in dem Gutachten noch weniger als in den Wechselschriften, mit denen dasselbe im Uebrigen auf fast gleichem Boden steht, beachtet worden, wenigstens nicht in demselben zu entdecken.

Eine vollständige Aufzählung der hierher gehörigen Belege würde einen ansehnlichen Band füllen; ich beschränke mich aus das Allernothwendigste, schicke aber die Bemerkung voraus, daß ich mich auf das Gegeneinanderhalten derjenigen Privatäußerungen Philipps und sonstiger „maßgebender“ Personen, welche sich im Schweizerischen oder Calvinischen, oder auch, da das Gutachten auf Bucer einen besondern Accent legt, Bucerischen Sinne aussprechen, und derjenigen, welche im Gegensatze der letztern auf Seiten der lutherischen Lehre stehen, nicht einlassen will, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil, will man diese Aeußerungen zählen, jedesmal einer Schaar der ersteren eine gleich starke Schaar der letztern gegenübertritt, und auch das Gewicht der einen dem Gewichte der andern ziemlich gleichstehen möchte; die stärkeren Aeußerungen für die Schweizer stehen im Anfange, die stärkern Aeußerungen für Luther am Ende der Regierungszeit Philipps. Nur daran darf ich nicht vorbeigehen, daß der Geschichtschreiber Wigand Lauze, der sich in allen politischen und kirchlichen Händeln unter Philipp sehr wohl unterrichtet zeigt, in seinem Werke (geschrieben von 1546-1561) ein sehr zu beachtendes und viele andere Zeugnisse aufwiegendes Zeugniß für die wenigstens officiell lutherische Richtung des Landgrafen Philipp ausstellt.

In sämmtlichen öffentlichen Acten, in den Reichshandlungen sowohl, wie in den Separathandlungen der evangelischen Fürsten und Stände, tritt Landgraf Philipp in Gemeinschaft mit den die s. g. lutherische Lehre bekennenden Fürsten und Ständen auf, wird von ihnen als zu ihrer confessionellen Gemeinschaft gehörig anerkannt und handelt mit ihnen gemeinsam; nicht ein einziges Mal tritt er ihnen gegenüber, selbst damals nicht, als er die Schwabacher Artikel zu unterzeichnen verweigerte, nicht, als er in den Schweinfurter und Nürnberger Verhandlungen (1532) dissentirte, und nicht, als es sich um die Theilnahme Friedrichs III. von der Pfalz an den confessionellen Acten handelte: er stand damals (1566), wie sonst, mit den übrigen evangelischen Ständen zusammen, folglich dem Kurfürsten von der Pfalz gegenüber; auch wird in dieser Beziehung nicht eine einzige Privatäußerung des Landgrafen, welche das Gegentheil besagte, aufzubringen seyn: auch privatim spricht er allezeit wir, wenn er die auf der s. g. lutherischen Stände, sie, wenn er die Schweizer, Oberländer oder Pfälzer bezeichnen will. Von den übrigen Reichsständen seiner Seite unterscheidet er sich nur dadurch, daß er einer (kirchlichen) Verdammung der Andern beharrlich entgegengetreten ist und sich ebenso beharrlich bestrebt hat, diese Andern in die Gemeinschaft der übrigen Stände herüberzuziehen, oder wenigstens aufgenommen zu seyen. Es sey hier nur erinnert an die vielfältigen Convente in Sachen des Schmalkaldischen Bundes 1530 und 1531, an die Schweinfurter Verhandlungen 1532 und den Nürnberger Religionsvergleich (wo Philipps Dissens sein Verhältniß zu den Ständen lutherischen Bekenntnisses nur desto klarer herausstellt), an den Frankfurter „friedlichen Anstand“ von 1539, an die Schmalkalder Convente von 1537 und 1540, an die Religionsgespräche zu Hagenau und weiter, an den Tag zu Naumburg im Mai 1554, so wie an die folgenden Verhandlungen zu Worms, Frankfurt, Naumburg, Augsburg von 1557 bis 1566, und vieles Andere, mehr Untergeordnete, was hier anzuführen nicht möglich ist. Diese Thatsache nebst Belegen ist in dem Gutachten gänzlich übergangen, und doch ist die bezeichnete Stellung des Landgrafen für die Stellung der Kirche seines Landes, welche er in jenen öffentlichen Handlungen vertrat, entscheidend. Kaiser und Reich bekamen durch diese Stellung, welche Philipp sich selbst gab, das Recht, ihn dahin zu rechnen, wohin er sich selbst stellte, und die Pflicht, ihn nicht anders zu behandeln, als diejenigen Stände des Reichs, mit welchen er zusammenstand, seine Confession also, so lange er nicht ausdrücklich und in reichsrechtlich gültiger Form ein Anderes erklärte, der Confession der übrigen Stände, auf deren Seite er stand, gleich zu erachten. Die Hessische Kirche hatte reichsrechtlich kein anderes Recht, als das, welches der Landgraf im Reiche und unter den Ständen vertrat, oder sie hätte ihre von der des Landgrafen abweichende Stellung öffentlich documentiren müssen. Des Landgrafen etwaige private Sympathieen und Antipathieen aber, so lange er von denselben keinen reichsrechtlichen Gebrauch machte, welcher ihm eine andere, abgesonderte Stellung angewiesen haben würde, kommen rechtlich in ganz und gar keinen Betracht, so hoch man dieselben auch vom biographischen, literarischen und culturgeschichtlichen Standpunkte aus immerhin anschlagen möge. Einen solchen Gebrauch aber hat Landgraf Philipp auch in den Zeiten seiner stärksten Sympathieen mit den Schweizern und Oberländern in seinen Reichshandlungen niemals gemacht. Die Aeußerung des Gutachtens S. 51: „Was die Augsburgische Confession zum Bekenntniß der Hessischen Kirche machte, war der Willensact Philipps, mit dem er sie unterschrieb“, ist, um nicht mehr zu sagen, jedenfalls eine solche, durch welche eine jede rechtliche Geltung eines öffentlichen Bekenntnisses unmöglich gemacht oder zerstört wird, und kann nur als die Grundlage einer bekenntnißlosen Kirche, wenn eine solche möglich ist, betrachtet werden.

Trotz seines Widerwillens gegen den zehnten Artikel der Augsburgischen Confession hat Philipp dieselbe unterzeichnet, ohne einen öffentlichen Vorbehalt hinsichtlich jenes Artikels weder an dem Reichstage zu Augsburg zu documentiren, noch jemals in seinem Lande zu publiciren. Dieser zehnte Artikel der Invariata ist deshalb in Hessen nicht für abrogirt zu halten, wenn man nicht den Stimmungen und Wünschen, den Neigungen und Gesinnungen eine völlig ungehörige Stellung nicht allein neben, sondern über den rechtlich gültigen Handlungen einräumen will. Daß derselbe aber nicht abrogirt worden sey, auch nicht durch die Wittenberger Concordie, geht aus einer langen Reihe von officiellen Acten hervor. Ich erinnere hierbei vor Allem an die abermalige Unterzeichnung der Confession nnd Apologie zn Schmalkalden 1537, an welcher sich sämmtliche anwesende Hessische Theologen und zwar ohne Vorbehalt (wie einen solchen Dionysius Melander in versteckter Weise hinsichtlich derjenigen Unterschrift machte, welche als ein Bekenntnis; zu den Schmalkalder Artikeln angesehen wird) betheiligten, ganz wie Bugenhagen, Regius, Amsdorf u. s. w., sodann an das Protocoll des Schmalkalder Convents von 1540 (die sogenannten zweiten Schmalkalder Artikel), wo Anton Corvinus und Johann Kymeus (wiederum wie 1537 in Gesellschaft Bucers) in Gemeinschaft mit Luther selbst, mit Amsdorf, Sarcerius u. A. sich wiederholt zur Augsburger Confession und Apologie und zu der Lehre derselben, „wie sie in unsern Kirchen verstanden und gelehret wird“, bekennen (Salig: 1, 477; 4, 196 - 207), so daß ohne den ärgsten rechtlichen Verstoß nicht anzunehmen ist, es habe die Unterschrift des Fontamus, des Adam Kraft, des Corvinus, des Kymeus, eine andere Geltung, als die Unterschrift Luthers, Amsdorfs, Spalatins und der Uebrigen. Selbst wenn man so weit gehen wollte, Bucer, Fontamus, Kraft, Corvinus, Kymeus für Mentalreservisten, also im rechtlichen Sinne für Lügner und Betrüger zu erklären, würde diese ihre moralische Eigenschaft an der rechtlichen Geltung ihrer Unterschrift, welche einfach und unbedingt gezeichnet ist, auch nur das Mindeste zu ändern nicht im Stande seyn, abgesehen davon, daß das Bleiben in einer Kirche, welche auf Mentalreservationen, Täuschung und Betrug gegründet wäre (wenn dies überhaupt denkbar seyn sollte), für jeden Mann von bürgerlicher Unbescholtenheit, geschweige denn von christlichem Glauben unmöglich seyn würde.

