Tholuck, August - Matth. 19, 16-22. "Betrachtung des Inhaltes dieser evangelischen Geschichte, und der Wahrheiten, die sich daraus ergeben."

Tholuck, August - Matth. 19, 16-22. "Betrachtung des Inhaltes dieser evangelischen Geschichte, und der Wahrheiten, die sich daraus ergeben."

Wenn der Prediger des Christenthums gerade in der Sprache, in welcher die Schrift von der Sünde spricht, von der Sünde predigt, so geschieht es wohl häufig, daß während hie Einen, nach einem Erlöser sehnsüchtig, an ihre Brust schlagen und rufen: ja, Mann Gottes, das sind unsere Wunden, aber wo ist der Balsam, der die Wunden heilt? auf der andern Seite sich Stimmen erheben, die da rufen: „Das ist eine harte Rede, wer wird sie tragen!“ und hinfort nicht mehr mit ihm wandeln wollen. Ich kann mich ja nun einmal nicht, so lautet die Rede, für schlechter halten, als ich bin; und ihr thut Recht daran, daß ihr nicht an euch selbst zum Lügner werden wollet. Aber andrerseits kann doch auch das Wort Gottes nicht zum Lügner werden, wenn es spricht: „sie sind alle abgewichen und allesammt untüchtig geworden, da ist nicht, der Gutes thue, auch nicht Einer“! „Es bleibe vielmehr, sagt der Apostel, also, daß Gott fei wahrhaftig und alle Menschen Lügner.“ Es dünkt euch, eine zu schwere Rede, was die Schrift von der Sünde lehrt; wohlan denn, lasset uns einmal von einer andern Seite die Sache betrachten, lasset uns betrachten, was sie vom Guten lehrt. Vielleicht dünkt es euch eine minder harte Rede, wenngleich sie eigentlich nichts anderes sagt, als die Rede von der Sünde der Menschen. Und zwar wollen wir zu diesem Endzweck jene denkwürdige Erzählung betrachten von dem reichen Jünglinge, die wir im 19ten Kap. des Evang. Matth, finden, wo es also heißt: „Und siehe, einer trat zu ihm, und sprach: Guter Meister, was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sprach er zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Du sollst nicht tödten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugniß geben. Ehre Vater und Mutter. Und: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlet mir noch? Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen seyn, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gieb es den Armen; so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, und folge mir nach. Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm: denn er hatte viel Güter.

Es hat diese Erzählung von jeher die Aufmerksamkeit der Christen erregt und zwar, dieweil sie ein Anstoß geworden ist, an dem etliche gestrauchelt sind und gefallen; denn wohl befremdlich muß es uns bedünken, wenn der, welcher gesagt hat: „ich thue den Willen meines Vaters allewege“, von sich ab auf den Einen hinweist, der allein gut sei. Wir wollen nun in unserer heutigen Andacht zuvörderst die Erzählung selbst erläutern und dann uns vergegenwärtigen, was sie uns lehrt.

