Scriver, Christian - Gottholds zufällige Andachten. - 17. Der Fliederbaum.

Scriver, Christian - Gottholds zufällige Andachten. - 17. Der Fliederbaum.

Es sagte ein guter Freund zu Gotthold, als sie bei einem großen Fliederbaum, der voller Beeren war, vorbeigingen: es nehme ihn Wunder, daß dieser Baum nicht in höherem Werth bei uns wäre, weil seine Frucht in der Arznei so dienstlich, und der Saft, so daraus gekocht würde, der Deutschen Theriack mit allem Recht könnte genannt werden. Gotthold antwortete: Nicht ohne ist es, daß an diesem Baum fast nichts, welches nicht seinen Nutzen in der Arznei hat; die im Frühling ausschlagenden jungen Knospen geben einen guten Salat, der in gewissem Maß gebraucht die schädlichen Feuchtigkeiten abführt; die Blüthe giebt, wenn sie abgezogen wird, ein kühlendes und heilendes Wasser, die Beeren geben einen guten Saft, der den Schweiß treibt und dem Gift, sich widersetzt, ja ich habe Nachricht, daß ein erfahrner Mann mit wenigen der kleinen Steinchen, so in den Beeren sind, nachdem er sie zerstoßen und zu Pulver gemacht, sich und andere glücklich von bösen und übermäßigen Feuchtigkeiten erleichtert hat, dazu auch der Saft der Oberrinde, an der Wurzel ausgepreßt und in wenig Wein genossen, den Wassersüchtigen vornehmlich dienlich ist. Allein diesem guten Baum ist zuwider theils sein starker und schädlicher Geruch, damit er den Herannahenden das Haupt beschwert, theils daß er so gemein ist und an allen Mauern und Zäunen wächst, wo man doch oft seiner nicht warten kann. Und habt ihr also an diesem Baum einen Abriß eines gelehrten, erfahrnen und künstlichen Menschen, der aber von Sitten grob und bäurisch ist, und seine gute Waare in einem saubern Korb nicht weiß zu Markt zu tragen, oder sich gar zu gemein macht und wie das Huhn auf allen Misthaufen scharrt. Trauet mir, die wohlständigen Sitten sind oft die Farben und das Gold, so ein hölzern Bild ansehnlich machen; eine Jungfrau ist oft kaum so schön, daß man sie nicht häßlich nennen kann, und macht sich doch mit schönen Sitten und Geberden so beliebt, daß sie vielen andern vorgezogen wird, und bleibts wol bei dem Alten, daß, wer in Künsten zu- und in Sitten abnimmt, derselbe mehr ab- als zugenommen habe. So verhält sichs auch mit der gar zu großen Gemeinheit, und ist es wol kein Wunder, daß die Waare verdächtig ist und von andern nicht groß geachtet wird, die der Verkäufer selbst nicht groß achtet und sie täglich auf dem Laden hat. Es ist eine Klugheit, wenn einer sich und seine Kunst zu rechter Zeit entdecken und verbergen kann.

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