Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die fünf Bücher Mose.
Wir finden bei andern Völkern mehrfach, daß Volksrechte, die vordem in langer Gewohnheit im Volke galten, schließlich von einem Sammler schriftlich verzeichnet wurden. Von dieser Art ist das Gesetzbuch Israels nicht. Es gibt uns nicht das geltende Gewohnheitsrecht Israels. Es sammelt auch nicht Beschlüsse der Volksgemeinde, Satzungen der Volksältesten oder Erlasse der Könige. Vielmehr stützt sich das Gesetz ausschließlich auf die Autorität Gottes. Es bestimmt, was Gottes Wille und Verordnung für Israel sei.
Der oberste Gedanke des Gesetzes, den es allen seinen Geboten voranstellt und aus dem es sie herleitet, ist der: ihr seid Gottes Eigentum. So beginnen schon die 10 Gebote: „Ich habe euch aus Ägypten erlöst, und darum sind euch die hier genannten Dinge untersagt. Das dürft ihr nicht thun, weil ihr mein Volk seid!“. Wer Gott gehört, ist verbunden, sich nach ihm zu richten und mit ihm in Ähnlichkeit und Übereinstimmung zu treten. Als Gottes Eigentum ist er berufen, Gottes Ebenbild zu sein. Jesus hat den innersten und obersten Gedanken des Gesetzes ausgesprochen, als er dasselbe in das Wort zusammenfaßte: ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist, Matth. 5,48. Im Gesetz tritt Gott als Israels Vater auf und beruft es zur Ebenbildlichkeit mit ihm.
Mit heller Klarheit war Israel der Blick zu Gott empor aufgeschlossen worden. Die heidnische Verdunkelung und Verderbnis der Erinnerung an Gott war hier durchbrochen. „Der Einige und Ewige, der Allmächtige und unendlich Reiche ist dein Herr und Gott“: dies Wort war Israel eingepflanzt. Zu welchem Ziel und Ende wird diese Erkenntnis verwertet und benützt? Wem Gott sich bekannt macht, dem gibt er sein Gesetz. Zugleich mit der Offenbarung Gottes empfängt das Volk sein Gebot. Das Gesetzbuch ist das Dokument für diese einfache, aber überaus wichtige Thatsache, die über den Gang der ganzen Geschichte Israels entschieden hat und auf der alle folgenden Teile der Bibel sich auferbauen.
Nicht zum hohen Fluge der Erkenntnis wurde Israel berufen, daß es Gottes Herrlichkeit beschaue und sich in seine Geheimnisse vertiefe, auch nicht dazu, daß es in fröhlichem Genuß an der göttlichen Gabe und Güte sich erquicke und sein Leben mit festlicher Weihe umkleide. Die Regel, welche der Frömmigkeit Israels gegeben ward, lautet: „handle nach Gottes Sinn“. Die Kenntnis Gottes und das Thun seines Willens sind für immer untrennbar an einander geknüpft2).
Aber was ist Gottes Wille? Hierauf antwortet das Gesetz dadurch, daß es keinen Kreis des Volkslebens unberührt läßt. Es gibt gottesdienstliche Satzungen; doch besteht es nicht nur aus solchen. Mit großem Ernst gestaltet es auch das Rechtsleben des Volks, ferner alles das, was wir etwa soziales Leben nennen. Die Ehe und Familie, die Stellung der Knechte und Armen, Ackerbau, Erbrecht, Schuldverhältnisse, Krieg, Kleidung und Speise werden mit einzelnen Geboten berührt. Und neben der äußerlichen rechtlichen Leistung steht das Gebot, das auf die innerliche Gesinnung und die gute Herzensgestalt gerichtet ist. Schon die 10 Gebote, der grundlegende Anfang des Gesetzes, besitzen diese Allseitigkeit. Sie stellen die gottesdienstlichen Grundregeln auf, fügen aber zu denselben sofort die fundamentalen Rechtssätze für das menschliche Zusammenleben hinzu und stellen neben das Verbot der bösen That das zehnte Gebot, das in's Herz hinein spricht. Der Dienst, den Israel vor Gott zu üben hat, hört nirgends auf. Sein ganzes Leben wird zum Gottesdienst.
Hierin bewährt sich die Wahrheit der Offenbarung und Erkenntnis Gottes, die Israel verliehen war. Ist uns ein wahrhaftiger Gedanke an Gott geschenkt, so überstrahlt er alles andere. Er fordert „das ganze Herz, die ganze Seele und die ganze Kraft“. Man kann nicht nur ein Stück des Lebens für ihn absondern und reserviert halten. Alles wird ihm unterthan, alles heilig, alles Gottesdienst. Aber nicht dadurch sucht das Gesetz diese Allseitigkeit zu erreichen, daß es ein „System“ von allgemeinen Formeln und verdünnten „Grundsätzen“ aufstellte. Achtet man nur auf seine Form, so scheint es sehr lückenhaft. Es übernimmt zunächst die ganze natürliche Einrichtung des Volkes einfach wie sie war, und setzt deshalb an vielen Punkten voraus, daß jedermann ohne weiteres wisse, wie er sich hier oder dort zu verhalten hat. Es gibt nur bestimmte, einzelne Gebote; aber es stellt diese in die mannigfaltigsten Gebiete des Lebens hinein. So werden sie zu Beispielen, die viele ähnliche Verhältnisse und Handlungen beleuchten und regeln, so daß Israel dennoch auf Schritt und Tritt daran erinnert wird, daß es bei allem, was es thut, auf Gott zu achten und sich nach ihm zu richten hat.
Nun enthält das Gesetz aber nicht bloß Gebote, sondern auch Geschichten, und diese beiden Teile desselben stehen mit einander in engem Zusammenhang. Alle Sammlungen von Geboten gründen sich auf die Erlösung aus Ägypten. Dort hat Israel den Gott kennen gelernt, dem es dienen soll; von dort her ist es sein Eigentum. Aber noch weiter zurück greift das Gesetz, auf die Geschichte der Väter, ja auf die Schöpfung und Regierung der ersten Menschheit. Es zeigt uns Gott nicht nur als den gebietenden, sondern zuerst als den helfenden, gebenden, schaffenden.
Und zwar ist es das denkbar größte Bild göttlicher Fürsorge, das in der Erzählung vom Auszug aus Ägypten Israel vorgehalten ist. Das Volk ist in der Wüste ganz auf Gott geworfen und erhält alles aus Gottes Hand. Er rettet ihm das Leben vor seinen Bedrückern. Er ernährt es und gibt ihm Wasser, Fleisch und Brot. Er zeigt ihm den Weg und gibt ihm sein Land. Hieran soll Israel immer wieder ermessen, was sein Gott ist und thut. Indem die Erlebnisse in Ägypten zu Gottes Kennzeichen gemacht werden, wird Israel der Grund zu einem großen, völligen Vertrauen und zu einer lebendigen Hoffnung dargereicht. Zum selben Zwecke werden ihm die Geschichten der Erzväter vorgehalten. Gott ist's, der sie nach Kanaan führt; Gott verheißt und schenkt Abraham den Sohn, und leitet die Erzväter. Es wird Israel eingeschärft, daß es nur durch Gottes Berufung von den ihm stammverwandten Völkern unterschieden ist, daß es ganz und gar ein Werk Gottes ist und von ihm alles empfangen hat, was es besitzt.
Und an dieselbe Stelle, wo Gottes Güte und Hilfe sich offenbart und Israel zum Glauben und Hoffen erweckt, ist auch das Gebot gestellt. So sind Gottes Werk, das dem Volk zur Erlösung diente, und des Menschen Werk, das Gott zur Ehre dienen soll, mit einander wie Grund und Folge, wie Wurzel und Frucht verknüpft, und aller Gehorsam gegen das Gebot ist zum Erweis des Glaubens gemacht. Der erlösende Gott gibt das Gesetz. So hört der Gehorsam auf knechtisch zu sein, und wird dankbar und glaubensvoll.3)
Der große Bau des Gesetzbuchs ist nicht mit einemmale, sondern in mehrfachen Ansätzen und Erweiterungen zu Stande gekommen. Die Anzeichen sind unverkennbar, daß an der Aufzeichnung der Gesetze und der zu ihnen gehörenden Erzählungen manche Hände gearbeitet haben. Es lassen sich im wesentlichen drei Gruppen von Gesetzen unterscheiden. Die erste, 2 M. 21-234), die sofort an die zehn Gebote angehängt ist, hat vor allem die Rechtspflege im Auge. Sie gibt dem Richter an, wie er den natürlichen Verkehr des Volks zu regeln hat, und berührt nur mit einigen kurzgefaßten Satzungen auch das gottesdienstliche Gebiet. Die zweite an Umfang größte Gruppe von Gesetzen erstreckt sich vom Passagesetz 2 M. 12 bis zum Schluß des 4. Buchs.5) Hier wird vor allem der Gottesdienst genau ausgebildeten Regeln unterstellt, und auch wenn sich dieselben auf den natürlichen Verkehr beziehen, wird vorwiegend darauf geachtet, wie die Reinigkeit und Heiligkeit des Volks zu wahren sei. Diese Gesetze haben priesterliche Art. Wieder ein andrer Ton tritt im 5. Buche hervor, der an die Reden der Propheten erinnert. Von den gesetzlichen Ordnungen werden nur diejenigen gegeben, die jedes Glied des Volks berühren, und mit ihnen verbindet sich das ermahnende Wort, das die strenge Geschlossenheit der Gesetzessprache verläßt und ernst und warm auch die inwendige Seite der Gebote erschließt, wie sie in die Gesinnung und den Willen hineinreichen.
Auch die erzählenden Abschnitte sind ein Sammelwerk, in dem mehrere, früher gegen einander selbständige Erzählungsreihen mit einander verwoben sind. Deutlich wahrnehmbare Unterschiede, die in der Darstellungsweise beständig wiederkehren, lassen verschiedene Erzähler erkennen.6)
Es sind im wesentlichen drei ältere Bücher in einander gefügt. Die eine Erzählungsreihe, die am leichtesten erkennbar ist, hat mit den priesterlichen Gesetzen der mittlern Bücher ein Ganzes gebildet (a). Sie ist am vollständigsten erhalten, weil die Ordner des Gesetzbuch sie der Sammlung zu Grunde legten. Die beiden andern Erzählungsreihen sind unter sich weit inniger verschmolzen worden, wahrscheinlich schon ehe das große Gesetzbuch mit ihnen verbunden worden ist. Die eine hat einen mehr volkstümlichen Ton und ist nur unvollständig in's Gesetzbuch übergegangen (b). Die andere ( c ) hat man nicht ohne Grund „prophetisch“ genannt; denn sie stellt mit hell erleuchtetem Blick Gottes Handeln an den Menschen, der Menschen Sünde und Fall und Gottes Zucht und Gnade dar.7)