In der Betrachtung nun der Erzählung selbst, lasset mich zuerst darauf aufmerksam machen, meine Geliebten, daß, wenn wir den Grundtext der Schrift befragen, die Antwort des Herrn bei dem Evangelisten Matthäus anders lautet, als bei den andern Evangelisten. „Was heißest du mich gut?“ so lautet die Antwort bei Markus und Lukas; „warum fragest Du mich nach dem Guten?“ so lautet dem Grundtexte nach des Herrn Antwort bei Matthäus. Ohne Zweifel haben wir beide Antworten mit einander zu verbinden; in zwiefacher Beziehung hat der fragende Jüngling das Wort gut gebraucht; „guter Meister, hat er gesagt, was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben möge haben?“ Auf beides antwortete der Herr, wenn er sagt: „was heißest Du mich gut und was fragest Du mich über das Gute? Niemand ist gut, denn der einige Gott!“ Ein Schlüssel ist, den wir zu allen Antworten des Herrn mit hinzunehmen müssen, jenes Wort, welches Johannes geschrieben hat: „Er bedurfte nicht, daß jemand Zeugniß gebe von einem Menschen, denn er wußte, was im Menschen war.“ Von diesem Blicke des Herrn in das Innere, der sogleich erkennt, wo der innere Schaden ist, giebt auch diese Erzählung uns einen merkwürdigen Beleg. Wie hat der Herz durchforschende Blick Jesu sofort die Krankheit dieser Seele erkannt! wie hat er ihr Verborgenes an den Tag gebracht! wie ist ihr Mangel an Selbsterkenntniß offenbar geworden: „Willst Du zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“ „Welche?“ so ruft der erstaunte Jüngling, „doch nicht die, welche auch der Pöbel befolgt, doch jene zehn nicht, die auch befolgt, wer nur den Richter auf Erden scheut?“ Ja, bethörter Jüngling, eben jene Zehn mußt Du dir vorhalten lassen: „Du sollst nicht tödten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugniß geben. Ehre Vater und Mutter.“ Und die hast Du gehalten von Jugend auf? Ist's ein Wunder, daß er das glauben kann, wenn vielleicht in dieser ganzen Versammlung nicht einer ist, der an den zehn Geboten zum Sünder geworden zu seyn meint? Und ihr habt Recht, ihr habt Recht, so lange das Fleisch sie auslegt und nicht der Geist, so lange nicht Christus den Moses ausgelegt hat. Aber laßt Christum euch die zehn Gebote auslegen, wie er es im fünften Kapitel Matthäi gethan hat, und ihr werdet allzumal vor ihnen zu Sündern. „Du sollst nicht tödten!“ hat das Gesetz geboten und das Gebot meinst du gehalten zu haben von Jugend auf, denn deine Hand ist frei von Blute. Da tritt Christus zu dir heran und spricht: wie? Du? - ist denn das bloß deine Hand, oder ist's nicht auch deine Zunge und dein Herz? und deine Zunge wäre nie zum Schwerte geworden gegen deinen Nächsten und aus deinem Herzen nie ein vergifteter Pfeil gekommen? „Du sollst nicht ehebrechen!“ spricht das Gebot, da meinest du die That und weißt dich frei, bis Christus hinzutritt und spricht: Du Thor! der Riß in das heilige Band Gottes, ist er nicht schon geschehen mit dem lüsternen Blick, der zur That wird, sobald die Gelegenheit hinzukommt? O Christen, wenn der Ausleger der zehn Gebote hinzutritt, so werdet ihr vor den zehn Geboten allesammt zu Sündern. Euer Auge sah nur die That am Ende der Linie, Gottes Auge sieht die Lust am Anfange der Linie. O wie werden die Gebote Gottes so tief, wenn nicht das Fleisch sie auslegt, sondern der Geist! So hätte denn schon vor diesen fünf Geboten der verblendete Jüngling zum Sünder werden können. Aber er merkt nicht und sein Auge sieht nicht, da kommt Christus seiner' Schwachheit zu Hülfe, aber ausdrücklich um ihn noch zu tieferer Selbsterkenntniß zu führen, fügt der Heiland noch ein anderes Gebot hinzu, nicht aus der Zahl jener zehne, sondern das, welches er selbst zu den ersten und größten gezählt hat: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst!“ (2 Mos. 19, 18.) Bethörter Jüngling, wie nun? Du sollst lieben jeden Nebenmenschen, wie dich selbst, sein Wohlseyn soll deines seyn, seine Seligkeit die deinige! Bethörter Jüngling, wie nun?: - „Das habe ich Alles gethan von meiner Jugend auf, was fehlt mir noch?“ -

