Vinet, Alexandre - Das Lernen ohne Ende. 1. Rede

Vinet, Alexandre - Das Lernen ohne Ende. 1. Rede

2. Tim. III, 7.
Lernen immerdar, und können nimmer zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

Erste Rede.

Die Mathematik lässt die Annahme zweier Linien zu, welche, sich immer einander nähernd, sich niemals begegnen. Wenn es nicht in unserer Macht steht, selbst mit den feinsten Instrumenten, diese Annahme in der sichtbaren Welt zu verwirklichen, sollten wir den traurigen Vorzug haben, in unserer moralischen Existenz wiederzufinden, was die äußere Welt uns niemals zeigen wird? St. Paulus versichert uns, dass man immerdar lernen kann, ohne je zur Erkenntnis der Wahrheit zu kommen. Diese Behauptung, welche er an dieser Stelle nur auf gewisse Frauen, „die mit Sünden beladen sind, und mit mancherlei Lüsten fahren,“ anwendet, ist nicht, Ihr begreift es wohl, ausschließlich wahr für das eine der beiden Geschlechter. Bei dem einen, wie bei dem andern lassen uns eine Menge von Individuen Zeugen dieses Phänomens werden, das auf den ersten Blick sonderbar erscheint, doch ganz natürlich ist, wenn man es näher prüft, und wenn man die Ausdrücke genauer erwägt, deren sich der Apostel bedient.

Die Wahrheit, von der er an dieser Stelle spricht, umfasst zugleich das, was wir sind, und das, was Gott ist; ich sage, von der einen Seite, die Erkenntnis unserer Natur, unserer moralischen Bestimmung, unserer Lage im Leben, und, von der andern, die des Werkes, welches die Barmherzigkeit Gottes zu unserm Heil vollbracht hat. Die Wahrheit, welche St. Paulus im Auge gehabt hat, besteht als Wahrheit nur in der Vereinigung dieser beiden Teile; wer nur die erste Hälfte ohne die zweite hat, kennt nicht die Wahrheit; aber, noch mehr, wer auch die zweite besitzt, sie jedoch nur durch den Geist besitzt, der kennt die Wahrheit eben so wenig. Es gibt also zwei Arten, außer der Wahrheit zu sein; man kann entweder die erste Hälfte des Weges gemacht haben und dabei stehen bleiben, oder auch den zweiten Teil des Weges zurückgelegt haben, doch nur unter der Leitung der reinen Vernunft. In dem einen, wie in dem andern dieser beiden Fälle muss man unter die Menschen gezählt werden, von denen uns der Apostel sagt: „dass sie immerdar lernen und nimmer zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Sie lernen immer, weil jede dieser Hälften der Wahrheit so umfangreich ist, dass man sie unerschöpflich nennen kann. Sie kommen nicht zur Erkenntnis der Wahrheit, weil die Wahrheit von zwei Bedingungen abhängt, von denen die erster den einen, die zweite den anderen fehlt. Die erster, eine der Hälften der Wahrheit durch die andere zu vervollständigen; die zweite, die Wahrheit nicht mit dem Geist allein, sondern mit dem Herzen, mit dem ganzen Menschen zu erfassen. Diese Unterscheidung teilt die Erben eines gemeinschaftlichen Unglücks oder die Mitschuldigen eines und desselben Vergehens in zwei Klassen. Diese beiden Klassen oder diese beiden Zustände sind es, für welche wir nach einander Eure Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.

Bleiben wir, meine Brüder, einen Augenblick diesseits unseres Gegenstandes stehen, und werfen wir einen Blick auf eine andere Klasse von Menschen, auf die nämlich, welche keinen Teil der Wahrheit in keiner Weise kennen, auf die, welche, weit entfernt, immerdar zu lernen, niemals lernen. Wie kann man, meine Brüder, als Mensch, nichts über den Menschen lernen; lebend, nichts vom Leben wissen; als Christ von Geburt, nichts von Gott kennen? Wie kann man es? Indem man dem Licht alle Fenster der Seele verschließt, indem man vor jede ihrer Türen eine wachsame, nie schlafende Schildwache, unter dem Namen von Vergnügen, Geschäft und selbst Pflicht stellt; indem man in der Reihe der weltlichen Gedankenrichtungen sich keine Lücke bilden lässt; indem man, mit dem Anschein vielleicht eines ernsten Wesens, in der Betäubung und im Sinnentaumel lebt; indem man in eine kalte und systematische Torheit vernarrt ist; indem man sich aus dem Leben eine Ewigkeit, aus dem Fleisch einen Gott, aus dem Genuss eine Religion macht. Es bedarf dazu nicht einmal immer so vieler Unkosten. Wenn, für gewöhnlich, Berechnung in dieser Unwissenheit ist, weil gewöhnlich ein dunkler Instinkt die Seele gewarnt und ihr im Voraus Furcht vor der Wahrheit eingeflößt hatte, so macht doch auch oft eine beklagenswerte Erziehung, dass die Unwissenheit das natürliche Klima der Seele und die unveränderliche Wohnung des Geistes wird; das Vorurteil, mit der Muttermilch eingesogen, unaufhörlich durch das Beispiel gestärkt, nimmt die ganze Kraft und die Lebendigkeit des Instinktes an; die tieferen und wahreren Instinkte werden vor ihrer Geburt erstickt, wie eine Flamme vor ihrem Ausbruch; man lebt von dem weltlichen Leben, ohne nur zu ahnen, dass es ein anderes gibt; man begreift nicht Interessen einer höheren Ordnung; man findet kaum die Zeit, sie wahrzunehmen; man vernimmt weder die Klagen des tief eingeschlafenen Gewissens, noch das Lachen des Teufels, der sich wohl hütet, sein Opfer anzufechten; man lebt nicht in seiner Seele, in der man all den vortrefflicheren Instinkten begegnen müsste, womit Gott sie ausgestattet hat; man lebt in seinen Empfindungen und in den tausend Gegenständen, welche sie erwecken; man lebt in seinen Wünschen, in seiner weltlichen Furcht und Hoffnung; nicht immer, wie Ihr wohl glauben könnt, mit dem lauten und heftigen Wesen der Leidenschaft, sondern mit einer Miene von Vernunft und Ruhe, mit einer Ordnung und einer Mäßigung, die uns oft, von Seiten der Welt, den Namen von ernsten und solchen Menschen eintragen, die von unserm eignen Geist jeden Gedanken an Unordnung fern halten, die uns beruhigen würden, wenn wir nötig hätten, beruhigt zu werden; trügerische Außenseiten, hinter welchen Gott allein, und die, welche das Geheimnis Gottes besitzen, die Unordnung und die Torheit entdecken können. Denn unter diesem, unseren eignen Augen so ruhig scheinenden Grund findet Schrankenlosigkeit für das Schlechte, ein wütendes Loben, eine Orgie, wenn man so sagen darf, aller Sünden-Prinzipe statt, welche unsere Natur verbirgt; gleich wie in einem sorgfältig verschlossenen und scheinbar der Ruhe der Nacht hingegebenen Hause tausend Exzesse, tausend Zügellosigkeiten statthaben, wo aber die Dicke der Mauern den Lärm erstickt und den Skandal unterdrückt. So ziehen sich zwischen die Jahre hindurch und fallen in die Ewigkeit so viele Menschenleben, die, wie es scheint, auf diesem steilen Abhang, nicht einen Augenblick gehabt haben, um sich zu erkennen und um anzuhalten. Gott allein kennt, der große Tag wird es verkünden, wie vielmal ihnen, in ihrem Laufe, das Licht dargeboten wurde, wie viel Mahnungen an diese Toren ergangen sind, und wie vielmal sie, wenn sie sich nicht beeilt hätten, jenem lichte die Augen zu schließen und jene Stimme zu überhören, wie vielmal sie von ihrer Täuschung hätten zurückkommen und den Weg zur Wahrheit hätten einschlagen können.