Ebenso verhält es sich mit den folgenden, oben aufgezählten Handlungen: der zehnte Artikel der Invariata ist durch dieselben in Hessen nicht abrogirt worden, und insbesondere verhält es sich ebenso damit auch hinsichtlich des Naumburger Fürstentages; ja im Gegentheil: es wird die Anerkennung der Thatsache, daß mit der Zustimmung zu der Weimarischen Formel die Geltung des zehnten Artikels der Augustana und zwar im Sinne der lutherischen Lehre festgestellt werde, von keinem Rechtskundigen versagt werden; Landgraf Philipp hat aber das Gutachten seiner Theologen, welche in zweiter Stelle auch die Weimarische Formel anerkannten, gebilligt, die Unterzeichnung hiernach vollzogen und die entsprechende Weisung an die Geistlichkeit des Landes durch die Superintendenten ergehen lassen, wie dies letztere von Lauze am Schlusse seines Werkes (2, 546) erzählt wird, auch nach den Vorgängen mit dem jüngern Geldenhauer (Hassencamp, Hessische Kirchengeschichte 2, 473, Anm.) wirklich vollzogen worden seyn muß. Ob die zur Begutachtung der Naumburger Präfation berufene Generalsynode gern oder ungern ihre Billigung auch der Weimarischen Formel ausgesprochen habe (wie darauf das Gutachten S. 45 hinweist), darauf kommt nichts an, ist auch nach dem Schlusse dieser Synodal-Begutachtung nicht einmal anzunehmen; genug, seit jener Weisung des Landgrafen, beziehungsweise der Superintendenten war jeder Pfarrer des Landes in der gültigsten und unanfechtbarsten Weise berechtigt, den zehnten Artikel der Augustana nach der Invariata zu acceptiren und im Sinne der lutherischen Lehre von demselben Gebrauch zu machen. Bei dieser Berechtigung aber ist es geblieben (vgl. z. B. das Gutachten der Generalsynode von 1576, Heppe, Gen.-Syn., Anhang 8. 21, nach welcher Stelle sogar mit gutem Fug angenommen werden kann, es sey bis 1576 von der Variata in Hessen überall kein Gebrauch gemacht worden) nicht nur bis zu der Synode von 1607, sondern auch nachher und bis auf den heutigen Tag: die Anerkennung der Invariata ward von den Hessen auf dem Leipziger Colloquium 1631 ausgesprochen, und der Superintendent Theophil Neuberger zu Cassel erklärte in einem oft aufgelegten Buche (Handbüchlein, 1630, Ausz. 1675, zusammengedruckt mit dem Glaubensspiegel, S. 167), daß er den zehnten Artikel der Invariata, dessen (lateinischen) Text er zur Vermeidung des Mißverständnisses vollständig beidrucken ließ, annehme („von Herzen glaube und lehre“). Beide eben aufgeführte Zeugnisse sind zwar keine öffentlichen Zeugnisse (da das Leipziger Colloquium nur halbofficiellen Charakter hatte), doch waren beide nicht möglich gewesen, wenn der zehnte Artikel der Invariata für Hessen-Cassel in den Jahren 1630 und 1631 förmlich abrogirt gewesen wäre.2)

Wenn die Abneigung oder der Widerwille eines bei einem öffentlichen Rechtsacte Betheiligten gegen den einen oder andern Artikel dieses Actes mit der Ungültigkeit oder der nachfolgenden Abrogation dieses Artikels gleichbedeutend seyn sollte, so würden wenig öffentliche Acte rechtsbeständig seyn; namentlich würde weder der Nassauer Vertrag, noch der Augsburger Religionsfriede, noch der Westphälische Friede für den Kaiser und die katholischen Reichsstände bindend gewesen seyn.

Wie die Stellen aus der Erklärung des Landgrafen Philipp auf dem Frankfurter Congresse 1557, welche bei Heppe, Gesch. des Deutschen Prot. 1, 151, stehen, für die Annahme der Abrogation des zehnten Artikels angeführt werden können, wie dies das Gutachten S. 34 thut, ist nicht wohl zu begreifen. Die gedachten Stellen, wenn schon (aber nach einer ganz andern Seite, den Katholiken gegenüber) allenfalls bedenklich, da dieselben die A. C. preisgeben, falls man eines bessern berichtet werden könne, beziehen sich auf die Propositionen des Congresses: „was man den Papisten nachgeben oder nicht nachgeben könne?“ und die darauf von den Theologen vorgelegte Forderung der abermaligen Unterzeichnung der A. C., welcher sich die Fürsten in dem Abschied unter dem 30. Juni, und Landgraf Philipp mit ihnen, ohne Vorbehalt fügten, wie übrigens auch - von Heppe auf den folgenden Seiten richtig erzählt wird; der hierhin gehörige Passus des Abschieds, welcher directe Beziehung auf die obige Erklärung des Landgrafen nimmt, lautet: „Die Unsrigen sollen sich einhelliglich erklären, daß sie so lange bei der Augsburgischen Confession, in Ansehung und aus dieser Hauptursache, daß dieselbe auf das Fundament der h. Schrift gebaut, bleiben würden, bis man sie eines Abgangs von göttlicher Schrift überweise“ (Salig. III. 270). Jene Stellen aus der bezeichneten Erklärung können mithin für den angetretenen Beweis nicht als brauchbar betrachtet werden. Die Schreiben Philipps an Albrecht von Preußen, welche im Gutachten S. 35 angeführt werden, beweisen nicht mehr, als daß Philipp keine klare Anschauung von dem Streitpunkt über das Abendmahl hatte, und aus der Stelle, welche aus Hassencamps Hessischer Kirchengeschichte, II. 110, aber mit Verschweigung der Hauptsachen, von dem Gutachten angeführt wird, ergibt sich sogar, daß Philipp die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl geglaubt habe, wodurch sichtlich auch dieses Beweismittel gänzlich hinfällig wird, gesetzt auch, es wären die gedachten Schreiben an den Herzog Albrecht mehr als Privatäußerungen, was nicht der Fall ist.

Gegen die Bedeutung der hier erwähnten, von dem Gutachten ganz unberücksichtigt gelassenen Reichshandlungen und sonstigen öffentlichen Acte des Landgrafen Philipp kommt auch die Wittenberger Concordie von 1536 nicht in Betracht, weder an und für sich, noch in dem Sinne, welchen das Gutachten der Geltung derselben in Hessen zuschreibt.

