Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die Briefe an Timotheus und Titus.

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die Briefe an Timotheus und Titus.

Für diese drei Briefe, die nach Form und Inhalt einander sehr ähnlich sind, ist der Name „Pastoralbriefe“ üblich geworden, da sie aus Vorschriften über die Einrichtung und Führung der Gemeinden bestehen.

Der erste Brief an Timotheus

sagt, Timotheus sei von Paulus in Ephesus zurückgelassen worden. und dort liegt ihm vor allem

der Schutz der Gemeinde gegen irrige Lehren, 1,

ob. Das Schädliche an den Lehren, welche in den Gemeinden umlaufen, wird in zwei Punkte gesetzt, einmal darin, daß sie zu leerem Geschwätz entarten, sodann darin, daß sie sich mit dem Gesetz Gottes nicht zurecht finden. Über beide Punkte werden Timotheus kurz und bündig die leitenden Wahrheiten angegeben, auf die sich die Unterweisung der Gemeinden gründen muß. Der christliche Unterricht zielt auf die Liebe, die nur bei reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben in uns Raum hat, Was diesem Ziele nicht dient, ist Geschwätz, auch wenn es sich mit dem höchsten Schein der Geistlichkeit über Gott und seine Geheimnisse verbreitet. Beim Gesetz kommt es darauf an, daß es rechtmäßig gebraucht werde, und der rechtmäßige Gebrauch des Gesetzes besteht darin, daß es die Bösen trifft und ihre übeln Werke wegschafft und beseitigt, während es nicht dazu bestimmt ist, die Gerechten zu treffen und zu hindern, und das Evangelium einzuschränken. Was Gottes Gnade im Unterschied vom Gesetze ist, das hat Gott durch des Apostels eigenen Lebenslauf aufs hellste ans Licht gestellt. Er selbst ist der kräftige Beweis dafür, wie Jesus die Sünder errettet unter Gottes reicher Geduld. Zu diesem Ziel soll Timotheus einen edeln Kriegsdienst ausrichten, anders als die, welche am Glauben Schiffbruch litten.

Neben der Lehre bildet das andere Hauptstück eines christlichen Gemeindelebens

das Gebet. 2.

Hier mahnt der Apostel, das Gebet nicht bloß auf die Glieder der Kirche zu beschränken, sondern auf alle Menschen, namentlich auf die Regierenden, auszudehnen. Die Grundwahrheit des Evangeliums, das uns den einigen Gott und den einigen Mittler mit Gott, der für alle der Erlöser geworden ist, verkündigt, gibt dem Gebet notwendig diese Weite. Die Frage, für wen die Kirche beten sollte, war von großer Bedeutung.

Dadurch wurde ihre Stellung zu ihrer heidnischen Umgebung und deren Machthabern innerlich geregelt. 2, 1-7.

Der Mann ist der Verwalter des Gebets in der Gemeinde, und die Frauen sollen sich demselben anschließen und an den Versammlungen in bescheidener Kleidung still sich beteiligen. 2,8-15.

Eine weitere Hauptsache bei der Einrichtung der Kirche war die richtige Besetzung der Kirchlichen Ämter. Der Brief nennt

Die Erfordernisse für den Gemeindedienst. 3.

Es gab zwei Ämter in den Gemeinden, Älteste oder Bischöfe und Diener (Diakonen). Der Brief mahnt, bei der Wahl der: selben auf die sittliche Unbescholtenheit achtsam zu sein. Lasterhafte Gewohnheiten machen zum Amte untauglich. 3,1-13.

Die Würde des Amts beruht auf dem herrlichen Beruf der Kirche, die Wahrheit Gottes in die Welt zu tragen, und auf der Erhabenheit des göttlichen Geheimnisses, d. h. Christi, dessen Wert alle Gedanken der Menschen durchkreuzt hat und so zu herrlichem Ziele gelangt ist. 3,14-16.

Der Brief kehrt nochmals zurück zur

Verwirrung der Gemeinde durch falsche Lehre. 4,1-10.

Schwere Störungen stehen der Kirche bevor. Die natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens werden verachtet werden, und man wird leugnen, daß alles, was Gott geschaffen hat, gut und der Heiligung fähig ist. 4,1-5.