Diese letzte Bemerkung, meine Brüder, bringt uns unserem Gegenstand näher. Eben jenen, in dem Leben so vieler Personen, und, unter den günstigsten Umständen, vervielfachen Mahnungen gelingt es oft, Gehör zu finden. Und, was eigentlich in Erstaunen versetzen muss, ist, dass sie nicht immer Gehör finden. In dem allergewöhnlichsten Leben scheint es, dass alles darauf berechnet ist, die Binde allmählig unseren Augen zu entrücken. Es scheint, dass alle diese Täuschungen, mit denen wir in das Leben treten, uns bald im Angesichte der Wahrheit stehen lassen müssten. Dies ist es, in der Tat, was Vielen begegnet. Diese Enttäuschung, diese Entzauberung ist selbst nicht einzig und allein das Vorrecht des Alters; das melancholische Licht offenbart sich auch jüngeren Blicken. Es gibt sogar Zeiten, wo ein Jeder schneller lebt, und wo das Alter der Seele in das Alter der Hoffnung fällt, wie ein frühzeitiger Winter auf das Grün und die Blumen. Allmählich lernt man die Welt, das Leben und endlich sich selbst kennen. Allerdings ist es dem Menschen nicht gegeben, sich über sich selbst, über jene verschiedenen Punkte, die reine Wahrheit, die ganze Wahrheit zu, lehren. Dieses spätere Resultat ist nicht unser Werk, und die Kenntnis des Heilmittels kann uns allein die volle Kenntnis von dem Übel verschaffen. Dennoch ist es gewiss, dass von dieser Offenbarung wir auf natürlichem Wege viel über die Welt, über das Leben und über uns selbst lernen können. Dass diese Belehrung, der Quellen wegen, aus denen sie hervorgeht, nicht vollkommen genau und klar ist, gestehe ich zu; dass, im Einzelnen, an die Stelle vieler Täuschungen viele Vorurteile treten, daran zweifele ich nicht; dass diese Erkenntnis im Allgemeinen mehr negativ als positiv ist, dass sie uns weniger Wahrheiten gibt, als sie uns Irrtümer nimmt, das ist gewiss; allein, sie auf das zurückführend, was sie ist, gestehen wir zu, dass sie etwas ist, dass sie ein weites Feld umfasst, dass sie viele verschiedene Seiten darbietet; und was dieses beweist, ist, dass, so lange es Moralisten in der Welt gibt, ihre hauptsächliche Nahrung gerade in der Prüfung und der Schilderung der Dinge bestanden hat, von denen wir reden; dieser Schatz wird niemals erschöpft; er erneuert sich unaufhörlich; die Zuletzt gekommenen finden etwas zu sagen; fast die ganze Literatur beruht darauf oder knüpft sich daran an; und jeder von uns, ohne Moralist noch Schriftsteller zu sein, nähret sich täglich von dieser bitteren Substanz, ohne sie je zu erschöpfen; mit einem Worte, wie der Apostel sagt, wir lernen immerdar.

Die Welt, das Leben und wir selbst, das ist das dreifache Objekt dieser Erkenntnis. Diese Reihenfolge ist nicht willkürlich; es ist die unserer Enttäuschungen. Wenn wir mit einem gleichen Vertrauen in jene drei Gegenstände geboren werden, so hören sie, einer nach dem andern, auf, uns dasselbe einzuflößen. Bevor wir das Leben und uns beurteilen, beurteilen wir die Welt und die Gesellschaft. Es sind unsere Nebenmenschen, unsere Beziehungen zu ihnen, wovon wir zunächst das Glück erwartet hatten; edle Gesinnung einer für die Liebe geschaffenen Seele, die dazu gemacht ist, ihr Leben mit andern Leben zu verbinden und ihre Glückseligkeit von der unsichtbaren Welt zu fordern. Diese Hoffnung, welche zuerst aufblüht, ist auch die, welche zuerst dahinwelkt. Wir hatten die Vollkommenheit in den Gegenständen unserer Anhänglichkeit gewähnt, weil wir in unwiderstehlicher Weise gezwungen sind, sie irgendwo zu wähnen, und weil, da wir sie nicht suchen, wo sie ist, wir sie also wohl suchen müssen, wo sie nicht ist. Wir verlangten (eben so ungerechtes als natürliches Verlangen) eine unendliche Liebe, die wir selbst nicht bieten können, die, aus demselben Grund, uns Niemand geben kann. Wie grausam ist unsere Enttäuschung, wenn wir, statt dieser Hingebung des Herzens, nur eine bedächtige Freundschaft, statt der Großmut kaum die Gerechtigkeit finden, und wenn wir aus diesen, mit so vieler Sorgfalt gepflegten, Freundschaftsbeziehungen sich den Hass entfalten sehen! Es kommt uns nicht in den Sinn, dass alle die Beobachtungen, welche wir in Bezug auf die andern Menschen machen, von diesen in Bezug auf uns gemacht werden; dass wir die Veranlassung zu demselben Trug geben, nachdem wir der Gegenstand desselben Wahnes gewesen sind; wir sind noch nicht dahin gekommen, uns selbst zu kennen und folglich uns selbst anzuklagen.