Nicht an sich, denn das Gutachten sagt selbst S. 35, dieselbe habe den Streit nicht entscheiden können, sondern nur als eine Waffenstillstandsformel angesehen werden wollen. Ist dies der Fall, und es wird sich schwerlich etwas Erhebliches dagegen einwenden lassen, zumal da die entscheidenden Stellen der Testamente der beiden Landgrafen, Philipps d. Gr. und Wilhelms IV., für diese Auffassung sprechen, so konnte dieselbe nicht bestimmt seyn, geschweige denn die Befugniß in sich tragen, der Geltung der A. C. im zehnten Artikel zu derogiren, so wenig wie, um innerhalb des von dem Gutachten gewählten Bildes zu bleiben, ein Waffenstillstand über das Object des Krieges eine Entscheidung zu treffen vermag.

Aber auch nicht in dem Sinne, in welchem das Gutachten der Concordie eine Bedeutung für Hessen zuschreibt. Eine Derogation hinsichtlich des zehnten Artikels der A. C. könnte der gedachten Formel höchstens nur in dem Falle zugesprochen werden, wenn Bucers Erklärungen, welche er derselben (immerhin in Gemäßheit seiner frühern Doctrin) späterhin mitzugeben für gut fand, in Hessen gleich der Concordie selbst öffentliches Ansehen erlangt hätten. Daß diese Erklärungen (von einer doppelten Art der Unwürdigkeit zum h. Abendmahl: gänzlich Ungläubiger und solcher Gläubigen, welche Gottes Gnadengabe im h. Abendmahl nicht tief genug erwägen) den Wortsinn der Concordie auf unwürdige Weise eludiren und noch dazu gänzlich schriftwidrig sind, soll hier nicht weiter erörtert werden, als durch die einzige Bemerkung: auf dergleichen unlautere und schriftwidrige Sätze läßt sich keine Kirche gründen; wäre aber wirklich die Hessische Kirche auf dergleichen gegründet, so würde sie den Verfall in sich selbst tragen und früher oder später eine schimpfliche Auflösung zu erwarten haben. Vielmehr soll nur gefragt werden: sind wirklich in der Hessischen Kirche diese Erklärungen Bucers zu der Concordie mit öffentlicher Auctorität bekleidet?

Das Gutachten führt dafür an:

  • S. 40 den Ausdruck der Kasseler (Ziegenhainer) Kirchenzucht von 1539 (Richter, Kirchenordnungen I. 290 f.): „daß der Herr sich selbst, seinen Leib und Blut und das zum ewigen Leben im heil. Sacrament mittheile“, woraus eine Anerkennung und Publication der Bucerischen Erklärung der Concordie nicht einmal indirect abgeleitet werden kann.
  • Ebendas. den Auszug aus derselben Kirchenzuchtordnung, „daß man sich bei der Taufe durch Ungeschicklichkeit und Mißbrauch des Todes des Herrn schuldig mache“ wobei jedoch das Gutachten unterläßt, die gleich folgenden Worte anzuführen: „in den (den Herrn) sie doch die kinder durch den heiligen tauff begraben“, wodurch die Stelle erst ihren Sinn bekommt, und sich als hierher durchaus nicht gehörig auf den ersten Blick ausweist.

Im Gegentheil läßt sich aus der für die Communicanten in der gedachten Ordnung vorgeschriebenen „Unterrichtung, Besorgung und Ermahnung“ (Richter, I. 293. 294) mit Bestimmtheit folgern, daß man bei Abfassung dieser Kirchenzucht an die Bucerischen Erklärungen nicht gedacht habe.
Zu welchem Endzweck diese beiden, dem versuchten Beweise so ganz undienlichen Punkte aufgenommen worden, ist nicht wohl abzusehen.

  • S. 42 den Gebrauch des Wortes „mit Brod und Wein“ in der Kasseler Kirchenordnung von 1539. Daraus mag eine Berücksichtigung der Concordie zu folgern seyn, auf Bucers Auslegungen bezieht sich dies mit auch nicht im mindesten.
  • S. 42 die Thamerischen Händel im J. 1544, in welchen die lutherische Auslegung der Bucerischen Concordie verboten worden seyn soll. Nicht die Lehre, sondern der gehässige Streit, das Schimpfen wurde verboten; von einer öffentlichen Autorität, mit welcher die Bucerischen Erklärungen bekleidet gewesen seyen, ja von diesen selbst, enthalten die betreffenden Verhandlungen, auf welche sich das Gutachten beruft (Anal. hass. 10, 426 sq.), nichts.

Ob nicht dieser Beweispunkt besser weggeblieben wäre?

  • S. 44 einen Brief des Superintendenten Pistorius zu Nidda an Joh. Sturm in Straßburg vom 18. August 1561 in der Angelegenheit des Zanchius. Die angeführte Stelle, jedenfalls nur ein Privatzeugniß, sagt nicht einmal mit Bestimmtheit aus, daß Pistorius ein Anhänger der Bucerischen Lehre sey, und gar nicht, daß die Erklärungen Bucers zur Concordie in Hessen Geltung haben; zudem erklärt er weiter (aber diese Stelle des Briefs wird vom Gutachten weggelassen) er wolle sich in den Straßburger Streit nicht mischen, sondern habe nur dem Zanchius seine Privatmeinung zu erkennen gegeben.
  • S. 45 die Erklärung der Hessischen Synode vom 8. October 1561 über die Naumburger Präfation. Daß diese nicht nur nichts für die Bucerischen Erklärungen, sondern alles gegen dieselben beweise, ist bereits vorher angeführt worden.
  • S. 47 die Erklärung der Abfasser des Gutachtens über das Maulbronner Colloquium vom J. 1566, welche von denselben auf der Synode von 1581 dahin abgegeben ward, daß sie dasselbe in Beziehung auf die Lehre von der Person Christi jetzt als nicht gehörig erwogen erachten müßten. Hierbei ist aber außer Acht gelassen, daß
  • diese Erklärung sich lediglich auf den zweiten Theil des Gutachtens, die Lehre von der Person Christi, bezieht, nicht auf den ersten Theil, die Lehre vom h. Abendmahl, in welcher auf das Nachdrücklichste die lutherische Lehre vom Abendmahl in Uebereinstimmung mit den Würtembergern gegen die Heidelberger von den Hessischen Kirchenhäuptern bekannt wird;
  • daß zur Zeit der Synode von 1581 von den sechs Abfassern zwei, Kaufunger und Roding, bereits todt, zwei andere, Pistorius und Crispinus, als abständig und dem Tode nahe nicht anwesend, Meier und Grau also die einzigen waren, welche jene Erklärung abgaben, grade von diesen beiden aber bekannt ist, daß sie ihre Meinung nach und nach den Absichten des Landgrafen Wilhelm IV. accommodirt und endlich gänzlich umgewandelt haben. Im Jahre 1576 nämlich berufen sich Grau und Meier neben Pistorius und Roding ausdrücklich auf das Gutachten von 1566 und zwar auch auf dessen zweiten Theil, von der Person Christi (Heppe, Gen.-Syn. I. Anhang S. 23).

Daß Meier überhaupt einen tüchtigen Zeugen nicht abgeben könne, wie S. 49 doch angenommen wird, möchte schon hieraus sich zur Genüge ergeben, wenn man auch auf die sonstige variable Haltung dieses Mannes keine Rücksicht nehmen will. Es würde vorzuziehen gewesen seyn, diesen mehr als bedenklichen Beweispunkt gänzlich wegzulassen.