Mit dieser kommenden Verwirrung sind die in den Gemeinden jetzt schon verbreiteten Lehren innerlich gleichartig und deren Anfang. Man gibt sich schon jetzt viel mit leiblicher Übung ab, d. h. mit einer gegen den Leib gerichteten Heiligungsmethode. Ihr stellt der Apostel die fromme Scheu entgegen, die Gott in Ehren hält und auf ihn die Hoffnung stellt. 4,6-10.

Es wird Timotheus gezeigt,

wie ein rechtschaffener Vorsteher der Gemeinde sich verhalten soll. 4,11-6,21.

Weil er ein Vorbild der Gemeinde sein soll, hat er mit allem Fleiß auf sich und sein Amt acht zu haben. 4,11-16.

Dann geht die Mahnung auf die einzelnen Klassen der Gemeindeglieder ein, wie er mit denjenigen umzugehen hat, die zurechtzuweisen sind, mit den Witwen, welche die Unterstützung der Gemeinde empfangen und ihr dafür Dienste thun, mit den Ältesten, wenn eine Klage gegen sie vorliegt oder ein solcher neu eingesetzt werden soll, und mit den Sklaven, die in besonderer Weise der seelsorgerlichen Leitung bedurften, zumal dann, wenn beide, der Herr und sein Sklave, der Gemeinde als Brüder angehörten. 5,1-6,2.

An den falschen Lehren werden deren sittlich verderbliche Folgen hervorgehoben und ihr Zusammenhang mit der Geldgier. Sie werden deshalb so eifrig verbreitet, weil ihre Vertreter sich dadurch den Unterhalt verschaffen. Der rechtschaffene Leiter der Gemeinde wird dagegen an die Genügsamkeit gemahnt. 6,3-10.

So soll Timotheus den guten Kampf kämpfen und das ihm übergebene Bekenntnis und Gebot bewahren bis zur Erscheinung Christi. 6,11-16.

Eine besondere seelsorgerliche Aufgabe bilden die Reichen in der Gemeinde. Sie müssen angehalten werden, ihre Mittel in guten Werken fruchtbar zu machen, worauf der Brief nochmals vor der fälschlich sogenannten Erkenntnis warnt, die nicht zum Glauben gelangen läßt. 6,17-21. Mit diesem Briefe hat

Der Brief an Titus

große Ähnlichkeit. Titus soll die Gemeinden auf Kreta ordnen. Dazu werden ihm

die Eigenschaften eines Ältesten, 1,5-9,

genannt, auf die bei der Wahl derselben zu achten ist. Auch hier wird wie 1 Tim. 3 aller Nachdruck auf die sittliche Unbescholtenheit gelegt.

Sodann bedürfen die Gemeinden

Schutz gegen leeres theologisches Geschwätz. 1,10-16.

Dasselbe erscheint auch hier in Verbindung mit Gewinnsucht und mit mönchischer Absonderung von angeblich unreinen Dingen. Jüdische Gebote spielen hinein und der Ruhm, Gott zu kennen, wird in besonderem Maße erhoben. Dergleichen ist für die Kreter doppelt gefährlich, weil sie seit alters ein besonders verdorbenes Völklein waren, das ernster Zucht bedarf.

Darauf werden auch hier

die Weisungen für die verschiedenen Stände in der Gemeinde, 2 u. 3,

gegeben. Den Alten und den Jungen und den Sklaven wird das ihnen obliegende Ziel genannt, und der Grund alles christlichen Wandels wird dargethan in der in Christo erschienenen göttlichen Gnade, die durch Christi Tod uns erlöste und uns zur Hoffnung auf seine herrliche Erscheinung aufrichtet, was beides sich nicht mit verdorbenen Begierden verträgt. 2.

Den Regenten hat die Gemeinde sich willig unterzuordnen und allen Menschen, nicht bloß einander, Treue und Geduld zu erzeigen. Das folgt aus dem, was Gott ihnen selber that, da er sie aus ihrem Sündendienst heraus durch sein freies Erbarmen zur Rechtfertigung und zum ewigen Erbe berufen hat. 3,17. Die parallele Stelle hierzu findet sich 1 Tim. 2,1 ff.