Über den Kreis unseres persönlichen Umganges hinaus, suchen wir in der Vergangenheit und in der Gegenwart Charaktere, die wir bewundern könnten. Wir haben geglaubt, dass es dergleichen gäbe; die Geschichtsschreiber sind unserer Täuschung zu Hilfe gekommen; - sie sehen in der Ferne der Jahrhunderte Umrisse, welche durch die Wirkung der Perspektive gereinigt, durch jenes Halbdunkel gemildert werden, das die Gestalten des Altertums umgibt; wir haben, so wie man sie uns darbot, diese großen Individualitäten erfasst; eine Menge idealer Bilder von Menschen und von Völkern, von Handlungen, von Begebenheiten, von Charakteren und von Sitten sind für uns aus den Schatten der Vergangenheit emporgestiegen; Vision des Ruhms, welche keine Dauer gehabt hat. Auch hier noch heißt lernen unsere Verluste zählen. Die Geschichte, näher geprüft, die Vergangenheit, mit dem Auge der Gegenwart gemessen, haben uns unsere Götzen, einen nach dem andern, entrissen; wir sind klüger geworden, das heißt insofern, als wir in dem Bild der Menschheit sich die Schatten von Stunde zu Stunde haben vermehren sehen; unser entschwundenes Ideal irrt im weiten Raum umher, nach einem Ruhepunkt suchend, denn das ist das Gesetz unserer Natur, allein ihn niemals findend.

Jedoch die Fähigkeit zu hoffen, sich zu schmeicheln, verliert sich nicht mit einem Mal; man fängt sich noch recht oft in den Fallstricken des Scheines, man traut der Lockspeise noch oft, aber mit immer weniger Vertrauen und Hingebung, bis dass man endlich, durch die Erfahrung belehrt, sich eine Philosophie macht, und sich begnügt, das als Ausnahme, als unerwartete Wohltat hinzunehmen, was man zuerst als Regel erwartet hatte; man enttäuscht sich vorher, um sich nicht nachher zu enttäuschen; man hofft nichts mehr, damit man sich über etwas freuen kann. Da diese Umwälzung nach und nach bewirkt wird, so erzeugt sie keinen stürmischen Seelenzustand; was, in die Beschreibung von wenigen Linien zusammengedrängt, der Verzweiflung gleicht, ist, auf Jahre verteilt, nur ein langsames Erkalten unserer Hoffnungen; die meisten Menschen werden kaum die Veränderung gewahr, welche in ihnen vorgegangen ist; es scheint ihnen fast, als hätten sie immer so gedacht; kein recht lebhafter Schmerz begleitet den allmähligen Verlust ihrer Illusionen; man nennt dies einen Geist, der sich beruhigt, eine Jugend, die ihre Zeit gehabt hat, eine Vergünstigung des Alters; es fehlt wenig, dass man sich nicht Glück dazu wünscht und darüber frohlockt. Indessen, für gewisse Personen, machen die Umstände ganz dieselbe Umwälzung zu einer äußerst schmerzhasten; der Unwille kocht fortwährend in ihrer Brust, teilt sich ihrer Stimme und ihren Blicken mit und setzt sich darin fest; ein Gefühl von Bitterkeit bemächtigt sich ihrer Seele. Sie haben Unrecht in ihrer Erbitterung, wie die ersteren in ihrer Ergebung. Wenn man sich nicht zu jenen Enttäuschungen Glück wünschen soll, so soll man sich eben so wenig darüber erbittern. Mit welchem Recht, in der Tat, ärgert man sich darüber, dass andere Menschen das sind, was wir selbst sind? Der Schmerz wäre hier an seinem Platz, und nicht der Zorn. Aber was wir in dieser ersten Periode am wenigsten kennen, das sind wir selbst; allein wir haben noch eine andere Enttäuschung zu erfahren, bevor wir bei dieser letzten angelangen.

Durch dieses Urteil über die Menschheit ist im Voraus das über das Leben gefällt. Sobald das Blendwerk, mit welchem wir unsere Gattung verschönert hatten, gewichen ist, sobald wir nicht mehr in der moralischen Welt, sondern in der Zeit und im Raum den Wert des Lebens zu suchen haben, sollte man meinen, dass die Frage gelöst ist durch die Art selbst, in welcher sie gestellt ist; man sollte meinen, dass, sobald man darauf zurückgeführt ist, das Leben zu fragen: Was hast du mir an Jahren, an Reichtümern, an Ruhm, an Wollust zu geben? die Antwort ziemlich gleichgültig ist. Allein wer ist es, der die Dinge von einem so hohen Standpunkt ansähe? Für eine große Zahl von Menschen ist keine andere Frage irgend einer Art dieser Frage hier vorausgegangen; und diejenigen selbst, welche damit angefangen haben, von dem Leben ein Glück höherer Natur zu fordern, entsagen, getäuscht in ihrer Erwartung, nicht dem, was man die Schlacken des Lebens und die Hefe des Glücks nennen könnte. Eine Art von unglücklicher Logik führt sie selbst dahin, ihren Durst in dieser Hefe zu löschen, in welcher sie das Vergessen der Träume trinken, die sie getäuscht haben. Es fehlt nicht an Beispielen eines Übergangs vom Enthusiasmus zum Materialismus, noch an Gründen, wodurch man sich erklären kann, wie sehr natürlich dieser Übergang ist. Niemand lässt seinen Teil vom Mahl im Stich; Jeder will leben, das heißt, Jeder gibt sich neuen Täuschungen hin, nachdem er die früheren verloren hat.

Man könnte glauben, meine Brüder, dass diese neuen Täuschungen nicht schwänden, wie die früheren. Lange nachdem man aufgehört hat, an die Menschheit zu glauben, lässt man sich durch das Vergnügen, durch den Ruhm, durch das Leben fesseln; durch das Vergnügen, d. h. durch das Fleisch; durch den Ruhm, d. h. durch die Achtung der Wesen, die man zu achten aufgehört hat; durch das Leben, d. h. durch die Dauer des Vergänglichen. Die Leidenschaft, mit welcher diese verschiedenen Gegenstände verfolgt werden, könnte Veranlassung zu dem Gedanken geben, dass wir noch unser ganzes Vertrauen in jene Gegenstände setzen; allein machen wir hier zwei Bemerkungen.

Erstens, handelt es sich nicht darum, zu wissen, ob jene Leidenschaft von Dauer ist, sondern ob Ihr, von dem Beginn der Laufbahn bis zu dem Punkt, an welchem Ihr angelangt seid, nicht, wie der Läufer bei den Spielen der Alten, einige der Blumen habt fallen lassen, welche Euer Haupt bekränzten; ob Ihr heute das Leben beurteilt, wie Ihr es bei Eurem ersten Auftreten beurteiltet. Die Antwort auf diese Frage wird nicht auf sich warten lassen.