O wie schläft doch der natürliche Mensch einen so tiefen Schlaf, ehe Christi Licht den Schläfer weckt! Und doch hat der Jüngling nicht ganz geschlafen. „Was fehlt mir noch?“ ruft er und seine Seele glüht, das ewige Leben ist auch ihm ein großer Gedanke, und er will etwas einsehen in der Zeit, um die Ewigkeit zu gewinnen. So hat denn auch der Herr sein verblendetes Streben nicht verachtet: „Jesus sah ihn an und liebte ihn,“ lesen wir bei Markus. O die Frage: „was fehlet mir noch?“ sie ist eine edle Frage, auch wo das Streben nach dem, was da fehlet, noch mit Dunkelheit umgeben ist. „Was fehlet mir noch?“ o dränge sie nur hervor diese Frage aus euer aller Brust, ihr Jünglinge; o gäbe es nur Fragende unter euch, nur nicht der todte Schlummer, nur nicht die Sattheit und Genüge! „Was fehlet mir noch?“ das ist die Frage, an die ein Erlöser noch anknüpfen kann, ja anknüpfen kann, um das Eine zu zeigen, was dir vor Allem noch fehlt, die Erkenntniß deiner selbst. Daß er den Nächsten geliebt habe wie sich selbst, das hat der Jüngling versichert; wohl denn, spricht Jesus zu ihm, „so gehe hin und verkaufe, was du hast und gieb es den Armen!“ - „Da der Jüngling“ heißt es, „das hörte, ging er betrübt von ihm, denn er hatte viele Güter.“ Ob er wiedergekommen sei, wir wissen es nicht; was aber Jesus ihn hat lehren wollen, das wissen wir jetzt. Was das Wörtlein gut heiße, das hat er lernen sollen. „Wie magst du mich, von dem du nichts Anderes weist als von allen anderen Meistern in Israel, daß ich das Gute lehre, wie magst du mich gut heißen, da doch nur gut heißen kann, nicht wer das Gute lehrt, sondern wer gut ist? Wie magst du aber auch mich, von dem du nichts anders weist als von allen andern Meistern in Israel, um das Gute fragen, da doch Niemand das Gute vollkommen lehren kann, als wer gut ist? Dorthin, Jüngling, den Blick gerichtet, auf jenes fleckenlose Licht, „bei dem kein Wandel ist des Lichtes und der Finsterniß und von dem alle gute und alle vollkommene Gabe herabkommt!“

Doch wie? fragt ihr, hat denn nicht damals jenes fleckenlose Licht alle seine Strahlen auf Erden herabgesandt und aus diesem Meister in Israel wieder herausleuchten lassen über die verfinsterte Erde? Wie? fragt ihr, hat nicht, wie ein Kirchenvater sagt, damals die Geistersonne ihren Himmel verlassen, um als Mensch auf Erden zu wandeln? der Zeigefinger, der auf die eigene Brust deutete, als das Wort erschallte: „Wer mich stehet, der stehet den Vater!“ warum erhebt er sich diesesmal zum Himmel statt auf die eigne Brust zu deuten? Steht denn nicht geschrieben, daß „wer den Sohn nicht hat, auch den Vater nicht hat,“ und: „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich?“ Das ist der Anstoß, an dem von jeher Etliche bei diesem Ausspruche gestrauchelt sind. Ja, allerdings hat der Mund des Heilands gesagt: „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich!“ Aber hat nicht derselbe Mund auch gesagt, „daß Niemand zum Sohne kommt, es ziehe ihn denn der Vater?“ Hat er nicht gesagt: „wer (in seinem Innern) vom Vater höret, und lernet von ihm, der kommt zu mir?“ (Joh. 6, 45.) Und welches ist, saget mir, der gewaltige Zug vom Vater, der die selbstgerechten stolzen Herzen beugt, daß sie dem Sohne sich zu Füßen legen? Welches ist der Zug vom Vater und die innere Belehrung, welche die selbstgerechten Herzen zu mühseligen, und die in ihren eigenen Augen Reichen zu Armen macht, damit der Heiland sie erquicke und reich mache? Ist es nicht das durch die Würkung des Geistes des Vaters im Innern geweckte Bewußtseyn eines Mangels, den kein menschlicher Lehrer ausfüllen kann, einer Last, die kein menschlicher Arm abnehmen kann, einer Krankheit, die kein menschlicher Arzt heilen kann? Aber war denn der Jüngling arm? War er denn krank? War er denn beladen? Der Jüngling fühlte sich ja ungebrochen an Kraft und reich und gesund; der dürstete ja nicht nach einem Erlöser außer ihm, der wollte ja sein eigener Erlöser werden. Da, seht ihr, galt es erst, daß die eigene Kraft gebrochen würde. Vor den Augen einer solchen Seele mußten erst die Gebote Gottes riesenhaft groß werden, damit sie selbst unbeschreiblich klein würde. Ist er hernachmals in seinen eigenen Augen arm und klein geworden, dann wird er ihm auch nachgefolgt seyn, wie es der Heiland verlangt hatte, und in der Nach, folge wird er gelernt haben, daß in der That Niemand gut ist, denn der einige Gott, daß aber auch dieser einige Gott Wohnung gemacht hatte in diesem Meister Israels dergestalt, daß derselbe sagen konnte: „wer mich stehet, der stehet den Vater.“ Nicht ganz mit Unrecht also haben auch die älteren Väter unserer Kirche den Ausspruch also erklärt, daß nur auf eine indirecte Weise der Erlöser seine völlige Einheit mit dem Vater dem Jünglinge habe lehren wollen, daß er nichts Anderes habe sagen wollen, als dies: ist Niemand gut, als der einige Gott, und bin ich allein der Gute ohne allen Fehl und Flecken, wohlan, so erkenne auch in mir den Sterblichen, in dem die Fülle der Gottheit wohnt. - So seht ihr denn, daß wir auch in dieser Erzählung einen Beweis jener erziehenden Weisheit des Heilandes haben, welche „das zerstoßene Rohr nicht zerbricht, und den glimmenden Docht nicht auslöscht,“ welche aber auch erst zerknickt, ehe sie erhebt, und beugt, ehe sie aufrichtet.

Werfen wir nun noch von dieser Erzählung einen Blick auf uns selbst, so führt sie uns auf ein Dreifaches; sie führt uns darauf, 1) warum uns das Wörtlein gut so leicht über die Lippen geht, 2) warum der allein Gute uns so ferne steht, 3) warum mit Seiner Erkenntniß all' unser eigenes Gutes für immer zu Grabe geht.

Wir lernen, sage ich, warum das Wörtlein gut uns so leicht über die Lippen geht; warum anders, als weil uns der Ernst noch so sehr fehlt, der alle Erkenntniß in That verwandelt? Es ist ein Thema, über das man nie zu Ende predigen kann - die ungeheure Kluft zwischen unserm Wissen und unserm Thun. Es ist ein Thema, über das man nicht ausreden kann - zumal in unserer Zeit; ja, gerade in unserer Zeit, wo des Redens und des Schreibens über die Moral und das Gute so viel geworden ist. Ihr werdet sagen: aber wie? ist nicht gerade das ein Zeichen, daß das Herz mit dem Guten beschäftigt ist? steht nicht geschrieben: „weß das Herz voll ist, deß geht der Mund über?“ Wahr geredet; und wer will als Richter auftreten, wo das wallende Herz überfließt, wo eine Apostelschaar steht und ruft: „wir können es ja nicht lassen, daß wir nicht predigen sollten von dem, was wir gehört und gesehen haben.“ Das sind die Reden kräftiger Gemüther und Zeitalter, die selber zur That werden, das sind nur die Vorläufer, welche große Thaten verkündigen der Selbstverläugnung für die Brüder, des Glaubens und der Liebe. Nun giebt es aber auch Reden schwächlicher Geister und Zeitalter über die Religion und das Gute, welche zu nichts Anderem dienen, als das sich hinweg zu reden aus dem Herzen, was von Kraft noch darin ist, und wer darf läugnen, daß unser Zeitalter ein Zeitalter ist, wo die Kraft in das Wort umschlägt, anstatt in die That? Einst las man das Gotteswort, um sich dadurch weisen zu lassen, jetzt liest man das Gotteswort, um darüber Recht zu sprechen; einst hörte man die Predigt, um danach zu thun, jetzt hört man die Predigt, um darüber zu reden - sagt, ist es Unwahrheit, wenn ich es ausspreche, daß die einzige Ursache, warum mancher eine Predigt hört, ist, um darüber zu reden? In einer solchen Zeit nun, wo die selbstverleugnende That so wenig am Herzen liegt, da sollte nicht das Wörtlein gut leicht über die Lippen gehen? - Ach, wir sind uns ja nicht bewußt, wie viel es wiegt! Da preisen wir laut die guten Thaten Anderer, um den Mangel unserer eigenen zu vergessen, da sprechen wir nur von guten Grundsätzen, um die schlechte Ausführung zu beschönigen, da werden wir Alle gute Lehrer, noch ehe wir gute Schüler geworden sind. O Geliebte, daß doch schöne Worte über das Heilige und Gute niemals über unsere Lippen gingen ohne das ernste Bedenken, ob sie eine Wahrheit geworden sind in unserem Leben. Ich meine natürlich nicht, daß jede Wahrheit unserer Lippen eine volle Wahrheit unseres Lebens geworden sein müsse; denn wird nicht überall erst das Bekenntniß zu einer Wahrheit vorangehen müssen ihrem vollen Ausdrucke in unserm Leben, wie der Beschluß der Ausführung voran geht? Aber das steht fest: jede Wahrheit auf unsern Lippen soll eine werdende Wahrheit in unserm Leben seyn, und ist es nicht also, gilt uns dann nicht das schrecklichste aller Worte, das Wort Heuchler? So führt uns denn auch die Betrachtung jener Erzählung darauf, warum der allein Gute uns so ferne steht. Wie dort Jesus den Jüngling erzieht, so müssen wir auch erzogen werden. So lange er in seinen eigenen Augen groß war, war Christus klein in seinen eigenen Augen. Wir müssen klein werden in unsern Augen, wenn Christus groß werden soll; wir müssen zu Sündern werden, wenn er der allein Gerechte werden soll. So muß denn uns Alle erst Christus klein machen. Darum ruft er in euer aller Herz: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“ Wie hat zu allen Zeiten der allein Gute den Herzen so ferne gestanden, gerade wenn sie über das Gute und das Edle ihre Prunkreden gehalten haben! In ihre schönen Worte haben sie sich verliebt, darum haben sie für ihre schlechten Werke kein Auge gehabt. In sich selber waren sie verliebt, wie konnten sie eine Liebe zu dem haben, der alle Eigenliebe austreibt! Laßt mich gleich das grellste aller Beispiele vor euer Auge führen: in welcher Zeit ist in den Volksversammlungen der französischen Nation das Wort Tugend und Edelmuth am häufigsten erschollen? War es nicht in der Zeit, wo an den Guillotinen das Blut in Strömen floß, und wo die Kreuze die Inschriften erhielten: unser ehemaliger Erlöser!? Sie dachten nur an sich, darum haben sie an Ihn nicht denken können, und im Blicke auf sich selbst verdeckten ihnen ihre gleisenden Worte, daß ihre Werke finster waren wie die Nacht. Darum, soll ein Mensch dahin kommen, einzusehen, daß freilich Niemand gut ist, als der einige Gott, daß aber auch deshalb der Mensch ohne Fehl und Flecken, den Niemand einer Sünde zeihen konnte, vollkommen eins war mit dem Vater; soll aus einem Menschenherzen warm und voll das Bekenntniß quillen: „Ja, wer dich siehet, du Heiliger Gottes, der siehet den Vater,“ so ist kein anderer Weg, als daß wir Ernst damit machen, daß auf jeglicher Stufe unserer Erkenntniß die Wahrheit unserer Lippen eine Wahrheit unsers Lebens werde nach dem Worte, das er selbst gesagt hat: „So Jemand deß Willen thun will, der mich gesandt hat, der wird inne werden, ob meine Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selber rede.“