  • S. 47-48 das Gutachten der Generalsynode von 1576 über das Torgische Buch. Daß in demselben von den Bucerischen Erklärungen kein Wort vorkomme, zeigt der Augenschein (bei Heppe, Gen.-Syn. I. Anhang S. 10-30), vielmehr wird in demselben die Invariata so citirt, als sey sie allein in Hessen rechtsgebräuchlich, mithin Maaßstab für die Wittenberger Concordie. Daß die Antwort der Sachsen auf dieses Gutachten die Bucerischen Erklärungen in dem Gutachten finden will, beweist nicht, daß sie darin stehen, vielweniger daß dieselben Autorität, geschweige denn kirchlich beglaubigte Auctorität in Hessen gehabt haben.
  • S. 49 das Project des L. Wilhelm IV. von 1574, betreffend ein Colloquium zwischen den Lutheranern und den Französischen, Schweizerischen und Pfälzischen Reformirten, in welchem Project auf die declarationes Buceri zu der Concordie Bezug genommen wird, so aber (was in dem Gutachten hinzuzufügen unterlassen worden), daß von allen Seiten die Erklärungen und Ausstellungen, welche bei der Grundlage des Colloquiums, der Concordie und Bucers Erläuterungen, würden vorzubringen seyn, entgegengenommen werden sollten. Es war und blieb dies - ein Project.

Daß man in Hessen auch einer mehr Zwinglischen Lehre, als die Concordie sammt den Erläuterungen Bucers mit sich brachte, Freiheit verstattet habe, wie dies das Gutachten S. 42 bis 44 zum Beweise der Auctorität der Bucerischen Erläuterungen beibringt, kann nicht bezweifelt werden, die Beweisfähigkeit dieses Umstands aber für das zu Beweisende ist mehr, als auch dem Zweifel zugemuthet werden darf; daraus könnte wohl folgen, daß die Bucerische Concordie gar keine Auctorität in Hessen gehabt habe, nicht aber, daß ihr sammt Bucers Erläuterungen öffentliche Auctorität zugekommen sey. 3)

Daß dieser Beweis nirgends das Object dieses Beweises trifft, dürfte aus dem Vorstehenden sich ohne Weiteres ergeben. Es kommt hier nicht auf Folgerungen und Annahmen an, am wenigsten auf künstliche und mißlungene, sondern auf klare, unzweifelhafte, kirchenrechtlich gültige Vorschriften, daß die Bucerischen Erklärungen Lehrnorm seyn sollen. An solchen Vorschriften fehlt es. Man darf fragen, ob es der Fakultät mit diesem Beweise Ernst gewesen sey.

Die Behauptung, welche das Gutachten von S. 50 an durchzuführen unternimmt, als habe nur die Variata in Hessen Geltung gehabt und als sey der zehnte Artikel der Invariata durch die Wittenberger Concordie abrogirt worden, ist in dem Vorhergehenden bereits zur genügenden Erörterung gekommen. Wo die zweite (Weimarische) Formel in der Naumburger Präfation neben der ersten acceptirt wird, wie dies in Hessen geschehen ist, da ist die Variata wenigstens nicht ausschließliche Auctorität, wo sie in der Weise acceptirt wird, wie dies in Hessen geschehen (die Formel der Synode in Beziehung auf die zweite Ausgabe der Variata, mit Berufung auf den deutschen unverändert gebliebenen Text steht bei Lauze 2, 540), da richtet sich die Auctorität, welche die Variata haben mag, nach der Invariata, und daß die Variata nicht einmal im Gebrauche gewesen seyn mag, geht aus der schon angeführten Stelle des Gutachtens der Generalsynode von 1576 (Heppe, Gen.-Syn. I. Anhang S. 21) deutlich genug hervor: es wird sich hier ohne weitern Beisatz auf die A. C. berufen, und aus dieser das improbant secus docentes ohne alle Beziehung darauf, daß dieser Satz in einer andern Ausgabe der A. C. fehle, zu weiterer Erörterung citirt.

Daß die in neuerer Zeit so vielfach wiederholte Behauptung, als sey jedesmal die Variata gemeint, wenn gesagt wird, „die A. C., wie sie von denen, so sie gestellet, verstanden und erkläret (locupletirt, stattlicher ausgeführt) worden ist“, keineswegs unbedingte Annahme verdiene, also auch in der Hessischen Kirchenordnung von 1566 diejenige Stelle, welche den eben angegebenen Ausdrücken conform ist (Bl. CLXIII b.), nicht nothwendig auf die Variata bezogen werden müsse, ergibt sich deutlich aus dem bereits angeführten Gutachten vom 19. October 1566, das Maulbronner Colloquium betreffend. Nachdem nämlich hier ausgeführt worden ist, daß, worin und warum sich die Hessen in der Lehre vom Abendmahl von den Heidelbergern absondern, und die Irrthümer der letztern von der bloßen Kraft u. s. w. des Sacraments, von dem nur scheinbaren Bekenntniß derselben zu der Gegenwart Christi und von dem Nichtempfangen des Leibes und Blutes des Herrn durch die Unwürdigen auseinandergesetzt und widerlegt worden sind - alles im Sinne der lutherischen Lehre, im bestimmtesten Sinne der Invariata - heißt es (Leuchter, S. 197): „Dieses sind die Ursachen, welche uns bewegen, daß wir in diesen ersten Punkten, die wahre Gegenwärtigkeit des Leibs und Bluts des Herrn Christi im Abendmal betreffend, mit den Heidelbergischen Theologen und allen ihren Consorten und Mitgenossen nit halten, sondern die Worte der Einsetzung dieses Sacraments anderst nicht, dann wie sie in der augspurgischen Confession gedeutet, und von denen, so die augsp. Confession zum theil selbst gestellet, zum theil aber in jenem rechten Verstande haben und behalten, declarirt und erkläret wird, verstehen, glauben und bekennen können.“

Hier ist die Invariata unzweifelhaft gemeint, und gibt diese Stelle außerdem einen etwas auffallenden Beleg zu der Behauptung des Gutachtens S. 53: „daß die verbesserte Confession in Hessen sofort Auctorität erhalten habe, konnte nur die Unkunde bezweifeln“; hiernach steht noch sehr in Frage, ob wirklich die Unkunde diese Zweifel gehegt habe.

Noch mehr steht in Frage, ob aus Unkunde behauptet werden könne, es sey der kleine lutherische Katechismus während der Regierungszeit des Landgrafen Philipp das die Lehre für den Schulunterricht kirchenordnungsmäßig normirende Buch gewesen. Wenn die Kirchenordnung von 1566 in einer allgemein gehaltenen, nicht präceptiven Stelle beispielsweise als die Hauptartikel christlicher Lehre des Catechismi enthaltend die Bücher von Luther, Melanchthon und Brenz nennt, und dann in vier speciellen und präceptiven Stellen Luthers Katechismus als der im Unterricht des Pfarrers zu gebrauchende bezeichnet wird, so mögte es schwer fallen, den Schluß zu ziehen, welchen das Gutachen S. 60-61 glaubt ziehen zu dürfen, Luthers Katechismus sey nur neben andern gleichberechtigten Katechismen von der Kirchenordnung gemeint. Am schwersten möchte es fallen, diesen Schluß mit dem vorliegenden Gutachten S. 60 aus dem die Kirchenordnnng vorbereitenden Synodalgutachten von 1559 zu ziehen, wo es (Hassencamp, 2, 496) heißt: „Zum Elften, was den Catechismum betrifft, so begehren wir - daß derselbige aufs fleißigst und treulichst - von den Predigern und Kirchendienern getrieben, dem Volke fürgetragen und eingepredigt werde, auch das Volk und die Zuhörer alle, vornemlich aber die Jugend zu demselbigen angehalten und gezogen werde, auch der kurze Catechismus Lutheri in solchem vorgenommen werde.“