Von denen dagegen, die die Frömmigkeit in eine hohle Erkenntnis verkehren und sich hievor nicht warnen lassen, hat sich die Gemeinde zu trennen. Gottes Gabe leitet uns zum Werk. 3,8-14.

Die Anweisungen sind im Brief an Titus kürzer gefaßt, als im 1. Timotheusbrief. Die gedrängten Erinnerungen an die evangelischen Grundwahrheiten, die den einzelnen Vorschriften zur Wurzel und Stütze dienen, sind dagegen ebenso reich.

Der zweite Brief an Timotheus.

Von der Organisation der Gemeinden ist in diesem Briefe nicht mehr die Rede; dagegen bleibt er mit den anderen beiden Briefen in denjenigen Abschnitten parallel, welche die nichtigen Lehrgebilde abweisen und von den Leitern der Gemeinde den vollen Ernst einer ganzen Aufopferung fordern.

Das mutige Bekenntnis zu Christo. 1,3-2,13.

Paulus wünscht Timotheus noch einmal zu sehen und fordert ihn deshalb auf, alle Bedenklichkeiten zu überwinden und sich mutig zum Evangelium und zum gefangenen Apostel zu bekennen im Blick auf die Größe der göttlichen Zusage. Er weiß ja, wie verlassen Paulus ist; wiederum hat er in Onesiphorus ein Beispiel der Treue vor Augen, das dem Apostel zur Erquickung ward. 1.

Der Dienst Christi erfordert völlige Hingabe, bringt aber auch reiche Frucht, da man durch Sterben in's Leben mit Christo tritt kraft der unwandelbaren Treue Gottes. 2,1-13.

Die Abwendung von den unreinen Lehrgebilden. 2,14-3,17.

Von den unheiligen Erörterungen über Gott und Göttliches sind die Gemeinden abzulenken, z. B. von Lehren, welche die Auferstehung, die wir hoffen, schon in's gegenwärtige Christenleben verlegen und sie dadurch umdeuten und verflüchtigen. Gottes wahrhaftige Gemeinde wird zwar dadurch nicht gefährdet, da sie Gottes unantastbares Siegel trägt. Auch kann die Kirche jetzt noch nicht vollkommen gereinigt werden, da sich auch in Gottes Haus mancherlei Gerät finden muß. Es gilt aber sich selbst rein zu bewahren und in Geduld ohne Zank die störenden Bestrebungen zurechtzuweisen. 2,14-26.

Die letzten Zeiten werden überhaupt zerrüttet und heillos sein. Und die Art jener schleichenden Lehrer zeigt diese Zerrüttung bereits an. Es wiederholt sich Mose's Kampf mit den ägyptischen Zauberern noch einmal. Aber Timotheus kennt den geraden Weg: er heißt, Paulus nachfolgen und fest in der Schrift gegründet sein. 3.

Des Apostels Vorblick auf sein Ende. 4.

Je verwirrter die Zeit wird, um so ernster und eifriger hat Timotheus seinen Dienst auszurichten. Für Paulus ist das gegen die Zeit der Arbeit geschlossen und das Ende da. Darum ruft er Timotheus nach Rom. Er ist einsam, von seinen Gehilfen entblößt, von der römischen Gemeinde verlassen, aber in Christo der Errettung in's Himmelreich gewiß. .