Lasset mich hier in aller Einfachheit die Geschichte eines Mannes mittheilen, der das erfahren hat, und wie er es erfahren hat. Es war ein begabter Mann, der in den Lehren menschlicher Weisheit lange für seinen innern Menschen die Genüge gesucht, und nicht gefunden hatte. Es war damals die Zeit, wo die Kinder die Mutter, welche sie erzogen hatte, in das Angesicht schlugen, wo die aufgeklärten Kinder der Zeit dem Bibelworte entwachsen zu seyn meinten, und so war denn auch ihm die Heilige Schrift nicht mehr vor sein Auge gekommen, seit er in der Kinderschule sie zurückgelassen. Die Morgenröthe einer andern Zeit brach aber im Reiche Gottes an, und in den Schriften eines großen Denkers unserer Nation, den schon die ersten Strahlen jener Morgenröthe beleuchtet hatten, findet er ein hohes und herrliches Zeugniß von dem Buche, das ihm in seiner Kindheit als ein heiliges in die Hand gegeben worden war. Erstaunt greift er nun nach diesem Buche. Wie? fragt er sich - und in diesem unscheinbaren Acker wäre würklich der Schatz zu finden, den du - o mit welchem Sehnen - dein Lebenlang suchen gegangen bist? in dieser unscheinbaren Hülle läge die Perle, die du - o mit wie vielen Kosten - erkaufen wolltest? Wohlan denn - er liest, liest wieder - manches spricht ihn an, Vieles stößt ihn zurück, das Meiste ist ihm unverständlich, und schon will er es wieder bei Seite legen, da fällt sein Auge auf die Stelle, wo dieses Buch für sich selbst den Prüfstein aufgestellt hat: „So Jemand will den Willen deß thun, der mich gesandt hat, der wird inne werden, ob meine Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selber rede.“ Wie, sagt er sich, so hätte also der Weise von Nazareth die Prüfung so leicht gemacht?! - Schmählich wäre es und gewissenlos, wenn ein nach Wahrheit dürstendes Gemüth gleichgültig daran vorüberginge, und sie nicht versuchte. Es sei gewagt. Zu erkennen und zu lernen den Willen deß, der Jesum gesandt, das ist nun sein erstes Geschäft. Zu diesem Endzwecke die Evangelien noch einmal zu lesen, ist das Geschäft der frühen Morgenstunden, und noch einmal gehen sie an ihm vorüber mit neuem Klange die erhabenen Aussprüche: „Wer mir nachfolgen will, der verläugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich täglich.“ „Wer unter euch der größte seyn will, der sei Aller Diener.“ „Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, betet für die, so euch beleidigen und verfolgen.“ Einen neuen Klang haben die Worte bekommen, seitdem er sie als eine Wahrheit der Lippen ansieht, die eine Wahrheit im Leben werden soll. Er fängt an vor Gott zu wandeln. Er lernt mit jedem Tage mehr von Gottes Willen, er thut mit jedem Tage mehr von Gottes Willen. Aber immer unermeßlicher wird nun vor seinem Auge der Umfang der Gebote, und je größer die Gebote werden, desto kleiner wird er, und je kleiner er wird, desto größer wird - Christus. Nicht lange, so quillt warm und voll das Bekenntniß aus der bewegten Brust: „Ja, du Heiliger Gottes, wer dich sieht, der siehet den Vater.“ So war, seitdem er zum Sünder geworden, der allein Gute ihm nahe getreten, der ihm so ferne stand, als er selber noch gut war. Es führt uns aber endlich unser Text auch darauf, warum mit der Erkenntniß dieses allein Guten auch unser eigenes Gutes für immer zu Grabe geht. Es ist zu Grabe gegangen auf dem Wege zu ihm hin, und steht auch aus diesem Grabe nicht mehr auf. Es ist für immer zu Grabe gegangen. Es ist wahr, in seiner Schule werden wir gut, erst wahrhaft gut, aber all' unser Gutes wissen wir hinfort auch nicht mehr als unser eigenes, sondern als das seinige. Er hat uns ja erst lehren müssen, was das Gute sei, er muß in der geistigen Verbindung mit ihm erst die Kraft geben, gut zu werden, er muß durch sein bitteres Leiden und Sterben unsere Schuld zudecken. So ist denn unser eigenes Gutes zu Grabe gegangen für diese Welt, und die gesammte Christengemeinde singt:

Was wir vollbringen Tag und Nacht,
Das ist durch Ihn in uns vollbracht.

Aber auch für jene Welt ist unser eigenes Gutes zu Grabe gegangen, denn nicht durch das Gute, was wir aus uns selbst erdacht und gewürkt haben, werden wir vor dem Auge bestehen wollen, das „weder Trug noch Falschheit leidet.“ Immer werden wir bekennen, daß alles Gute, was wir haben, von dem allein Guten wir empfangen haben, und so wird auch dann das Sprüchlein wieder in neuer Kraft in uns lebendig werden, das wir, als Mutterliebe uns die ersten Gebete stammeln lehrte, gebetet haben:

Christi Blut und Gerechtigkeit,
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid;
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wenn ich werd' in den Himmel gehn. -

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