Durch ein solches Interpretationsverfahren, welches kaum einer Partei im hitzigen Parteistreite zuzugestehen seyn dürfte, wird das Vertrauen zu der Facultät als einer unbefangen prüfenden, richterlich verfahrenden Corporation wenigstens nicht verstärkt, und es gewährt diesem Vertrauen auch keine Kräftigung, wenn, um die Geltung einer nicht lutherischen Abendmahlslehre in Hessen zu beweisen, sich S. 54 auf das Gutachten derselben Synode von 1559 berufen wird, wo es heißt, es solle gelehrt werden nach Augsburger Confession, wie diese Lehre vornämlich in locis communibus Philippi summatim bestimmt sey, und die Ansicht der citirten Stelle (Hassenkamp 2, 473. 521) dann zeigt, daß hier nicht von der Abendmahlslehre, sondern von der Lehre vom Gesetz und Evangelium die Rede sey. Eben so wenig kann das Vertrauen wachsen, wenn S. 59 behauptet wird, es sey ein von Leuchter S. 103 für den Gebrauch des lutherischen Katechismus angeführtes Document von Hassenkamp (2, S68) unbrauchbar gemacht worden, und sich dann durch Ansicht der betreffenden Stelle bei Hassenkamp ergibt, daß dieser nur den leicht beizubringenden Nachweis geliefert hat, es seyen 1545 die Sächsischen und Hessischen Theologen nicht persönlich in Spangenberg zusammengekommen, daß das Document aber (die Wittenberger Reformation) von den Sächsischen und Hessischen Theologen unterzeichnet, bekanntlich allerdings vorhanden sey.

Die Anerkennung der Schmalkalder Artikel, welche unzweifelhaft seit dem Jahre 1571 in Hessen stattfand und noch von Landgraf Moritz bei der Einführung seiner Verbesserungspunkte und in seinen Propositionen an die Generalsynode von 1607 durch die bestimmteste Berufung auf den Abschied der Generalsynode von 1581, in welchem die Anerkennung der Schm. Art. förmlich fixirt ward, festgehalten wird, sucht das Gutachten, von welchem diese Anerkennung auch zugestanden wird, dadurch zu schwächen, daß ausgeführt wird, diese Anerkennung beruhe lediglich auf den Zerbster Verhandlungen und Andreäs Vorspiegelungen4), habe sich mit andern gleichzeitigen oder vorhergehenden Erklärungen der Synoden nicht vertragen (ruhe auf unrichtigen historischen Voraussetzungen der Bekenner), und beziehe sich nur auf einen dieser Artikel (die Lehre von der Person Christi). Es thun die erstem Einwendungen der Thatsache der Anerkennung keinen Eintrag, und daß diese Thatsache vorhanden und älter als das Jahr 1571 sey, beweist nicht allein die Theilnahme der Hessischen Theologen an den Unterschriften zu Schmalkalden, welche letztere man doch nicht allzu gering anschlagen darf, sondern auch die Behauptung zweier Hessischen Superintendenten auf der Synode von 1576, es habe sich die Hessische Kirche von jeher zu den Schmalkalder Artikeln gehalten (eine Behauptung, welcher auf der Synode nicht widersprochen ward, wie das Gutachten S. 73 sagt, welche vielmehr in der Aeußerung des Sup. Meier [Heppe, Gen.Syn. 1, 202] Bestätigung findet). Die Beziehung auf die Schmalk. Art. aber, welche sich vor dem Jahre 1581 in dem Bekenntnisse der Hessischen Kirche zeigt, ist eine ganz allgemeine, nicht auf einen einzelnen Artikel eingeschränkte, und eben so allgemein, nicht auf die Lehre eines einzelnen Artikels beschränkt, erscheint sie auch von 1581 bis 1607, vielmehr war das, was die Synode von 1581 in Beziehung auf den Artikel von der Person Christi festsetzte, welcher nach Maßgabe der Schmalk. Art. in Hessen gelehrt werden sollte, nichts anderes als eine Anwendung des allgemeinen Bekenntnisses auf eine einzelne Lehre. Ohnehin ist es in der Geschichte der Kirche unerhört, weil in sich widersprechend, daß in einer Kirche aus einem sonst nicht acceptirten Bekenntnis; ein einzelner Artikel zum Symbol der Kirche gemacht wird; schon das umgekehrte Verfahren, aus einem im Ganzen angenommenen Bekenntnis) einen einzelnen Artikel, als nicht mit bekannt, auszuscheiden, ist bedenklich, doch nicht grade unmöglich; jenes Verfahren wäre monströs.

Bis dahin ist der von dem Gutachten versuchte Beweis, es sey die Hessische Kirche bis zum Jahre 1567 oder auch bis zum Jahre 1605 reformirten Bekenntnisses gewesen, in seinen mehr äußerlichen Momenten, dem Pfade des Gutachtens folgend, einer Musterung unterworfen worden; das Resultat desselben kann insoweit nicht zweifelhaft seyn, als durch das Gutachten die Sache noch nicht spruchreif geworden ist.

Man thut sogar nicht zu viel, wenn man behauptet, es sey durch das Gutachten die Angelegenheit wo nicht in eine weit ungünstigere Lage, als sie vorher war, gebracht, doch von der Spruchreife viel weiter entfernt worden, als es vor dem Erscheinen des Gutachtens vielleicht den Anschein hatte. Ehe und bevor namentlich nicht das Gewicht der Thatsachen, welche am Eingange dieses Aufsatzes bezeichnet worden sind, in umfassender und gründlicher Weise erwogen worden ist, wird sich eine Zugehörigkeit der Hessischen Kirche zu der reformirten Lehre während Philipps Zeit und der Zeit der Generalsynoden (bis 1582), ja bis zum Jahre 1605 nicht kurzweg behaupten lassen.

Es sind aber noch andere, von dem Gutachten augenscheinlich gleichfalls nicht erwogene Thatsachen mehr innerlicher Art vorhanden, welche einer genauen Erwägung bedürfen, ehe ein Schlußurtheil abgegeben werden kann, welches übrigens nicht von der theologischen Fakultät, sondern nur von der in Hessen altberechtigten Generalsynode gefällt werden kann, wozu letztere, beiläufig gesagt, sich auswärtige Gutachten als Hülfsmittel, vielleicht Schiedsmänner zu erbitten haben würde, da die Generalsynode möglicherweise in zwei Parteien ohne geistlichen Obmann zerfallen könnte.