An diesen Briefen ist auffallend, daß ihre Angaben über die Erlebnisse des Paulus mit denjenigen der Apostelgeschichte und der früheren Briefe nicht zusammengefügt werden können. Der erste Timotheusbrief sagt, Paulus habe Timotheus in Ephesus zurückgelassen, als er nach Macedonien zog, 1,3. Nun hören wir auch durch die Apostelgeschichte und den zweiten Korintherbrief, daß Paulus von Ephesus nach Macedonien und Griechenland ging; allein damals blieb Timotheus nicht in Ephesus zurück, vgl. 2 Kor. 1,1. Ap. 20,4. Der Brief an Titus sagt, Paulus sei mit ihm auf Kreta gewesen und habe ihn dort zurückgelassen. Das könnte leicht während derjenigen Zeit geschehen sein, da Paulus den Mittelpunkt seiner Arbeit nach Ephesus verlegt hatte. Auch könnte Paulus, als er auf der Fahrt nach Rom Kreta berührte, Titus daselbst zurückgelassen haben, wenn gleich die Apostelgeschichte nichts davon andeutet. Allein am Schluß des Briefes wird Titus nach Nikopolis1) berufen, weil Paulus beschloß, dort den Winter zuzubringen. 3,12. Wir müssen somit Paulus damals irgendwo in Griechenland, Macedonien oder Italien suchen. Aber für den Plan, einen Winter in Nikopolis vorübergehen zu lassen, haben wir im Bereich der Apostelgeschichte keinen Raum. Den letzten Winter vor der Abreise nach Jerusalem hatte Paulus schon lange vorher den Korinthern zugedacht, 1 Kor. 16,6, und diesen Plan hat er auch ausgeführt, Ap. 20,3. Der zweite Timotheusbrief führt uns nach Rom. Dadurch wird er von den beiden andern Briefen zum mindesten auf 5 Jahre getrennt. Denn im ersten Timotheusbrief liegt keine Andeutung vor, daß Paulus gefangen sei. Er sagt, daß Paulus die Absicht habe, bald in Ephesus einzutreffen, 3,14. Die Worte lassen nichts anderes vermuten, als Paulus sei in freier Thätigkeit. Und doch legt die Gleichartigkeit dieser Briefe den Gedanken nahe, daß sie auch der Zeit nach zusammengehören. Zudem erwähnt der zweite Brief einen Aufenthalt des Paulus in Troas und Milet, 4,13.20. Dort verweilte Paulus freilich auf seiner Reise nach Jerusalem. Wenn aber Paulus an Timotheus berichtet: den Trophinus ließ ich in Milet krank zurück, wird niemand hinzudenken: nämlich vor fünf Jahren. Auch war Trophimus mit Paulus in Jerusalem, Ap. 21,29. So vereinigen sich die Angaben unserer Briefe mit dem, was wir sonst aus dem Leben des Apostels wissen, nirgends zu einem zusammenstimmenden Bild.

Nun ist uns der letzte Abschnitt im Leben des Apostels uns bekannt, und schon im 2. Jahrhundert war in der Kirche in Rom und anderwärts die Ansicht verbreitet, Paulus sei in dem Prozeß, der von Jerusalem her gegen ihn erhoben wurde, freigesprochen und erst bei einem zweiten Aufenthalt in Rom zum Tod verurteilt worden. Man kann dieses keineswegs unmöglich heißen. Sein Prozeß lag für ihn günstig, und Paulus hat selbst bestimmt die Freisprechung vorausgesehen, Phil. 1,25. Seine Zuversicht hat sich vielleicht nicht erfüllt; vielleicht hat sie sich aber erfüllt. Aus dem Philemon- und Philipperbrief wissen wir, daß Paulus die Absicht, sein Wert nach Spanien auszudehnen, vorerst aufgegeben hatte. Er wollte, wenn er frei werde, die kleinasiatischen und griechischen Gemeinden besuchen. Konnte er diesen Plan ausführen, dann haben wir freilich für den Besuch in Kreta, Ephesus, Milet, Troas und Macedonien allen Raum. Aber eine sichere Aufstellung läßt sich darüber nicht geben.