Zweitens, beweist die Ausdauer bei der Verfolgung, in diesem Fall, nicht, dass der Glaube, welchen man in die Gegenstände setzt, denen man nachjagt, keinen Abbruch erlitten hat. Was noch mehr ist, Ihr könnt die Hitze in dem Maß zunehmen sehen, als der Glaube abnimmt. Warum? weil die Seele mit etwas angefüllt sein will; weil man bei alle dem doch leben muss, und man sich mit dem nährt, was man findet. Der verlorene Sohn, der an die feinen Speisen und den Überfluss am Tisch seines Vaters gewöhnt war, hätte sich, in der Fremde, gerne von den Träbern genährt, welche die Säue aßen. Wenn die Seele nicht einer Speise bedürfte, so würde sie doch nötig haben, etwas zu verfolgen; und dieses Bedürfnis der Handlung treibt sie allen Zielen zugleich entgegen. Enttäuscht, ist sie nicht geheilt, kann sie es nicht sein; der Tag, wo sie es wäre, müsste ihr letzter sein. Sie hofft, so lange sie kann; hat sie aufgehört zu hoffen, so sucht sie von Neuem. Und es liegt in der Notwendigkeit der Dinge, dass, in dem Maß als die Seele fällt, die Schnelligkeit ihres Falles zunimmt; dass, während sie bei dem Vorrücken in ihrer Laufbahn das Leben immer ärmer werden sieht, sie sich um so heftiger an das anschließt, was ihr vom Leben noch bleibt. Daher kommt es, dass die Enttäuschtesten so oft die sind, welche es am wenigsten scheinen, und dass die, welche am schlechtesten vom Leben sprechen, ihm am eifrigsten den Hof zu machen scheinen. Die dem Altar zunächst stehen, sind die Verächter des Götzen.

Dass uns der Schein nicht über die Tatsache täusche. Die Tatsache ist die, dass bei unserm Eintritt in das Leben wir auf dasselbe rechnen. Wären wir selbst vor seiner Eitelkeit gewarnt, wir würden doch Glauben in dasselbe setzen; die Erfahrung Anderer wird niemals unser, und die höchste Autorität, die Aussprüche selbst der göttlichen Weisheit, können und nicht vor jeder Täuschung bewahren. Um das Leben zu kennen, muss man gelebt haben; allein eben so ist es schwer zu leben, ohne es kennen zu lernen. In dieser Ordnung der Dinge, meine Brüder, kann man sagen, dass jede Erkenntnis, von der ersten an, eine Enttäuschung ist. Sonderbare Wissenschaft, welche einzig und allein darin besteht, nicht die Seele anzufüllen, sondern sie leer zu machen! Stellt Euch hiernach die Welt nicht etwa wie eine Sammlung von lebensüberdrüssigen Menschen vor. Sagt nur, dass, eine gewisse Anzahl Blinder oder Dummer ausgenommen (und es gibt Leute von Verstand unter diesen Dummen), alle Menschen mehr oder weniger enttäuscht sind; dass hierin eigentlich die Wissenschaft vom Leben besteht, und dass, um was wir gesagt haben zu wiederholen, lernen, seine Verluste zählen, heißt.

Hier sind die Einzelheiten überflüssig, und Niemand hat nötig, dass ich ihm seine Lebensgeschichte erzähle. Allein eine besondere Tatsache nimmt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch.

Ich habe von Vergnügen, von Ruhm und von Dauer gesprochen. Gibt es nichts weiter, nichts Besseres im Leben? Ja, meine Brüder, es gibt die Wissenschaft, es gibt die Tugend; diese Dinge gehören auch zum Leben, und ihr Wert, welcher hienieden seines Gleichen nicht hat, scheint nicht dem ausgesetzt zu sein, eine Verminderung zu erfahren. Haben wir die Sterne am Himmel erbleichen gesehen? Werden wir den Glanz dieser Sterne der moralischen Welt abnehmen sehen? Die Wissenschaft, dieser uneigennützige, göttliche Instinkt, welcher, sich an nichts Fleischliches bindend, allein hinreichen würde, uns unsere glänzende Herkunft zu offenbaren! Die Wissenschaft, welche uns von der äußern Welt trennt, uns von uns selbst abzieht, uns von den Fesseln der Materie befreit, und uns aus der Mitte der beschmutzten Realitäten in die reine Atmosphäre der Idee versetzt! Die Wissenschaft, ein Attribut der Gottheit, einer der Züge ihres Ebenbildes im Menschen! Ich weiß, meine Brüder, dass sie auf eine edle Weise ganze Leben verschlungen hat; allein jede mit einiger Erhebung, das heißt, mit einigem Ernst, begabte Seele hat nicht verfehlen können, in ihrer Achtung für einen so edlen Gegenstand, ein diesem Gegenstande würdiges Ganzes zu suchen; denn die Wissenschaft ist doch nicht das ganze Leben, sie ist eins seiner Elemente, sie soll ihre Ordnung darin suchen; es bedarf, wenn man so sagen kann, einer Stirn für diese Krone, und was ist die Stirn des Menschen! ein Piedestal für diese Statue, und was ist das Leben für ein Piedestal! einen Himmel für diese Sonne, und was für ein Himmel ist die menschliche Seele! Überall fällt uns das Missverhältnis auf; überall lässt der Wert des Einzelnen die Mangelhaftigkeit des Ganzen hervortreten; wir wissen nicht, wie ein so edles Element sich in ein so trauriges Chaos hat verirren können; und das Leben, welches uns schon klein erschien vermöge seiner eigenen Kleinheit, erscheint es uns noch mehr vermöge der Größe eben dieses Interesses, dieses Instinktes, den es in sich fassen sollte, und der es überströmt; so dass, wenn wir auch nicht unmittelbar von förmlichem Widerwillen gegen die Wissenschaft erfüllt werden, uns wenigstens das Gefühl ihrer unrichtigen Stellung, die Unmöglichkeit, sie würdig an das Leben zu knüpfen, erstaunt und niederdrückt; und wie viele Genies, meine Brüder, hat dieser Gedanke nicht mit einer tiefen Traurigkeit ergriffen! wie viele Menschen haben, erschreckt von den Problemen und Widersprüchen, welche die Wissenschaft in dem gegenwärtigen Zustand des Menschen hervorruft, mitten in ihrem Enthusiasmus geschwankt, ob diese Wissenschaft eine Gabe Gottes oder eine Versuchung des Teufels wäre! Und vergessen wir nicht hinzuzufügen: wie viel Menschen haben nicht, als sie sahen, dass die Wissenschaft durch unsere Leidenschaften verunstaltet wurde, dass sie ihrerseits hierauf diese Leidenschaften nährte und reizte, ungetreu, so scheint es, in ihrem Ursprung und in ihrem Beruf, wie viele Menschen haben nicht in ihr eines unserer größten Übel, und selbst die Quelle aller unserer Übel gesehen!

„Aber die Tugend!“ werdet Ihr sagen, „lassen wir in dem Leben, den Reiz der Tugend, und das ganze Leben ist gerettet.“ In einem Sinn, meine Brüder, ist es unmöglich, dass man aufhöre, an die Tugend zu glauben, ich meine, an die Notwendigkeit, an die Heiligkeit, an die Unverletzlichkeit der Pflicht; es ist unmöglich für den, der sie einmal geübt hat, und wäre es auch nur in einer einzigen, allein dastehenden Handlung, es ist unmöglich, dass er in dem Eindruck, welchen er von dieser Handlung selbst empfangen hat, nicht den Beweis finde, dass die Tugend eine Realität, die erste der Realitäten ist. Allein ich sage, meine Brüder, je unumstößlicher diese Überzeugung ist, desto unerträglicher ist es der Seele, sich über die Schwierigkeiten, welche das Vorhandensein dieser großen Idee hervorruft, keine Rechenschaft geben zu können. Eben so, wie in Bezug auf die Wissenschaft, fragt man sich in Bezug auf die Tugend: Was ist es, dem sie im Leben entspricht? Wollt Ihr sie dem Wohl der Gesellschaft entsprechen lassen? Das da ist allerdings eines ihrer Resultate; allein es kann nicht ihr Ziel sein; Euer Gewissen und der Begriff der Tugend selbst bezeugen es Euch mit Entschiedenheit. Entspricht sie dem Interesse des Individuums? Aber welchem Interesse? ist es das materielle, die Tugend besteht darin, es bei der ersten Forderung der Pflicht aufzuopfern; ist es die innere Genugtuung, der Zweck ist edel, allein er ist es zu sehr: diese Genugtuung, vorausgesetzt, dass es nicht die Zufriedenheit der Eigenliebe ist, deren Beifall nicht das Ziel der Tugend sein kann, diese Genugtuung kann uns nicht genügen; was man von dem Gewissen gesagt hat, ist unüberlegt und eitel; auf die Länge genügt das Zeugnis des Gewissens nicht; es ist nur kostbar, insofern es uns verbürgt, dass ein Richter, von dem das Gewissen nur der Bevollmächtigte ist, gleichmäßig zufrieden gestellt ist; wir bedürfen Jemandes, der unsere Tugend gut heißt, und wir verlangen, dass dieses eine Person sei; wir wollen nicht einzig und allein die Diener, die Freunde, die Kinder einer Idee sein; wir wollen uns an etwas Lebendigeres, als das Sittengesetz, anschließen, an ein Wesen, an eine Seele, in welcher unser Leben ein Echo finde; und der wahrste Name der Genugtuung, nach der die rechte Tugend trachtet, ist der Ruhm. Suchen wir diesen bei den Menschen? dann wird die Tugend durch dieses Trachten selbst in ihrem Prinzipe alteriert. Suchen wir ihn wo anders? so kann dies nur bei Gott sein; allein hüten wir uns, Gott mit seinem Namen zu verwechseln, ein Wort für ein Wesen zu nehmen. Wo ist Gott, wo ist der Weg zu Gott, damit wir ihm die Huldigung unserer tugendhasten Handlungen darbringen? Diesen Weg findet das Herz allein. Hat unser Herz ihn gefunden? Wird unser Herz zu ihm getragen, trägt es mit sich sein ganzes Leben zu Gott? Suchen wir die Blicke Gottes? Leben wir von seinem Willen und von der Hoffnung auf seinen Beifall? Mit einem Wort, ist er es, bei dem unsere Tugend ausläuft? Und wenn wir geglaubt haben, unsere Opfergabe auf seinem Altar niederzulegen, kommen da nicht unsere Leidenschaften, sie während der Nacht wieder fortzunehmen, um sie auf einen andern Altar zu tragen, welcher, wenn er nicht der ist, den unser Gewissen gewählt hat, ach! der ist, den unser Herz vorgezogen hat? Unsere Tugend, kommt sie nicht auf einem Umweg wieder zu uns zurück? Nehmen wir nicht mit der einen Hand wieder, was wir mit der anderen geben? Wenn dem nicht so wäre, meine Brüder, wenn Gott wirklich der erste Gegenstand und das letzte Ziel der Tugend wäre, und seine Liebe der Brennpunkt unseres moralischen Lebens, so würde ich sagen, dass hierdurch allein das Leben gerettet, an die Stelle aller Täuschungen die Wahrheit getreten ist, alle Enttäuschungen für immer beseitigt sind; allein wer sich nicht selbst das Zeugnis geben kann, die Tugend in diesem Sinne begriffen und ausgeübt zu haben, ist nicht durch sie dem gewöhnlichen Schicksale entgangen; in Bezug auf die Tugend, wie in Bezug auf alles Übrige, ist er zur Enttäuschung verurteilt; gedrängt durch die doppelte Notwendigkeit, die Realität, die Oberherrschaft der Tugend anzuerkennen, und nicht wissend, wohin er sie stellen soll; für sie im Leben keine Stelle findend, die breit genug, keine Grundlage, die fest genug wäre; abwechselnd zur Tugend hingetrieben und von derselben zurückgestoßen; bald entzückt, bald angewidert; an die Pflicht glaubend und nicht daran glaubend, wird er durch die unaufhörliche Wiederkehr dieser Schwankung weit fortgeführt von jener Morgenröte des Lebens, wo nichts in seinen Augen, weder die Wirklichkeit der Tugend, noch die Gewissheit ihrer Verheißungen verdunkelte.

Also, meine Brüder, selbst das, was es Größtes und Wahrstes gibt, löst sich, wie eine Blume, von diesem Kranz von Überzeugungen und Hoffnungen, der unsere junge Stirn umwand, los; die Enttäuschung, in Bezug auf die Tugend, wird unter die Zahl unserer Verluste gezählt, oder, wenn Ihr wollt, wird unserm Wissen hinzugefügt; und von diesem ganzen Leben, in welches wir ein so volles Vertrauen gesetzt hatten, bleibt uns nichts Ganzes mehr.

Und wenn Alles ganz geblieben wäre, so würden wir nur um so lebhafter den Schmerz einer andern Entdeckung fühlen, der wir nicht entgehen können. Ganz geschmückt mit jenen Täuschungen, eilt dieses Leben dem Tod entgegen. Mit jedem Schritt wird sein Lauf beschleunigt. Man wusste wohl beim Beginn des Lebens, dass man nicht immer leben würde; aber wer erwartete, so wenig zu leben? Wer rechnete nicht darauf, dass wenigstens die Jahre den Jahren gleich sein würden? Wer hätte geglaubt, dass ein jedes von ihnen kürzer sein würde, als das vorhergehende, dass die Flüchtigkeit der Zeit immer zunehmen, und, ohne die Zahl unserer Jahre zu vermindern, doch die Ausdehnung unserer Laufbahn verringern würde? Niemand, meine Brüder, Niemand; und dies ist so wahr, dass die Jüngsten unter meinen Zuhörern mir in Bezug auf das Entfliehen der Tage keinen Glauben schenken werden; man glaubt nicht daran, bevor man es nicht empfunden hat; noch einmal, nur indem man lebt, enttäuscht man sich über das Leben; und diese so notwendige Illusion ist die letzte, welche uns verlässt.

Das, meine Brüder, das heißt lernen! Der Gegenstand ist umfassend, und wie abgekürzt auch das Leben sei, das ganze Leben reicht nicht dazu hin; lebte man ein Jahrhundert, man würde ohne Aufhören lernen. Wenn Ihr sagt, dass der logische Schluss von alle diesem die Verzweiflung ist, so habt Ihr vielleicht Recht; glücklicher Weise legt der Mensch sein Schicksal nicht in die Gewalt der Logik. Der Reiz zu leben ist groß; bei der Entbehrung aller Güter ist Leben noch etwas; und welches wäre übrigens ein von Allem entblößtes Leben? Die Vorsehung ist so freigebig gegen den Menschen gewesen, dass der Mensch nicht alle ihre Gaben hat vernichten können; es bleibt immer, um uns an das Leben zu fesseln, genug von jenen Gütern, welche bestimmt waren, uns an Gott zu fesseln; wir fühlen uns viel mehr verarmt, als arm, und obgleich dieses Gefühl schlimmer ist, als die Armut, so lässt es uns doch, da wir es nur schwach und in Zwischenräumen empfinden, mehr Glück, als man glauben sollte; ein Glück, welches so lange dauert, als uns unbekannt ist, dass die meisten unserer Verluste unser eigenes Werk sind, und dass wir viel weniger Wert haben, als unser Schicksal. Aber auch dahin gelangen wir, selbst dies zu lernen; und es ist dies der dritte Gegenstand der Belehrung, deren Gang Euch anzugeben ich unternommen habe.

Man muss damit anfangen zu bemerken, dass es zwei Arten sich zu erkennen gibt, eine natürliche, und eine andere, die ich übernatürlich nenne. Die erstere ist beschränkt und unvollständig; die letztere geht der Sache auf den Grund und erschöpft sie; die erstere ist mehr ausgedehnt als tief, die letztere umfassend nach allen Richtungen. Von der einen dieser Erkenntnis zur anderen ist eine Kluft, die Gott allein ausfüllen kann, und er füllt sie aus, indem er sich der Seele zu erkennen gibt; alsdann nur erkennt sie sich wirklich; denn da das Geheimnis ihres Übels in ihrer Trennung von ihrem Prinzip, welches Gott ist, lag, so muss die Wiedervereinigung mit ihrem Prinzip für sie zu gleicher Zeit sowohl die höchste Offenbarung, als das wahre und einzige Heilmittel sein.

Allein bis dahin, wo dieser göttliche Strahl in ihre Nacht gefallen ist, durchdringt ein wahres, obschon weniger helles, Licht die oberen Schichten dieser Finsternis, und bis auf einen gewissen Punkt kann der, auf seine natürlichen Mittel und auf die Belehrungen der Zeit und der Erfahrung beschränkte, Mensch zu seiner Selbsterkenntnis gelangen.

Nun, welches ist die Natur dieser Erkenntnis? Geht er von einer vollen Überzeugung seiner Schwäche zu einer großen Meinung von seiner Stärke über? oder folgen sich diese Entdeckungen in umgekehrter Art?

Wer unter uns, meine Brüder (ich abstrahiere von dem Einfluss des Evangeliums), findet sich, zum reiferen Alter gekommen, stärker, besser und reiner, als er sich in seiner Jugend fand? Wer unter uns erinnert sich nicht im Gegenteil mit Wehmut, mit welchem Vertrauen in seine eigene Natur er in die Welt trat? Wie hatten damals noch so wenig Leidenschaften unser Herz erfasst; wie wenig Verantwortlichkeit knüpfte sich an unsere Handlungen, kein sichtbares Hindernis stellte sich zwischen uns und die Tugend. Die Tugend, an sich selbst so schön, erschien uns unter ihren wahren Zügen, so lange wir kein Interesse hatten, ihr Bild zu verändern. Der Mensch, in der Tat, hasst sie nicht für sich selbst, sondern der Hindernisse wegen, welche sie seinen Wünschen entgegenstellt; und wenn ihre Gegenwart keinen Zwang mit sich brächte und ihr Anblick keine Demütigung, so würde er nie aufhören, seid davon überzeugt, sie schön zu finden und sie zu lieben. Eine solche ist seine Gesinnung beim Beginn seiner Laufbahn, und ein solches ist das Prinzip seines Vertrauens in sich selbst. Er liebt die Tugend, insofern er im Stande sein wird, sie zu üben, und er zählt darauf, dass er es immer sein wird, denn er zählt seine Leidenschaften nicht mit, welche er noch nicht kennt. Allein sie kommen, die Leidenschaften; sie machen Anspruch auf ihren Anteil im Leben, und dieser Anteil, es ist das Ganze; die Leidenschaft von der einen Seite, die Tugend von der anderen, sind beide gleich anspruchsvoll, unersättlich; allein die Leidenschaft, das ist ein lebendes, wirkliches Wesen, es ist der Mensch selbst; und die Tugend, das ist eine Idee, bis dass sie, in unserer Seele mit dem Gedanken von Gott vereint, ich will nicht sagen, eine Leidenschaft, sondern die stärkste, die gebieterischste Liebe geworden ist. In diesem Kampf zwischen einem Wesen und einem Prinzip, zwischen dem Leben und einer Idee, ist es das Wesen, ist es das Leben, welches siegen muss; und die einzige Rache der besiegten Idee besteht darin, dass sie ein bald klagendes, bald drohendes Murren erhebt, welches schwächer wird, je weiter es sich im Leben fortsetzt. In den ersten Tagen des moralischen Lebens, welch eine Meinung von der Heiligkeit der Pflicht, und, so zu sagen, von der Unmöglichkeit, sie zu verlegen! welcher Sinn für die Reinheit! welcher Widerwille gegen Alles, was ihr zu nahe tritt! welches Staunen bei dem Anblick der menschlichen Niedrigkeit und Verdorbenheit! welche Unbekanntschaft mit ihren Wegen! welche Unkenntnis ihrer Berechnungen und selbst ihres Zweckes! welch heftiger Unwille gegen das Schlechte! welche Wünsche, welche Versprechungen, es durch unsere Reden zu bekämpfen, ihm durch unser Beispiel entgegen zu treten! welche Gewissheit, Sieger in diesem Kampf zu bleiben! welche Empörung bei dem Gedanken, dass es uns nur reizen könnte! Das Schlechte jedoch ist schon da; das Ideal hat schon gelitten; bei unseren ersten Schritten sind wir wiederholt gefallen; allein in dieser Zeit der Unüberlegtheit zählt man weniger, wie häufig man gefallen ist, als wie selten man fallen wird.

Glückliches Alter! Feste der Hoffnung! wie schnell verdunkelt sich euer Glanz!

Eine nach der andern, treten die Leidenschaften hervor; man widersteht zuerst, und darauf unterhandelt man. In diesem ungleichen Streit besteht alles, was man für gewöhnlich erlangt, darin, dass man seine Niederlage und seine Schmach vereinfacht, dass man unter einer einzigen Leidenschaft erliegt, welche die Stelle von mehreren, sich nicht mit einander vertragenden, Leidenschaften einnimmt; und man lässt seinem Gewissen die Ehre eines Erfolges, welches nur der der Notwendigkeit ist; und man will nicht sehen, dass die Leidenschaft, der man sein Leben unterworfen, die ganze Kraft aller der Leidenschaften geerbt hat, welche ihr ihre Rechte abgetreten haben, so dass man dennoch durch alle zusammen besiegt worden ist! Allein was hilft diese elende Täuschung? Man ist besiegt, und man fühlt es. Es ist keine Rede mehr davon, seine Verluste zu leugnen, sondern sich darein zu ergeben, sich an diese neue Welt zu gewöhnen, in die man unter den Auspizien der Sünde eingetreten ist, sich mit diesen Sitten vertraut zu machen, die uns kurz zuvor anwiderten, sich in diesen Berechnungen zu üben, die man niemals machen wollte, sich in dieser Gesellschaft zu akklimatisieren, welche man so hoch von oben angesehen und so tief verachtet hatte! Man muss sich einem näheren Umgang, Vertraulichkeiten, einer schimpflichen Verbrüderung unterwerfen. Man muss, von den Höhen des Lebens in die Finsternis gestürzt, wohin so viele Andere uns vorangegangen sind, alle diese Toten bei unserm Herannahen sich erheben sehen und sie rufen hören: „Du bist geworden wie einer von uns!“ Man muss sich üben (o, die härteste der Prüfungen!), sich selbst zu verachten! Man muss sich erkennen und sich ertragen!

Man erkennt sich, meine Brüder; aber wie? Es ist interessant, es zu beobachten. Der Mensch findet sich nicht so schnell in seine Erniedrigung, und ergibt sich niemals ganz darein. Bei jedem Schritt, den er im Leben macht, hat er das Bedürfnis, sich zu überreden, dass er aufrecht geht; und aus dem Bedürfnis der Täuschung entsteht die Täuschung selbst, welche, unmöglich in Bezug auf das Ganze, immer möglich im Einzelnen ist. Man kennt sich wohl im Allgemeinen, aber in jedem Augenblick ist man sich unbekannt. Man verachtet sich in der Totalsumme seiner Handlungen und man betet sich in jeder einzelnen derselben an. Eine jede (ich spreche von unseren gewöhnlichen Handlungen) geschieht mit einer Art von Überzeugung; man mengt der Sünde, ich weiß nicht, welche Gewissenhaftigkeit, der Lüge, ich weiß nicht, welche Ehrlichkeit bei, die unserer Handlungsweise, unserer Rede etwas Liebenswürdiges oder Imponierendes gibt, wovon der Eindruck auf die andern um so sicherer ist, als wir die ersten gewesen sind, welche ihn empfangen haben.

Aber wird die Kenntnis unserer selbst, so allgemein sie ist, nicht bewirken, dass wir uns mit der Menschheit und mit dem Leben wieder aussöhnen, sobald wir erkannt haben, dass wir die Fehler der ersteren teilen, und dass wir es selbst sind, welche dem letzteren den besten Teil seines Wertes und seiner Schönheit rauben? Wird nicht der letzte Teil unserer schmerzhasten Wissenschaft den Eindruck der beiden ersteren mildern? Dies wäre gerecht, meine Brüder, aber dies ist nicht natürlich. Nichts Sanftes, nichts Reines kann aus dem, was uns demütigt, wenn es uns nicht zugleich rührt, hervorgehen. Die Fehler des Lebens und der Menschheit vergrößern sich um die unseren. Je mehr wir gezwungen sind, uns zu hassen, je mehr hassen wir das, was uns umgibt. Unsere innere Unzufriedenheit ist eine Galle, welche sich über alle Gegenstände verbreitet. Hier kann man bemerken, wie mächtig die Logik des Herzens die des Verstandes widerlegt. Nichts würde dieser letzteren gemäßer sein, als Nachricht für die Fehler zu haben, welche wir bei uns selbst anerkennen; allein prüfen wir genau, so finden wir, dass es gerade diese Fehler sind, für welche wir uns am unerbittlichsten zeigen. Es sind diese, welche wir besser durchschauen, deren geheimes Spiel bei unserem Nächsten wir besser erfassen; wir hassen sie in ihm mit dem ganzen Hass, mit welchem wir sie in uns verschonen; wir entreißen unserer Brust und richten gegen unsere Brüder den Pfeil, von dem wir uns selbst durchbohrt fühlen. Wir verfolgen, wir bestrafen unsere Schwächen in der Person Anderer; unsere Nebenmenschen haben uns, ihnen selbst zum Trotz, zu Vertrauten, zu Richtern ihrer geheimsten Regungen, die wir erraten, die wir vorhersagen, die wir im Voraus bezeichnen; wir durchschauen den ganzen Fehler und alle seine Folgen in seiner kaum gefassten Absicht; also die Entdeckungen, welche wir in unserem eigenen Herzen gemacht haben, lassen uns entsprechende in dem Herzen Anderer machen; seltener hilft uns die Beobachtung Anderer, uns selbst besser kennen zu lernen. Allein, wie dem auch sei, das Feld unserer Forschungen erweitert sich unaufhörlich; jeder Tag vermehrt den Schatz unserer bitteren Wissenschaft; wir lernen immerdar, immerdar, und wir kommen nimmer zur Erkenntnis der Wahrheit.

Denn gebe ich auch zu, meine Brüder, dass dies Alles Wahrheiten sind, immer ist es nicht die Wahrheit. Es ist mit diesen Wahrheiten wie mit einer Menge auf gut Glück und ohne Ordnung auf ein Papier hingeworfener und verbreiteter Wörter und Phrasen. Vielleicht bilden alle diese Phrasen und Wörter zusammengenommen ein bewunderungswürdiges Gedicht; allein das Gedicht ist nicht da, bis dass der Dichter dazukommt, und aus diesen zerstreuten Elementen sein Meisterwerk wieder zusammenformt, indem er ihnen die Einheit seines lebendigen Gedankens ausdrückt. Diese Wahrheiten, welche wir ohne unseren Willen gewonnen haben, bilden, so gewiss und klar auch jede einzelne sein mag, in unserem Geist nur ein anarchisches Chaos, ein Gewebe von Widersprüchen. Dieses Chaos, diese Widersprüche, wäre das die Wahrheit? Die wohl erkannte Wahrheit muss die eine oder die andere von diesen beiden entgegengesetzten Wirkungen hervorbringen: sie muss uns rettungslos verzweifeln lassen, oder uns maßlos trösten, uns ganz glücklich oder ganz unglücklich machen; doch das, was wir über die Menschheit, über das Leben und über uns selbst gelernt haben, hat einen zu unbestimmten Charakter, um die eine oder die andere jener beiden Wirkungen zu erzeugen. Es bleibt dieser Menschheit die wir hassen etwas, diesem Leben, das wir geringschätzen, selbst diesem Herzen, das wir für so entgegengesetzte Gefühle schlagen fühlen. Immer wieder tritt etwas ein, das uns von unserem Hass, unseren Sorgen, unserer Demütigung abzieht. Immer vermischt sich mit unserm Unglück etwas, das es betäubt oder einschläfert. Man ist nicht glücklich, man ist nicht zufrieden. Das in der Stille der inneren Beschauung befragte Gewissen erklärt, dass man so nicht leben kann; man lebt nichts desto weniger, man ergibt sich, man gewöhnt sich; man atmet eine verpestete Luft, allein es ist zuletzt doch Luft, und das aus seinem natürlichen Klima, der Gewissheit und dem Frieden, verbannte menschliche Herz gewöhnt sich daran, gleich dem alten Seemann, von dem Abgrund gewiegt zu werden und bei dem Toben der Wellen einzuschlafen.

Doch bei jedem Mal, wo er in sich kehrt, ruft ihm eine vernehmliche Stimme zu, dass, nachdem er so viele Dinge gelernt hat, er die Wahrheit immer noch nicht kennt. Vereinigen wir mit dieser Stimme des Gewissens die Stimme von St. Paulus. Für St. Paulus hat die Wahrheit nicht die beiden Seiten, welche ihr gezwungener Weise die menschliche Unwissenheit gibt; für ihn heißt es nicht: Verzweiflung oder Friede, Unglück oder Glück, sondern einzig und allein: Glück, einzig und allein: Friede. Für ihn ist die Frage durch eine entscheidende Tatsache gelöst. Die Wahrheit hat in seinem Gedanken nur wohltätige Kennzeichen. Die Wahrheit stellt den Frieden wieder her, und, trotz aller Eurer Entdeckungen, habt Ihr den Frieden nicht. Die Wahrheit heiligt; und, nachdem Ihr so viel gelernt habt, seid Ihr nicht heilig. Die Wahrheit demütigt, und alle Eure Erfahrungen haben Euch die Demut nicht eingeflößt. Die Wahrheit macht frei- und so gelehrt Ihr auch sein mögt, Ihr seid nicht frei. Die Wahrheit geht Hand in Hand mit der Menschenliebe; sie lehrt, sie gebietet die Nachsicht, und Eure traurigen Forschungen haben Euch nur unbarmherziger in der Strenge Eurer Urteile gemacht, und Euch gelehrt, nur gegen Euch selbst nachsichtig zu sein. Wie also könntet Ihr die Wahrheit besitzen, wenn das ihre Kennzeichen sind? Und wie sollte der Apostel nicht Recht haben, wenn er Euch sagt, dass, immerdar lernend, Ihr nicht zur Erkenntnis der Wahrheit kommt?

Sucht Ihr zum wenigsten diese Wahrheit, deren Mangel Ihr so wohl fühlt? Auch das nicht einmal. Ihr habt gerade genug gelernt, um zu wissen, dass Ihr sie nicht besitzt; das natürliche, unvermeidliche Endresultat Eurer Erwerbungen besteht darin, dass Ihr Eure Armut fühlt; allein Ihr wollt in dieser Art gern arm sein, denn in Euren Augen ist das Bewusstsein einer solchen Armut Reichtum. Der Stolz, hat ein christliches Genie gesagt, der Stolz wiegt all unser Elend auf; es ist etwas, hat er ferner gesagt, sich elend zu fühlen; allein er hat nicht gesagt, dass dieses Etwas Alles sei; und wie viele Menschen scheinen davon überzeugt? Ja, der Stolz wiegt all unser Elend auf; ja, die beklagenswerte Genugtuung, besser wie Andere die Erniedrigung unserer Bestimmung und unserer Natur gesehen zu haben, das Vergnügen, mit unserm unglückseligen Scharfsinn zu prahlen; die Eitelkeit, aus der Masse der Leichtgläubigen herauszutreten und Platz unter den Enttäuschten zu nehmen; die unnatürliche Freude, seine Wunden und die der Welt aufzudecken, das ist es, womit wir uns selbst die Entbehrung der Wahrheit vergelten.

Nun, meine Brüder, wenn wir die Lobredner der Menschheit bemitleiden müssen, welches Gefühl, glaubt Ihr wohl, dass uns die einflößen müssen, welche absichtlich mit einer bitteren Wollust, die Satire derselben machen, und uns, unter dem Schall der Sarkasmen und unter den Ausbrüchen eines gottlosen Lachens, zu dem Grab der Hoffnung schleppen? Mit welchem Namen muss man die bezeichnen, welche Euch ohne Notwendigkeit mit dem Zurschaustellen einer unheilbaren Krankheit und eines trostlosen Missgeschicks beschimpfen? Gewiss, wenn je der Einfluss des Königs des Bösen wahrscheinlich scheinen sollte, so ist es, wenn er - das Licht auf die betrübendsten Seiten der menschlichen Bestimmung werfend, unsere Blicke unaufhörlich darauf hinleitend, die Entdeckungen dort vervielfachend und unseren Stolz durch das Bild unsers Elends trunken machend - uns auf der Grenze anhält, welche zu überschreiten für uns so wichtig ist, und die edelste Neugierde durch dies verhängnisvolle Wort unterdrückt, welches einst die Verdammung des Gerechten besiegelte: „Was ist die Wahrheit?“

Was ist die Wahrheit? Wohlan! Was auch eine unheilvolle Stimme darüber sagen, und was mit ihr die schlechten Leidenschaften unserer Natur im Chor wiederholen mögen, wir wollen es wissen; wir wollen die Wahrheit kennen; wir wollen sie wirklich besitzen, denn sie existiert: allein es gibt zwei Arten, sie zu empfangen lasst uns erfahren, welches die rechte ist.

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