Die eben angedeuteten Thatsachen sind: erstlich, daß die Hessische Kirche reformatorisch auf die Kirchen anderer Länder, welche von Anfang an lutherisches Bekenntniß gehabt und dasselbe behalten haben, eingewirkt hat. Die Grafschaft (jetzt Fürstenthum) Waldeck ist von Hessen aus durch Adam Kraft der evangelischen Lehre zugeführt worden, und bis auf die Zeit der Unionen lutherisch geblieben, hat sich auch fünfzig bis sechzig Jahre lang in nächster Beziehung zu dem lutherischen Hessen gewußt (s. Phil. Nicolai; Calvinische Lehre 1597 in der Vorrede); Grubenhagen (Göttingen) ist durch Winther und Johann Sutel, Calenberg durch Anton Corvinus, Schweinfurt durch Joh. Sutel, Würtemberg durch Schnepf und Oetinger in das Evangelium eingeführt und kirchlich organisirt worden. Wie ist es, noch abgesehen von allen hierher nicht gehörigen historischen Zeugnissen, daß und warum diese Lande vom Anfange an der lutherischen Lehre zugehörig gewesen sind, denkbar, daß von einer Kirche, in welcher die Schweizerische oder Calvinische Lehre, oder auch eine unsichere, auf Schrauben stehende Mischlehre kirchliche Auctorität gehabt haben soll, solche Colonieen haben ausgehen können? Wer Sinn für kirchliches Leben, nicht bloß für wissenschaftliche Doctrin hat und weiß, daß im 16. Jahrh. das erstere, welches im Volke wurzelt, vor der Doctrin, so mächtig dieselbe auch emporwucherte, den unbestreitbaren Vorrang behauptete, der wird sehr bedenklich werden, dem lutherisch colonisirenden Lande Hessen in jener Zeit die reformirte Lehre zuzusprechen. Diese Rücksichtnahme auf das wirkliche, kirchliche Leben kann an dem vorliegenden Gutachten in der eben angedeuteten und noch in anderer Beziehung schmerzlich vermißt werden.

Sodann hat das Gutachten begreiflicherweise das von ihm angetretene Beweisverfahren nicht anders abschließen können, als durch die Behauptung, es sey die Kirchenordnung von 1566, so wie die von 1573 der reformirten Lehre zugehörig. Durch diese Behauptung tritt das Gutachten in Widerspruch mit der Lutherischen Kirche in dem Kasselischen Oberhessen und im Großherzogthum Hessen nicht allein, sondern mit der gesammten Lutherischen Kirche Deutschlands, welche diese Kirchenordnungen bis daher als ihr angehörig betrachtet hat. Ehe man einer ganzen Kirche entgegentritt, ihr die Berechtigung ihrer Existenz abspricht und somit ihr Bewußtseyn auf das Tiefste verletzt, sollte man doch eine gründlichere Prüfung der ganzen Sachlage, als sie in diesem Gutachten angestellt worden und überhaupt in dem Bereiche eines Gutachtens auch nur möglich ist, anzustellen sich verpflichtet gehalten und wenigstens dieses Beweisverfahren aufgegeben haben, welches nur dazu dienen kann, neue Spaltungen zu erzeugen und alte weiter auseinander klaffend zu machen. Gewissenshalber würde ich für meine Person mich wenigstens zu diesem Verfahren, wohl auch zu dem ganzen Beweise nicht haben verstehen können.

Ist nun die Behauptung des Gutachtens richtig, daß mit den Vorgängen von 1605-1607 eine neue Lehre nicht in die Kirche der Landgrafschaft Hessen-Cassel (die Niederhessische Kirche) eingetreten, sondern die seit des Landgrafen Philipps Zeiten herrschende Lehre als die berechtigte Lehre lediglich beibehalten worden, was einstweilen als richtig gelten mag, so folgt aus dem Bisherigen wohl unwidersprechlich, daß der Beweis dafür, es sey die Lehre der Niederhessischen Kirche (abgesehen von dem, nach allseitigem Eingeständnis), wesentlich oder doch in den Hauptsachen reformirten Cultus derselben), eine reformirte Lehre, noch nicht unwidersprechlich gemacht sey, und vor der Hand und bis zu besserm Beweis Niemanden die Berechtigung abgesprochen werden könne, diese Lehre, auf die dem Gutachten gegenüber liegenden Gründe gestützt, eine lutherische Lehre zu nennen. Das äußerste, was zuzugestehen ist, ist das, daß man diese Lehre, weil sie nicht in die Concordienformel ausläuft, als eine der reformirten Lehre nicht mit einem damnant, sondern nur mit einem improbant gegenüberstehende Lehre, und die Kirche, welche solche Lehre führt, seit 1605, nachdem sie reformirte Cultuselemente in sich aufgenommen, als eine sogenannt Reformirte Kirche bezeichnen dürfe, welcher letztere Ausdruck in Niederhessen während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ziemlich häufig, und auch noch bis gegen 1670 hin einzeln, vorkommt.

Es wird hiernach zulässig seyn, die Formel des noch jetzt geltenden Katechismus von 1607 (und der noch jetzt geltenden Kirchenordnung von 1657): „die Sacramente sind göttliche Handlungen, darinnen uns Gott mit sichtbaren Zeichen die unsichtbare Gnade und verheißene Güter nicht allein anbietet, sondern auch versiegelt und übergibt,“ genau so zu verstehen, wie die Formel der Kirchenordnungen von 1566 und 1573: „Es sind göttliche Handlungen, darinnen Gott mit sichtbaren Zeichen die unsichtbare verheißene Gnade versiegelt und übergibt“, zu jener Zeit verstanden worden ist, und von der Lutherischen Kirche im Kasselschen Oberhessen und im Großherzogthum Hessen noch jetzt verstanden wird, mithin auf das Objective, auf das Geben, das ausschließliche Gewicht zu legen, und hiernach auch die ganz ähnlichen, die beiden Sacramente insonderheit betreffenden Formeln der gedachten drei Kirchenordnungen aufzufassen. Es wird hiernach weiter zulässig seyn, das Bekenntniß von 1607 (welches einen Theil des in der Niederhessischen Kirche als norma docendi geltenden Synodalabschiedes bildet) namentlich da, wo dasselbe von einem dreifachen Essen des Sacramentes redet (es wird aufgeführt: 1. das mündliche Essen des Sacraments, 2. die geistliche Nießung des Leibes Christi, 3. das mündliche Essen des Leibes Christi auch seitens der Gotteslästerer, Zauberer und anderer Ungläubiger, welches jedoch ohne Nutz und Frucht bleibe, und wird sodann das dritte Essen als schriftwidrig bezeichnet und an seinen Ort gestellt, ohne daß jedoch mit einer Kirche, welche dasselbe etwa glaubt, gestritten oder dieselbe verdammt werden soll), nach dem Maaßstabe zu richten, nach welchem dasselbe gerichtet zu werden verlangt („es ist dies Bekenntniß, wie wir wissen, der Augsburgischen Confession, deren Apologie und unserer Kirchenordnung nicht zuwider“), mithin, da eine dritte Nießung, welche ohne Erfolg sey, überhaupt nicht vorkommt, diese dritte als eine dritte und erfolglose zu verwerfen, die erste hier genannte Nießung aber für zusammenfallend mit der dritten zu erklären, indem nur auf diese Weise mit der damals geltenden und der bisherigen Lehre entsprechenden Kirchenordnung (von 1573) und der A. Conf, und deren Apologie, beziehungsweise mit der noch jetzt geltenden Kirchenordnung vom Jahre 1657 (welche fast durchaus eine wörtliche Wiederholung der Kirchenordnung von 1753 ist, so weit die Vorschriften derselben die heiligen Handlungen und den Katechismus betreffen) die geforderte Uebereinstimmung zu erzielen ist; - denn eine neue Lehre soll ja 1605 - 1607 nicht eingeführt worden seyn. Es ist vielleicht sogar noch Mehr zulässig.

Uebrigens sind in Beziehung auf die Lehre, welche seit 1607 eingeführt ist, noch manche Punkte einer näheren Erörterung zu unterziehen, wohin namentlich die Frage gehört, ob die Abschiede der Generalsynoden, von welchen der von 1578 so wie der Treysaer Conventsabschied von 1577 in die Norma docendi 1610 und 1657 ausdrücklich aufgenommen und in derselben geblieben sind, unveränderte Gültigkeit behalten haben? Es muß dies von dem Abschied von 1581 (wie dies auch das Gutachten annimmt) kategorisch behauptet werden, und es werden mithin auch die übrigen Abschiede, welche die Voraussetzungen der Abschiede von 1577, 1578 und 1581 sind, in Geltung seyn. Daraus folgt dann weiter ein sehr erheblicher Umstand für die Bestimmung der kirchlichen Lage in Hessen: es wird nicht allein das Negative, was die Abschiede von 1577 und 1578 enthalten (daß über die Lehre von der Person Christi nicht über die Schriftlehre hinausgegangen, d. h. daß die Lehre von der Ubiquität nicht vorgetragen werden solle), sondern auch das Positive derselben und der Abschiede von 1581 und rückwärts in Geltung stehen, wobei denn insbesondere auf die den Abschieden zum Grunde liegenden Glaubensbekenntnisse (Erklärungen des Confessionsstandes) in Erwägung kommen, mithin z. B. die unlimitirte Erklärung der Niederhessen auf dem Treysaer Convent von der Nießung der Würdigen und Unwürdigen, und Anderes, was in der schließlichen Entscheidung über den Bestand der Niederhessischen Kirchenlehre mit in Rechnung zu bringen ist.

Eben dahin gehört auch noch die Ermittelung, ob die Verbesserungspunkte des Landgrafen Moritz und deren Einführung von lutherischer Seite, sofort als voller Calvinismus (directer Uebergang in das gegenüberstehende reformirte Lager), oder vielleicht nur als Vorbereitung dazu aufgefaßt worden seyen? Die Schrift von Vincenz Schmuck, auf welche sich das Gutachten bezieht und die allerdings als Zeugniß gebraucht werden kann, nimmt das letztere an, und auch in der Streitliteratur der Gießener Theologen ist, wenigstens in den ersten Jahren, die letztere Ansicht noch immer vorhanden. Daran knüpft sich die weitere Frage, wann die Niederhessische Kirche von Außen her als eine Reformirte anzusehen begonnen worden sey, und wodurch dies herbeigeführt worden (bekanntlich wird bis zum Westphälischen Frieden das „reformirt“ in offiziellen Niederhessischen Actenstücken vermieden, und auch in nicht offiziellen, z. B. Privatstiftungsurkunden, möchte es vor 1621 nicht zu finden seyn). Daß dieses Material sorgfältig gesammelt und bekannt gemacht werde, ist für die dereinstige Entscheidung der streitig gewordenen Frage unerläßlich.

Ich schließe mit einigen Bemerkungen über den ersten Theil des Gutachtens (S. 1 - 12). Dasselbe enthält eine Beantwortung der Frage: „bestimmt das positive Kurhessische Kirchenrecht, daß der Heidelberger Katechismus, und zwar seinem ganzen Inhalte nach, in den reformirtm Schulen von Kurhessen gebraucht werden soll?“ und beantwortet dasselbe bejahend.

Der Heidelberger Katechismus ist durch die Schulordnung von 1656 für die drei oberen Klassen der lateinischen Schulen (der jetzigen Prima und Secunda der Gymnasien, nach dem Maßstab der gelesenen Autoren, gleichstehend) eingeführt worden, während für die unteren Klassen der Hessische (d. h. der kleine Lutherische nach der Redaction der Kirchenordnung von 1566, mit späterer Wiederaufnahme zweier damals weggelassener Fragen aus dem kleinen lutherischen Katechismus) Katechismus vorgeschrieben blieb. Eine Vorschrift des Consistoriums zu Cassel vom 1. Februar 1726, welche sich als eine Vollzugsvorschrift der bestehenden Gesetzgebung ankündigt, schrieb weiter vor, daß auch in den Landschulen von dem H. K., welcher hier „ein von denen Reformirten Kirchen approbirtes symbologisches Buch“ genannt wird, in der Weise Gebrauch gemacht werden solle, „daß diejenige, so 7 oder 8 Jahre alt, die 5 Hauptstücke der christlichen Religion zu lernen haben, mit denen erwachsenen aber staffelsweise in Erklärung sothanen Catechismi fortzugehen, und nachgehends selbige allgemählich und gleichsam ohnvermerkt, in den Heidelbergischen Catechismum zu führen, mithin ihnen zuerst die zehen Gebote Gottes, sodann das apostolische Glaubens-Bekenntnis, auch die Lehre vom Gebät, der Taufe und vom heiligen Abendmahl daraus zu erklären, jedoch aber das auswendig daher sagen derer Fragen, ohne Verstand, gar nicht vor genugsam gehalten werden mag, sondern die Catechumeni sobald durch eine deutliche Erklärung auf den Grund der Wahrheit zu leiten seynd und ihnen, nach dem Maas jedweder Capacität, einen Eindruck von ihrem Elend, Erlösung und Dankbarkeit, beizubringen ist; was aber die erwachsenen Schüler, zumalen aus denen Dorffne betrifft, so seynd selbige eben nicht zu zwingen, daß sie alle und jede Fragen und Antworten aus dem Heydelbergischen Catechismo recitiren müssen, sondern allenfalls genug seyn kann, wann dieselbe die fürnehmsten davon auswendig gelernt, im übrigen aber die Lehrgründe ans sothanem Heydelbergischen Catechismo nicht allein wol begriffen, sondern auch durch Sprüche aus heiliger Schrift (als worauf fürnehmlich ein Catecheta zu dringen hat) zu bevestigen und solche selbsten aufzuschlagen wissen, wie wolen, denen Umständen nach, sich dem Captui jedweden Schülers zu aooomogiren ist und mit denen ganz dum- und einfältigen über die fünf Hauptstück christlicher Lehr sich nicht wol fortgehen lasset.“

Eine obere Schulbehörde des Landes (die Regierung zu Cassel) verstand diese Vorschrift dahin, daß

  • in den unteren Klassen der Dorfschule der Hessische Katechismus (die fünf Hauptstücke) ausschließlich gebraucht, und
  • zu dem Heidelberger Katechismus nicht fortgeschritten werden dürfe, bevor nicht der Hessische Katechismus gehörig gelernt und begriffen sey;
  • in den obern Klassen der Dorfschulen jedenfalls nur einzelne Fragen aus dem Heidelberger Katechismus zu lernen seyen,

und glaubte zu Vorschriften, welche diesen Inhalt hatten, um so mehr berechtigt zu seyn, als der Heidelberger Katechismus nicht symbolisches Buch der Hessischen Kirche (indem kein kirchlicher Act vorhanden ist, in welchem sich über den Heidelberger Katechismus in diesem Sinne, wohl aber mehrere, in welchen sich direct und indirect im gerade entgegengesetzten Sinne ausgesprochen ist) und das gedachte Ausschreiben vom 1. Febr. 1726 nur die Vollzugsschrift einer Behörde zweiten Rangs sey, an welcher eine derselben gleichstehende Behörde innerhalb ihrer Competenz Abänderungen vornehmen darf (wie denn, was eben dieses Ausschreiben betrifft, Abänderungen der Vollzugsbestimmungen desselben, schon seit 100 Jahren successiv in größerer Zahl vorgenommen worden, theils von dem Consistorium selbst, theils von den Regierungen).

Darüber entspann sich eine Controverse zwischen der genannten Regierung und dem Inspektor der 2. (reformirten) Diöcese Marburg, in welcher das Ministerium des Innern um Entscheidung angegangen wurde. Letztere fiel für die Regierung aus und mit dieser Entscheidung war man anderer Seits nicht zufrieden, äußerte auch diese Unzufriedenheit, angeblich aus Besorgniß für die Integrität des reformirten Confessionsstandes, auf sehr laute und stürmische Weise. Das Gutachten der theologischen Facultät bejaht das, was von der Kasseler Regierung und dem Ministerium des Innern verneint worden war. Es muß hierbei die nicht gewöhnliche Geschicklichkeit anerkannt werden, mit welcher die Worte jenes Ausschreibens vom 1. Febr. 1726, welche das Gegentheil von einer Bejahung der vorgelegten Frage auszusagen scheinen, S. 10 des Gutachtens dahin vermocht werden, sich in ihr eigenes Gegentheil zu verkehren, und wenn man das Verfahren, welches für den Heidelberger Katechismus S. 5-12 des Gutachtens angewendet wird, mit dem, welches gegen den kleinen lutherischen Katechismus S. 56-63 in Anwendung kommt, zusammenhält, so ergibt sich ein ganz eigenthümliches Resultat, welches nicht völlig geeignet seyn möchte, die Ueberzeugung zu begründen, es sey in dem Gutachten allezeit mit demselben Maaße gemessen worden. Indeß - der Leser ist durch vollständige Mittheilung des Textes in den Stand gesetzt über diese, außerhalb der Grenzpfähle von Hessen wenig interessirende Streitfrage selbst zu entscheiden.

Auf dem Wege der Argumentation, zumal demjenigen, welchen das Gutachten einschlägt, wird eine Ueberzeugung davon, daß der Confessionsstand der Niederhessischen Kirche ein in der That reformirter sey, schwer oder gar nicht zu erzielen seyn. Vielleicht würde der umgekehrte Weg der Argumentation einen etwas bessern Erfolg erzielt haben: man fange nicht vom Anfange, sondern vom Ende, dem jetzigen Bestande und dem geltenden Namen der Niederhessischen Kirche an, und argumentire, unter Vorbeilassung der Fragen über Lehre und Kirchenordnung, kühnen Muthes rückwärts bis zum westphälischen Frieden und dem Receß zwischen Kassel und Darmstadt vom 14. April 1648, sodann, wenn auch mit einiger Vorsicht doch herzhaft - es handelt sich ja jetzt nicht mehr um eine Marburger Erbschaft - wiederum rückwärts bis zum Jahre 1618, nehme dann die Prädestinationslehre mit in den Bekenntnißstand der Hessischen Kirche Kasselischen Theiles auf, - wie dieselbe denn im Leipziger und im Kasseler Colloquium factisch (gleichviel ob berechtigt oder nicht) von den Niederhessischen Theologen vertreten worden ist - und gehe dann wiederum mit etwas größerer Vorsicht, aber allezeit unerschrocken bis zn dem Jahre 1605 zurück. Eine solche rückwärts gehende, lediglich auf die vorhandenen Thatsachen sich stützende und das kirchliche Recht, sowie den Glaubensinhalt nicht berücksichtigende Argumentation, hat für manche handfeste Gemüther erfahrungsgemäß weit mehr Beweiskraft als die beste historische Beweisführung, wäre auf jene auch weniger dialektische Kunst verwendet, als in dem vorliegenden Gutachten auf diese verwendet worden ist. Sollten aber dennoch einige widerharige Seelen sich finden, welche auch auf eine solche Argumentation hin nicht zu der Ueberzeugung kommen könnten, es sey die Niederhessische Kirche eine in der Lehre wirklich Reformirte, so bleibt auf dem Wege dieser Beweisführung immer noch die auf dem gegenwärtig eingeschlagenen Wege fast gänzlich verschlossene Zuflucht zu dem kräftigsten, alle beschwerliche und wirkungslose Argumentation beseitigenden Beweisgrunde übrig: zu dem, welchen der Geheimerath von der Malsburg und Landgraf Moritz selbst im Jahre 1607 anwendeten, und der bei Heppe, Verbesserungspunkte S- 84 Z. 4-9 v. u. zu lesen ist, zu demselben, welchen in diesen Tagen der Freikirchenmann Bunsen für die Preußische Monarchie zur Anwendung gegen die „Lutheranischen“ empfohlen hat. Dieser Grund wirkt. Ein ehrlicher Hessischer Schullehrer im Ziegenhainischen, welcher längere Jahre Unteroffizier gewesen war, fragte seine Schulkinder: warum werden die kleinen Kinder getauft? und als eine Antwort nicht erfolgte, antwortete er unverzagt selbst: „weil es obrigkeitlicher Befehl ist.“ Der Schulmeister ist vor einigen Jahren gestorben, seine Sinnesart aber lebt ohne Zweifel noch jetzt. Sollte es unmöglich seyn, die Antwort des tapferen Schulmeisters auch auf die weit leichtere Frage zu geben: warum sind wir reformirt?

A. F. C. Vilmar
ord. Professor der Theologie zu Marburg.
Abdruck aus der Evangelischen Kirchenzeitung.
Verlag
Berlin,
von Gustav Schlauditz.
1856.

1)
Doch wurde dieser Weg nicht gleich vom Anfange an betreten. Die ersten Aeußerungen der Beförderer der Verbesserungspunkte und des Landgrafen Moritz selbst waren radical und sagten sich von jedem Zusammenhange mit früheren Bekenntnissen los; erst als man diesen Weg als einen für die Marburger Erbschaft und das Eingeschlossenseyn in den Religionsfrieden von 1555 gefährlichen erkannte, entdeckte man jenen klüglicher einzuschlagenden Weg und hielt denselben bis zum Westphälischen Frieden beharrlich ein. Seitdem wurde dieser Weg verlassen und erst in dem vorliegenden Gutachten wieder beschritten.
2)
Privatzeugnisse sowohl als öffentliche Urkunden für die fortwährende Geltung der Invariata in Hessen lassen sich noch in großer Zahl aufführen; es möge nur an eines erinnert werden: an das Benehmen des Professors Wigand Orth zu Marburg (gest. 28. April 1566) welches derselbe sich bei Gelegenheit der durch Dietrich Schucks 1564 in Marburg vorgenommenen Doctorpromotion erlaubt hat (Specialwiderlegung S. 278 - 279); er würde nicht nöthig gehabt haben in so niedriger Weise zu heucheln, noch seine Unterzeichnung der A. C. gegen Bullinger zu entschuldigen, wenn eine förmliche Abrogation des 10. Artikels in Hessen statt gefunden hätte oder nur angenommen worden wäre.
3)
Beklagt kann werden, daß die Fakultät bei dieser Gelegenheit (S. 43) es sich nicht versagt hat, auf Lening sich zu berufen. Schlimm genug, daß seine Unterschrift gar manche Hessische Kirchendocumente befleckt; möge man diese Schmach mit Stillschweigen bedecken; zu einer eigens hervorgehobenen Berufung auf dieses schmutzige Subject als eine Auctorität hätte es bei der Fakultät nicht kommen sollen.
4)
Wenn Andreä dem Kurfürsten August von den Schmalkalder Artikeln gesagt hat, „unter allen Schriften unserer Confession sey keine in so ansehnlicher stattlicher Verhandlung und Berathschlagung vornehmster Theologen gestellt, als eben diese Artikel“, so sollte diese Aeußerung von dem Gutachten nicht, wie S. 68 geschehen, „eine derbe historische Unrichtigkeit“ genannt worden seyn. Das von Andreä Gesagte findet wirklich weder auf die A. C., noch auf die Apologie, noch auf den Katechismus, wohl aber auf die Schm. Art. Anwendung, welche in dem unleugbar zahlreichsten theologischen Convent, der zu Luthers Lebzeiten gehalten worden, zur Berathung gebracht worden sind. Gegen die A. C. machte bekanntlich die Admonitio Nevstadiensis den Einwand geltend, sie sey nicht in einem hinreichend zahlreichen Convente (Synode) von Theologen berathen werden. - Man ist zweifelhaft, wo dasmal die „derbe historische Unrichtigkeit“ liegt.
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