Auch das Bild, das wir in diesen Briefen vom innern Leben der Gemeinden erhalten, ist eigentümlich. Leeres profanes Geschwätz und Wortgezänk ist freilich eine Gefahr, in die die Kirche beständig fällt, und unter den redegewandten und redelustigen Griechen und bei der völlig freien Einrichtung der apostolischen Gemeinden, wo nicht ein Einzelner allein das Wort verwaltete, sondern jedes Glied der Gemeinde die Redefreiheit besaß, lag sie noch besonders nah. Auch die Neigung, an die Stelle des Glaubens eine hohle „Erkenntnis“ zu setzen und mit derselben sich zu brüsten, der Absonderungstrieb, der für seine besondere Meinung eine Partei wirbt und ein eigenes Kirchlein haben will, das Wohlgefallen an äußerlichen Heiligkeitsregeln, die unreine Verbindung geistlicher Bestrebungen mit dem Erwerb äußerer Bequemlichkeiten, die Lust, sich unter einander abzuschließen und zu vergessen, daß Gott allen Menschen geholfen haben will, das sind alles Dinge, welche unsern Gottesdienst immer und überall gefährden. Auch diese Briefe besitzen jenen Tiefblick, welcher der Bibel eigen ist, durchzuschauen in unsere wesentlichen und bleibenden Aufgaben, deren Lösung uns allen obliegt. Dennoch werden uns diese Warnungen eine bestimmte Verirrung der Lehre erkennen lassen, nämlich die gnostische. Dorthin weist die Verbindung mönchischer Heiligung mit dem Anspruch Gott erkannt zu haben, der in hochtönenden Worten erhoben wird, während den um den Apostel gesammelten Männern solche Erkenntnis abgesprochen wird. Nun zeigt auch der Kolosserbrief samt der Offenbarung und den Briefen des Johannes, daß solche Gedanken in den kleinasiatischen Gemeinden frühe wirksam waren. Aber hier ist der Stand der Bewegung deutlich über das hinausgeschritten, was der Kolosserbrief wahrnehmen läßt. Gnostische Lehrer laufen von Haus zu Haus, werben, wenn sie die Männer nicht gewinnen, wenigstens die Weiblein, 2 Tim. 3,6, und ziehen aus der Verbreitung ihrer Lehren ihren Unterhalt. Die Erkenntnis ist zum Parteiwort geworden, 1 Tim. 6,20. Auch aus diesem Grunde ist es wenig wahrscheinlich, daß die beiden früheren Briefe, derjenige an Titus und der erste an Timotheus, die den Apostel noch in Freiheit zeigen, mit dem Römer- und mit den Korintherbriefen der Zeit nach zusammenfallen sollten. Dies dagegen wäre nicht undenkbar, daß ähnlich, wie in den fünfziger Jahren die Frage nach dem Gesetz stürmisch eine Gemeinde um die andere erschütterte, in den sechziger Jahren gnostische Gedanken mit großer Schnelligkeit und aufregendem Reiz in den Gemeinden sich ausbreiteten, so daß Paulus, falls er nach seiner langen Abwesenheit die griechischen Gemeinden nochmals besuchen konnte, sie bereits allerorts über Schöpfung und Materie, Fleisch und Geist Christi, natürliche und himmlische Geburt spekulierend fand.

Unsere Briefe zeichnen sich weiter dadurch aus, daß sie dem kirchlichen Amt große Wichtigkeit beimessen. In dieser Hinsicht bilden sie deutlich einen Übergang von den Anfängen der Kirche zur nachapostolischen Zeit. Später wurden alle auf die äußere Ordnung der Kirche bezüglichen Fragen mit dem höchsten Eifer verhandelt und das kirchliche Amt erschien als das Fundament der Kirche, während z. B. der erste Korintherbrief, der doch ganz und gar mit der Ordnung der Gemeinde sich beschäftigt, die Ältesten mit keinem Wort erwähnt, wohl aber vom Propheten, vom geisterfüllten Beter und von den andern Gaben des Geistes spricht, durch welche die Gemeinde ihre Leitung und ihr Gottesdienst seinen Reichtum empfing. Doch dürfen wir nicht übersehen, daß Paulus den Gemeinden von Anfang an auch eine äußere Ordnung gegeben hat, vgl. Röm. 16,1. Phil. 1,1. Er hat diese zweifellos niemals geringschätzig und nachlässig behandelt. Es lag ihm freilich alles am Geist und seinen lebendigen Kräften. Deshalb erfreute er sich aber nicht an formloser Unordnung, und war nicht blind für die Wichtigkeit einer tüchtigen Gemeindeleitung. Auch stellte sich die Sorge für eine solche um so dringlicher ein, je mehr sich der Blick auf das Fortbestehen der Kirche über die apostolische Zeit hinaus richtete. Sodann sind die kirchlichen Ordnungen, welche die Briefe enthalten, sehr einfach. Der Vorstand wird aus den ältern Hausvätern der Gemeinde bestellt. Von einem einzigen Bischof, welcher die ganze Gemeinde regiere, ist keine Rede, von priesterlichen Vorrechten ebensowenig. Jeder Mann darf in der Gemeinde beten und lehren, und wenn sich der Älteste verfehlt, empfängt er vor der versammelten Gemeinde seine Zurechtweisung. Allerdings wird ihnen für treue Dienste eine schöne Stufe im Himmelreich verheißen, 1 Tim. 3,13. Doch das ist nicht unapostolisch. Auch Paulus hat für seine eigene Arbeit den Lohn beim Herrn gesucht, 1 Kor. 4,5. 2 Kor. 5,9.10.

