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Tholuck, August - Am Anfange eines neuen Halbjahrs.

Ihr seid gerüstet, meine Brüder, zu einem neuen Lauf, und habt ihn bereits begonnen. Ihr jagt nach einem Ziel, das ihr euch für das nächste Halbjahr und für die fernere Zukunft vorgestellt habt - welches ist dieses Ziel? Für einen Teil von euch ist es der fröhliche Genuss der Jugend, für einen andern sind es die Höhen der Wissenschaft. Ich will euch diese Ziele nicht umstoßen, aber ein anderes lasst mich euch aufstellen, das noch höher steht, da auch jene ihr nicht auf die rechte Weise erlangen werdet, so ihr dieses verfehlt. Lasst mich euch heut dasjenige Ziel zeigen, ihr Brüder, welches nicht bloß euch, sondern der ganzen Welt von dem Wort des lebendigen Gottes vorgehalten wird. Wir legen unserer heutigen Betrachtung das Wort des Briefes an die Hebräer zu Grunde Kap. 12,14. „Jagt nach dem Frieden gegen Jedermann und der Heiligung, ohne welche wird Niemand den Herrn sehen.

Unser Text, meine Andächtigen, enthält ein Dreifaches: zwei Ermahnungen und eine Drohung - welche sich auch andererseits wieder als eine Verheißung fassen lässt. „Jagt nach, heißt es, dem Frieden mit Jedermann“, das ist die erste Ermahnung, und im Bewusstsein, dass solches nicht möglich ist ohne die Heiligung, fügt der Apostel hinzu, „und der Heiligung,“ und knüpft an diese andere Ermahnung das ergreifende Wort: „ohne welche Niemand den Herrn sehen wird.“ Gewiss hätte der Apostel hier nicht so unmittelbar mit jener ersten Ermahnung, nach dem Frieden mit Jedermann zu trachten, die andere zur Heiligung verbunden, hätte er nicht eben die Heiligung als die Wurzel auch jenes Friedens mit den Menschen angesehen. Wie ja auch der Heiland an dem Schluss jener sieben Seligpreisungen, der Geistigarmen, der Betrübten, der Sanftmütigen usw., die Seligpreisung der Friedfertigen zuletzt stellt - gleichsam als die letzte Frucht aller jener Tugenden. Daher werden wir denn auch den Sinn des Apostels nicht missverstehen, wenn wir, das Streben nach dem Frieden mit Jedermann als die natürliche Folge der Heiligung betrachtend, sagen, er habe uns in diesem Text zweierlei Frucht der Heiligung dargestellt, einerseits den Frieden, andererseits das Schauen des Herrn, welches die Frucht des Friedens mit Gott ist. Und so ergibt sich uns denn aus unserem Text die erhabene Wahrheit: die Heiligung, ein Quell des Friedens auf Erden und ein Quell des Friedens im Himmel.

Zuvörderst lasst uns sehen: was ist Heiligung? Ein berühmter Kirchenlehrer hat den Ausspruch getan: „Das ganze Studium der Theologie besteht in dem einzigen kleinen Wörtlein heilig. An dessen rechtem Verständnis lernt der Theologe sein Lebelang.“ Allerdings gibt es gewisse Worte in der menschlichen Sprache, bei denen man erst inne wird, wie viel darin liegt, wenn man sie erklären soll, wo jedwedes Netz der Erklärung zerreißt, sobald man den ganzen Inhalt hinein tun will. Das ist denn auch der Fall bei dem Worte: heilig. Was ist heilig? Ihr lernt in euren Schulen: „Heilig ist derjenige, welcher das Gute liebt, und das Böse verabscheut.“ Eine ziemlich arme Erklärung, und doch eine gar reiche, wenn ihr sie nur recht versteht. Zunächst, um das Gute zu lieben und das Böse zu hassen, muss ich beides recht kennen; denn wie kann ich lieben und hassen, was ich nicht kenne? Ein heiliger Mensch ist also zunächst derjenige, der das Gute und das Böse recht erkennt. Und wenn wir uns daran nur allein messen wollen, hilf Himmel! wer unter euch ist heilig? Ich will nicht fragen: wer hat den Schleier von der fremden Brust gehoben? Wer hat auch nur die Windungen der Schlange in der eigenen Brust bis in den letzten Schlupfwinkel verfolgt? Wer kennt die Tiefen des Bösen in dem Herzen des Menschen auf Erden und die Tiefen des Guten im Herzen Gottes im Himmel? Ja, ist auch nur inmitten alles unseres andern Strebens nach Wissenschaft auf diese Wissenschaft unser Geist hingerichtet? - Es heißt aber weiter: Heilig ist derjenige, der das erkannte Gute liebt und das erkannte Böse verabscheut. Freunde, da kommen wir auf den Punkt, wo am meisten offenbar wird, wie schlimm es mit dem Menschen bestellt ist. O welche Kluft ist zwischen dem Wissen und der Liebe befestigt! Ach, wie deutlich stehst du ein, dass es besser wäre, wenn du, statt aufs Fleisch zu säen, auf den Geist sätest, statt nach der Ehre bei Menschen zu trachten, nach der Ehre bei Gott trachtest, statt so viel im Umgange mit Menschen dich zu verlieren, öfter den Umgang mit Gott suchst. Aber hasst du deswegen die Fleischeslust und Eitelkeit in dir? - kannst du aus Grund der Seele gegen dich selbst beten? -kannst du beten:

Zerbrich, verbrenne und zermalme,
Was Dir nicht völlig wohlgefällt!
Ob mich die Welt an einem Halme,
Ob sie mich an der Kette halt,
Ist Alles gleich in Deinen Augen.

Lieber Mensch, betest du wohl in Wahrheit auch nur Ein Vaterunser wider dich selbst? Betest du: „Geheiligt werde dein Name“ und Alles, was unheilig in mir ist, werde verzehret von dem Feuer deines Geistes! - „Zu uns komme dein Reich!“ es komme zu mir, es herrsche, bis Alles in mir dir gehorsam ist! - „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden!“ also auch in meinem Herzen, und jeder Wunsch, jeder Pulsschlag, der deinem heiligen Willen entgegen ist, soll dir, dir allein gehorchen!

Herrscher, herrsche, Sieger, siege -
König, brauch' dein Regiment,
Führe deine heil'gen Kriege,
Bis du Alles - auch in mir - hast vollendt!

Der Mensch, der dahin gekommen ist, dass er also sich selbst anklagen und verdammen, dass er gegen sich selbst beten kann, für den ist das Morgenrot nicht mehr weit. Ihr seht, Geliebte, viel liegt in jener Erklärung des Wortes heilig, wie wir sie alle lernen, und doch liegt noch nicht Alles darin. Lasst ihn nur vor eurem Ohr erschallen, den Chor andächtiger Menschen: „Heilig, heilig, heilig ist Gott, und Himmel und Erde sind seiner Ehre voll!“ Und ihr empfindet bei dem Gedanken an Seine Heiligkeit etwas, wofür alle menschlichen Worte und Erklärungen euch zu klein sind. Und das ist der Fall, wenn sündliche Lippen auf Erden diesen Lobgesang singen - wie aber, Brüder, wird uns dann sein, wenn wir ihn werden singen hören von den Tausend mal Tausenden verklärter Seelen im höheren Chor? - Gott ist heilig - o wie in dem Einen Worte Alles liegt, was den Menschen in den Staub werfen, und was ihn zugleich über die Sterne erheben kann! - Die Heilige Schrift kommt aber menschlicher Schwachheit zu Hilfe durch Bilder. Heiligkeit heißt in der Heiligen Schrift Licht; klares, fleckenloses Licht, wenn es in stiller Majestät von den Wolken herabzittert - das ist das Bild jenes geistigen Lebensstromes, der von Gott ausfließt und Menschenherzen heilig macht. Meine Geliebten, von Natur ist der Mensch ein finsteres und unruhiges Wesen, seine Gedanken irren in der Dunkelheit hierhin und dorthin, seine Wünsche sind getrübt von Eigenwillen und fleischlicher Lust, seine Gefühle wechseln wie Tag und Nacht: das erfahren wir Alle. Es will sich aber eine Sonne über dich stellen, die will ihre Strahlen auf dich herabfließen lassen, und deine Gedanken sollen Licht schauen in ihrem Licht, und deine Wünsche sollen in ihrem Glanz rein gewaschen werden, und in deinen Gefühlen soll kein Wechsel mehr sein zwischen Tag und Nacht, sondern ein ewiger Tag. Wollt ihr ein menschliches Wesen schauen, in welchem dieses zu Stande gekommen ist? Das ewige Wort des Vaters ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen. Blickt hin auf den, der sich selbst das Licht der Welt genannt hat! Lest in stillen Stunden der Sammlung die Evangelien, und sie wird aufgehen vor euch, jene himmlische Lichtgestalt, in der kein Dunkel war. Wie eine so tiefe Ruhe über die Gestalt des Heilandes ausgegossen ist - so viel Leben, und doch so viel Ruhe! Wie eine so beseligende Milde aus allem seinem Wort und Werk ausfließt - so viel heiliger Ernst, und doch so viel sanfte Milde! Welche königliche Majestät sich in seinen Zügen ausdrückt - so tiefe Demut, und doch so hohe Majestät! Wie so sicher und klar jedes seiner Worte, jede seiner Handlungen: das ist Leben im Licht, das ist heiliges Leben. Wie eine solche Erscheinung so wohl tut! Man könnte zu seinen Füßen sich niedersetzen, und sogleich alle Sorge und allen Gram vor ihm ausweinen. O ihr, die ihr euch Christen nennt, ist denn ein Abglanz dieses Lichtes auf euer Herz, auf euer Leben gefallen? Tragt ihr das Gepräge an euch, dass ihr seine Jünger seid? Seid ihr eingepflanzt in Ihn und hat Er angefangen in euch Gestalt zu gewinnen? Dann müsste ja auch an eurer Seite den Menschen so wohl werden.

Eine solche Heiligkeit, sage ich, ist ein Segen auf Erden; denn sie bringt Frieden unter die Menschen, und es erfüllt sich durch sie des Apostels Ermahnung, nachzujagen dem Frieden mit Jedermann. Sie stiftet Friede zunächst zwischen dem Christenherzen und der Welt; denn wo sie ist, schweigen die Leidenschaften. „Woher kommt, ruft Jakobus aus, Streit und Krieg unter euch? Kommt es nicht daher, aus euren Lüsten, die da streiten in euren Gliedern?“ O wäre allem Kriege in uns ein Ende gemacht, so würde auch bald allem Krieg außer uns ein Ende werden! Ein Christ, der im Licht wandelt, begehrt von der Welt nicht mehr, als was sein himmlischer Vater ihm zuweist. „Wenn wir Nahrung und Kleider haben, spricht er mit dem Apostel, so lasst uns genügen - es ist ein großer Gewinn, wer gottselig ist, und lässt sich genügen.“ Darum streitet er auch nicht um die Güter der Erde. Ein Mensch, der im Licht wandelt, begehrt nicht die Ehre der Welt. Es ist eine der höchsten, aber auch eine der schwersten Früchte der Heiligung, im Grunde der Seele das Trachten nach Menschenehre aufzugeben, und einfältig im Auge zu behalten die Ehre bei dem unsichtbaren Gott. Und doch werdet ihr, und zumal ihr, die ihr den Wissenschaften euch gewidmet habt, nicht eher frei vom Streit in euch selbst und außer euch, als bis ihr das erlangt habt. So ist denn also, wo die Heiligung in ein Christenherz einzieht, der vornehmste Grund alles Haders hinweggenommen. Die Heiligung stiftet aber in gewissem Sinne auch Friede zwischen der Welt und dem Christenherzen. Ich sage in einem gewissen Sinn, denn zunächst will es ja freilich scheinen, als ob alle Streitkräfte der Welt aufgeregt würden, sobald ein Mensch ernstlich anfängt, nach des Apostels Wort der Heiligung nachzujagen, ohne welche Niemand den Herrn sehen kann. Jener königliche Name, mit welchem ein Petrus die Christen anredet: Ihr Heiligen und Geliebten Gottes! - ist er nicht ein Spottname geworden unter den Kindern der Welt? Die Heiligen, die Frommen - ist das nicht das Losungswort gewesen, womit zu allen Zeiten die Kinder der Welt diejenigen verhöhnt haben, die da nicht vergessen konnten, dass Gott gesagt hat: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig! Wohl mag es sein, dass jene Frömmigkeit, gegen welche mit solchem Hohn angekämpft wurde, nicht immer eine lautere war, dass sie mit Ängstlichkeit und Formendienst verbunden war, den wir mit Recht Frömmelei, das ist falsche Frömmigkeit nennen; aber auch, wenn dies war, sollen wir nicht mitten in einer Welt, die Gottes vergisst, statt zu höhnen, vielmehr die Bruderhand reichen denen, die für Gottes Ehre eifern, wenn auch mit Unverstand? Irrt euch nicht, meine Brüder, unzählige Mal hat jener Hohn nicht die Verirrung getroffen, welche dem Ernst der Heiligung sich anschloss, sondern diesen Ernst selbst. „Wer Arges tut, sagt der Heiland, der hasset das Licht, und kommt nicht an das Licht, auf dass seine Werke nicht gestraft werden.“ Diese strafende Gewalt, mit welcher der ernstgesinnte Mensch, auch ohne Wort, das Unheilige richtet, sie ist die vornehmste Quelle jenes Hohns; denn solcher Spott und Hohn soll die richtende Stimme des eignen Gewissens übertäuben. So liegt es denn in der Natur jedes ernsten Strebens nach Heiligung, dass es Krieg oder Unfriede erweckt in der Welt, auch wenn der Christ selbst gern Frieden halten wollte. Lasst uns nie vergessen, dass der Heiland selbst das Wehe über uns gerufen hat, wenn alle Menschen von uns Gutes reden können. „Wehe euch, ruft er, wenn euch Jedermann wohlredet! Desgleichen taten ihre Väter den falschen Propheten auch.“ Daher denn auch der Apostel in einer Ermahnung, die der unsrigen ähnlich ist, ausruft: „Ist es möglich, soviel an euch ist, so haltet mit allen Menschen Frieden“ (Mat. 12. 18). Dennoch ist es wahr, dass in gewissem Sinne die Heiligung auch zwischen den Kindern der Welt und den Christen Friede stiftet. Wären die Kinder der Welt nur Welt, so wäre es freilich anders, es gibt aber ein Licht, das in jedem Menschen leuchtet, der in diese Welt kommt, und so oft das Licht wahrer Heiligung in dem Christen von außen zu leuchten beginnt, so fängt auch in vielen Kindern der Welt jenes Licht an, im Innern Zeugnis abzulegen, dass das Licht, welches Christus anzündet, Wahrheit ist. O es ist etwas so unwillkürlich Anziehendes und Großes in einer rechten Christengestalt, von der die Ströme der Liebe und des Friedens ausfließen, dass wohl auch das Weltkind am Ende seine Huldigung bringt, und selbst umgewandelt wird in ein Kind des Friedens. Und wenn die Erscheinung des Christen einzeln diese geistige Macht hat, wer widersteht der geistigen Macht von heiligen Scharen! Ihr wisst, was das Häuflein der dreitausend ersten Christen für eine Gewalt ausübte über die Hunderttausende Jerusalems, wie von ihnen geschrieben steht: „Sie hatten Gnade bei dem ganzen Volk“ und „alle Seelen kam Furcht an“ - Furcht, wovor? Weil sie spürten, „dass der, der in ihnen war, größer war, denn der in der Welt ist.“ - Und wenn an euch nun, an jedem Einzelnen für sich der Abglanz des Lichtes Christi gesehen würde, wenn er an euch allen zusammen gesehen würde, wenn man von euch sagen müsste: „Ja das sind Menschen, in denen Christus eine Gestalt gewonnen hat!“ wenn auch nur eine einzige Hochschule unseres Vaterlandes eine solche christliche Gemeinschaft darstellte, was müsste es für ein Schauspiel für die Welt sein! O hätte das Werk unserer Heiligung uns nur viel tiefer das Gepräge jenes Königs aufgedrückt, dessen Reich nicht von dieser Welt war, und der darum diese Welt besiegen konnte, auch wir würden viel herrlichere Siege erfechten!

Wenn nun also die rechte, die ganze Menschheit durchdringende Heiligung ein Quell des Friedens ist auf Erden, wie vielmehr ist sie ein Quell des Friedens im Himmel. Gott schauen - das ist ihr Ziel und ihr Ausgang, und damit Friede ohne Ende. Geliebte, wer von euch, der des Tages Last und Hitze trägt, blickt nicht nach dem Lande jenseits als nach dem Lande der Erlösung? Wer von euch steht an dem Sterbebett eines Angehörigen, ohne mit hellen Farben die Wonnen sich zu malen, denen derselbe entgegen geht? Was ist es nun, saget mir, wonach euer Herz in der Stadt Gottes verlangt, nach welcher die Toten wandern? Ist es Vervollkommnung eures Wissens, das, da es jetzt den kleinen Planet der Erde noch nicht umspannen konnte, alle Sternenwelten umfassen soll? - Ist es der Genuss, der, während er jetzt durch die fünf engen Pforten der Sinne einzieht, einst ohne alle Schranken in eure Seele strömen soll? Ist es das schöne Bild der Wiedervereinigung mit euren gestorbenen Geliebten? - Freunde, in aller dieser Sehnsucht liegt Wahrheit, aber lasst mich nur darauf euch aufmerksam machen, dass ihr für alle diese Art Sehnsucht bei den ersten Jüngern des Herrn keinen Ausdruck findet. Ihre Sehnsucht ist nur Eine. Vernehmt deren Stimme! „Ich wünsche abzuscheiden“, ruft Paulus. Warum?- um am Wissen zu wachsen? um ohne Schranken zu genießen? um bei den Geliebten zu sein? - Nein, „ich wünsche abzuscheiden, um bei Christo zu sein!“ Johannes triumphiert: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn es aber erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist!“ Und das Höchste, was des Heilandes Mund denen, die reines Herzens sind, verheißen kann, es ist - dass sie Gott schauen werden. O, dass ich, meine Geliebten, euch die Wahrheit zunächst einprägen könnte, dass alle christliche Sehnsucht nach dem Jenseits nur dann eine echt christliche Sehnsucht ist, wenn sie zum Mittelpunkt hat das Schauen Gottes und seines Sohnes! Denn Alles, was wir sonst schauen und genießen werden, das werden wir nur schauen dürfen im Licht Seines Angesichts. Sobald ihr ihn nur ganz durchdächtet, den Gedanken: ich werde Gott schauen, es würde jenes Verlangen danach auch erwachen. Freilich ist es kein Schauen mit dem Auge des Leibes; dieses Auge wird längst vermodert sein im Grabe, wenn meine Augen des Geistes den Herrn sehen werden. Auch hier lässt die Schrift im Bild sich zu menschlicher Schwachheit herab. Als den König der Könige auf dem Throne der Herrlichkeit in dem Palast des himmlischen Heiligtums hat sie uns Gott dargestellt. -

So sind wir denn jetzt in den Vorhöfen des Palastes jenes Königs. Einst werden wir in seine Nähe, an die Schwelle seines Thrones, ja an sein Herz kommen, und wie uns da zu Mute sein wird, das nehmt ab, meine Brüder, aus den Augenblicken, wo euch schon jetzt aus den Vorhöfen heraus ein ferner Blick in das Heiligtum vergönnt worden ist! Erinnert euch an jene Augenblicke der Andacht, wo in einsamer Kammer euer Herz ohne alle Falten vor ihm ausgebreitet lag, und seine Gnade auf euch herabfloss, wie die Sonne auf ein stilles Wasser, wo alle eure Gedanken sich in Einen zusammenzogen, und dieser Eine Gedanke sich wieder in eine Unermesslichkeit ausbreitete - damals habt ihr angefangen, Gott zu schauen. Der Apostel spricht von einem Frieden, der über alle Vernunft ist, das heißt, der seiner Natur nach so geheimnisvoll ist, dass wir ihn nicht begreifen mögen. Dieser geheimnisvolle Friede hat euch damals umfangen, wie ein Strom, dieser geheimnisvoller Friede wird euch dann, wenn ihr am Ziel seid, umwallen, wie ein Meer; denn das Schauen Gottes ist ein Friede mit Gott und in Gott in der Vollendung.

Wer von euch sie nie kennen gelernt hat, die Friedensstunden einsamer Andacht, in ihm wird freilich auch durch diese Schilderung die Sehnsucht nach dem nicht erwachen, was aller Christen Ziel und Ausgang ist. Der ist es aber auch, der, wenn er einst in den Himmel kommt, in dem Himmel die Hölle finden wird. Wenn ich zuweilen überlege, wie dieser und jener mit so fröhlicher Hoffnung und Zuversicht über die dunkle Schwelle des Todes geht, für den es, so lange er hier auf der Erde war, nichts Drückenderes gegeben hat, als ein paar Stunden lang in einer Gesellschaft zu sein, wo nur über das Ewige und Unvergängliche gesprochen wurde, so erschrecke ich über die Größe der Selbsttäuschung. O du Verblendeter, Höllenqual dünkte es dich, in den Vorhöfen des Heiligen Israels auf Stunden weilen zu müssen, was wäre deine Qual, wenn du Ewigkeiten hindurch vor seinem Angesicht stehen müsstest? Womit soll ich sie vergleichen, die Versammlung der verklärten Heiligen im Himmel? Kann ich sie mit etwas Anderem vergleichen, als mit den Versammlungen, die sie auf Erden vor Gottes Angesicht feiern? Ja, meine Freunde, würden unsere kirchlichen Versammlungen wieder mehr, was sie sein sollen, dass wir nicht bloß zusammenkämen, um durch den Prediger uns erbauen und entzünden zu lassen, sondern selbst auszuströmen in heiligen Bekenntnissen und Gesängen die Flammen, welche die Woche über aufgegangen sind in unseren Herzen, warm zu werden einer an des andern Gebeten, und den Prediger nur als denjenigen anzuhören, dessen Zunge an unserer Aller statt redet, wes uns Allen das Herz voll ist: es gäbe kein getreueres Bild dessen, was die Versammlung der Heiligen jenseits sein wird. Auch dort werden wir Kirche halten, ja dort werden wir erst recht Kirche halten, werden wir Kirche halten in Ewigkeit, und wer in der Kirche des Herrn auf Erden seine Heimat fand, der wird sie im Himmel finden. Ihr nun aber, die ihr die Friedensstunden einsamer Andacht kennt, und in der gemeinsamen Andacht euren Himmel auf Erden gefunden habt, euer Herz sehnt sich, dass ihr mit dem Psalmisten ruft: „Wie der Hirsch dürstet nach frischem Wasser, so dürstet meine Seele nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich sein Angesicht schaue!“ Ihr, die ihr solche Sehnsucht habt, bedenkt am heutigen Tage mit neuem Ernst, dass ohne Heiligung Niemand den Herrn schauen wird. „Die reines Herzens sind, sagt der Heiland, werden Gott schauen „. Und warum nur die? Weil das reine Herz selber der Spiegel sein wird, in welchen die Geistersonne wird reine Strahlen werfen können. Erinnert ihr euch wohl aus dem Alten Bund, wie selbst die heiligen Gottesmänner einerseits eine solche Sehnsucht hatten, Gott zu schauen, dass Moses auslief: „Habe ich Gnade vor Deinen Augen gefunden, so lass mich Deine Herrlichkeit sehen“, und wie wiederum andererseits sie sich fürchteten, Gott zu schauen, damit sie nicht des Todes stürben? Und was war es, das mit dieser Furcht sie erfüllte? War es nicht das Bewusstsein, dass das Heilige nur von dem Heiligen geschaut werden darf? Eine glühende Kohle vom Altar Gottes muss die Lippe eines Jesaias reinigen, wenn er den Herrn sehen soll, ohne zu sterben. Lasst es mich euch mitteilen, jenes erhabene Gesicht des Propheten: „Des Jahres, da der König Usia starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Stuhl; und sein Saum füllte den Tempel. Seraphim standen über ihm, ein jeglicher hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern, und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehren voll. Dass die Überschwellen bebten vor der Stimme ihres Rufens; und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Wehe mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen, und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen: denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog der Seraphim einer zu mir, und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, dass deine Missetat von dir genommen werde, und deine Sünde versöhnt sei.“ - Heilige und Geliebte Gottes, so bedürfen denn auch wir glühende Kohlen vom Altar Gottes Tag für Tag, wenn auch wir das Ziel unserer Sehnsucht zu erreichen wünschen, dass wir den Herrn schauen. Nicht dass ich euch umstoßen wollte die zwei Ziele, die ihr euch vorgesteckt, den freudigen Genuss eurer Jugend, oder die Höhen der Wissenschaft, - nur dass ihr zuerst trachtet nach dem Reich Gottes und seiner Heiligung; denn Gott geheiligt soll euer Genuss sein, Gott geheiligt die Arbeit für eure Wissenschaft.

Der Apostel ruft euch zu: „wacht, steht im Glauben, seid männlich und seid stark“, und hat euch damit Alles gesagt, was ihr bedürft, um in der Heiligung zuwachsen. Wacht: o Brüder, alles Unheil kommt aus den unbewachten Stunden. Unbewacht ist aber die Stunde, wo der heilige Hüter in euch einschlummert, der Gedanke an Gott und die Ewigkeit. Jeder eurer Genüsse, der vor dem Gedanken an Gott und die Ewigkeit erbleicht, ist Sünde. Und damit jener heilige Hüter nicht einschlummere, o haltet darauf, dass an jedem eurer Tage wenigstens der Teil einer Stunde ausschließlich dem Gedanken an Gott und die Ewigkeit angehöre. O glaubt es mir, Freunde, ich spreche die Erfahrung Vieler unter euch aus. Eine solche halbe Stunde des Tages trägt Früchte der Ewigkeit. Wir können in den Zerstreuungen des Lebens der stillen Stunden nicht entbehren. Steht im Glauben! Steuert dem Zweifel, wenn er die stärkste aller Waffen euch entreißen will: das Wort der Wahrheit, wie sie in Christo ist. Nur mit dieser Waffe werdet ihr männlich und stark sein. Ihr werdet die Wahrheit, die ihr geglaubt habt, auch erfahren. Christus wird eine Gestalt in euch gewinnen, und, wenn von allen Seiten her die Anfechtung der Welt auf euch eindringen wird, werdet ihr mit Johannes ausrufen können: „Der, welcher in uns ist, ist stärker, als der in der Welt ist!“ -

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