Allen Mahnungen der Briefe ist eine große Nüchternheit eigen. Handelt es sich z. B. um die Wahl eines Ältesten, so könnte man erwarten, Paulus werde auf die Kraft seines Gebets, die Fülle seines Glaubens und seiner Erkenntnis aufmerken heißen. Davon wird nicht gesprochen, sondern davon, daß er kein Säufer, sein Raufbold u. dgl. sei. Überall treiben diese Briefe aus der geistlichen Höhe, die sich in den Geheimnissen Gottes umtreibt, hinweg zum tüchtigen Werk in den natürlichen Verhältnissen des Lebens. Im Zusammenhang mit dieser Richtung auf's Werk in den einfachen, elementaren Lebensstellungen wird auch die Sprache der Briefe zum Teil neu. Sie stellen neue Worte voran, den einfachen Begriff der Frömmigkeit und Gottseligkeit, das „gesunde“ Wort, die „gute Lehre“, die anvertraute „Beilage“ u. s. w. Vielleicht nötigen auch diese Beobachtungen noch nicht zu dem Schluß, daß hier eine andere Hand die Feder führt als die des Apostels. Wenn Paulus den Eindruck hatte: die Gemeinden sind über Christus unterwiesen und kennen das Evangelium; sie sind nur zu bereit, an ihrem Einblick in Gottes Rat sich zu erlustigen; der Fortschritt, der ihnen obliegt, besteht im Werk; wenn sie nur rein und tüchtig handeln würden! konnte vielleicht auch er so reden. Jedenfalls ist die Mahnung der Briefe nicht abgelöst von Christi Person und Werk. Vielmehr wird immer wieder in heller, reicher Zusammenfassung der Kern des Evangeliums ausgesprochen, aus dem alle Mahnung ihre Kraft gewinnt.

Sind diese Briefe nicht von Paulus, so hat sie ein Mann verfaßt, der nach dem Tode des Apostels von der Einsicht tief durchdrungen war: jetzt gelte es von Seite derer, welche den Gemeinden vorstanden, ganze aufopferungsvolle Hingabe und Nüchternheit, wenn die Kirche durch die Gefahren, die sie von innen und außen bedrohten, hindurchgeleitet werden solle, und der darum allen denen, die mit ihm die Kirche bauten und führten, nochmal sagen wollte, was als apostolische Vorschrift für die Leitung der Kirche festzuhalten sei. Es war für die Männer, die mit Paulus an der Heidenkirche gearbeitet hatten, eine ernste Zeit, als der Apostel von ihnen schied. Sie mußten sich besinnen: was ist fernerhin der Weg der Kirche? wo liegen die Ziele, auf die unsre Arbeit hinzustreben hat? wie hat Paulus die Gemeinden geordnet? in welche Regel hat er das Christenleben gefaßt? Vielleicht hat ein Mann aus dem Paulinischen Kreise in diesen Briefen uns auf jene Fragen Antwort gegeben; dann hat er im Namen des Apostels geschrieben, weil er der Kirche die Vorschrift des Paulus geben wollte, im guten Gewissen, daß er selbst es halte, wie er es Timotheus befiehlt, und der Spur des Apostels nachfolge und bei dem bleibe, was ihm anvertraut worden ist. Falls diese Auffassung der Briefe das Richtige trifft, brauchen wir nicht an eine zweite Gefangenschaft des Apostels in Rom zu denken, brauchen auch die gnostische Bewegung nicht so rasch sich ausbreiten zu lassen, und die Unterschiede dieser Briefe von den ältern verlieren alles Befremdliche.

1)
Nikopolis war der Name mancher Städte. Hier wird am wahrscheinlichsten an Nikopolis in Epirus am adriatischen Meer zu denken sein.
Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/s/schlatter_a/einleitung_in_die_bibel/schlatter_eidb_timotheus_titus.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain