Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Das hohe Lied.

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Das hohe Lied.

Die Auslegung des Hohen Lieds hat besondere Schwierigkeiten. Wir müssen häufig schon den nächstliegenden Sinn der Sätze durch Vermutungen zu treffen suchen, und wenn es sich sodann um das Ziel des ganzen Buches und um seinen inwendigen Gehalt handelt, dann spalten sich die Auslegungen vollends zu großen Unterschieden.

„Das Lied der Lieder Salomos“, d. h. das schönste, die Krone unter allen seinen Liedern preist die Süßigkeit und Seligkeit der Ehe. Es spricht darin die eheliche Liebe, die nicht satt wird am Geliebten und sich seiner mit immer neuer Wonne freut. Deshalb besteht das Lied aus einer Kette von Gesängen, in denen abwechselnd jetzt das Weib und dann der Mann die Sehnsucht und Lust ihres Herzens aussprechen. In der Einheit und Harmonie der Freude in beiden steht das Glück des ehelichen Verbundenseins.

Das Weib hat im Liede einen Namen: es heißt Sulamith, 7,1. Aber wer ist ihr Geliebter? ist's Salomo oder ist's vielmehr im Gegensatz zum Könige ein Hirte? Und wie und warum erscheint Salomo im Lied?

In den ersten Versen sprechen Frauen ihre hingebende Bewunderung für Salomo aus. Des Königs Liebe ist nach ihrer Meinung das höchste, was einem Weibe zu teil werden kann. 1,2-4.

Nun spricht Sulamith. Sie ist von der Sonne verbrannt; denn ihre Brüder hießen sie den Weinberg hüten. Ihr Geliebter ist Hirte, und sie möchte gern wissen, wo er des Mittags rastet, und die Frauen heißen sie deshalb spöttisch, auch die Herde hinauszutreiben hinter ihm her. 1,5-8.

Sie hat ihn gefunden und im Wechselgespräch freuen sich beide an ihrer Schönheit und sie wacht über seinem Schlaf. 1, 9-2,7.

Nun kommt ihr Geliebter zu ihr. Er ruft sie hinaus ins Freie; denn der Frühling ist gekommen. 2, 8-17.

Aber er weilt nicht immer bei ihr. Sie hat ihn gesucht in der Nacht, und ob auch die Wächter nichts von ihm wußten, so fand sie ihn doch. 3,1-5.

Daneben hält Salomo seinen Hochzeitszug mit verschwenderischer Pracht. 3, 6-11.

Sulamiths Liebster dagegen preist die makellose Schönheit aller ihrer Glieder, und die Süßigkeit ihrer Liebe. Sie lädt ihn ein in ihren Garten und er kommt. 4,1-5, 1.

Der Geliebte kommt in der Nacht und sie öffnet ihm ihre Thüre; aber er eilt wieder weg, und sie will ihn suchen, und fällt in die Hände der Wächter, die sie schlagen, und bittet die Frauen Jerusalems, ihm zu sagen, daß sie krank von Liebe sei. Sie fragen nach ihrem Geliebten und sie beschreibt ihn in seiner Schönheit. Sie wollen ihr helfen zu suchen, aber sie weiß, daß er bei der Herde ist. 5, 2-6, 3.

Er preist nochmals ihre Schönheit, sie überstrahlt alle Königinnen. 6,4-10.

Sie kommt bei ihrem Gang in den Garten mit den Wagen der Vornehmen zusammen; aber sie entzieht sich ihrem Blick. 6, 11-7, 1.

Wieder preist ihr Geliebter den Reiz ihrer Erscheinung. Sie lädt ihn ein hinauszugehen ins Freie und dort wacht sie über seinem Schlaf. 7,2-8, 4.

Nun kommen beide miteinander von der Trift und Sulamith preist die unvergleichliche und unüberwindliche Macht der Liebe. Ihr kleines Schwesterlein bedarf noch Schutz. Aber sie ist stark und reich und beneidet selbst Salomo um seinen Reichtum nicht. Ihr Freund verlangt ihre Stimme zu hören und sie heißt ihn so flink wie ein Hirsch über die Berge fliehen. 8,5-14.

Ich halte es für künstlich, den Hirten mit Salomo gleichzumachen,1) und für ebenso künstlich, diese Lieder auf zwei Männerstimmen zu verteilen, so daß Salomo Sulamith von ihrem Hirten wegzulocken suchte, aber mit seinem Bemühen an ihrer Treue scheiterte, oder so, daß zwei Ehepaare abwechselnd redeten.2) Offenbar wird in dem Buche beständig auf Salomo hingeschaut, den die Frauen preisen, 1,2-4, der so herrlich Hochzeit hält, 3, 6-11, der 60 Königinnen hat, die doch über Sulamith bewundernd staunen, 6, 8-10, und einen Weinberg besitzt, der ihm Tausende einträgt, 8, 11. 12. Aber Salomos Pracht ist nur der Kontrast, der die Liebe Sulamiths erst recht nach ihrer Kraft und Seligkeit ins Licht setzt. Sie und ihr Hirte bedürfen, wenn sie einander haben, das alles nicht. Sie haben viel mehr. Ihre Liebe macht sie so reich und fröhlich, daß sie die Hand nicht ausstrecken nach dem, was Salomo besitzt.

Das Lied führt uns mit manchen anschaulichen Einzelzügen in die alte Zeit, und es wird nicht thöricht sein, den Bericht im Titel für eine gute Überlieferung zu halten und in Salomo den Verfasser zu sehen.3) Nach 1 K. 5, 12 war zwar der Weisheitsspruch die ihm am meisten entsprechende Art der Dichtung, doch so, daß er daneben auch oft und gern Sänger war, und das Hohelied steht wie Hiob dem Weisheitsspruch näher als dem Psalm. Es ist ein nachdenkliches Element in demselben, weit mehr als der syrische Schwung der unmittelbaren Herzensbewegung, und gerade der Kontrast, der zwischen Salomo und Sulamith mit ihrem Hirten durchgeführt wird, bringt einen lehrhaften Ton in das Buch. Es verkündigt, daß das Glück kein Kunst- und Kulturprodukt ist, so daß es der König machen könnte mit seinen Mitteln, daß es auf dem Boden reiner, unverdorbener Natur gesucht werden muß und gefunden wird, daß kein Genuß und keine Seligkeit auf Erden über das hinausgeht, was ein Mann dem Weibe, ein Weib dem Manne durch treue Liebe zu gewähren vermag. Soll diese Beobachtung Salomo unzugänglich gewesen sein? Dann wäre er nicht der Spruchdichter gewesen. Die Ablenkung von aller Künstelei zur Einfalt und zum dankbaren Genuß der Gabe Gottes ist ein wesentliches Stück der Spruchweisheit. Oder sollten wir es ungeziemend für den König achten, wenn er selbst dies auch ausgesprochen hat? Er brachte zum erstenmale nach Jerusalem den Glanz des Reichtums und der Kultur, und der Kontrast war augenfällig zwischen der neuen und der alten äußerlich ärmlichen Lebensweise. Diese Wandlung der Dinge konnte viele verwirren und ihre Begehrungen verderblich entzünden. Aber der König war nicht nur reich, sondern auch weise, und hat es seinem Volke zugerufen: ein Hirt mit Sulamith hat mehr als ich; wie glückliche Leute seid ihr doch in der Einfalt und Kraft eurer Liebe!

Auch wenn wir nur das offenbare Ziel des Buchs ins Auge fassen, wird nichts unreines in demselben zu finden sein. Es ist wahr: alle Heimlichkeiten und Süßigkeiten der Ehe werden dargestellt,4) doch nirgends roh. Die natürliche, leibliche Seite derselben tritt stark hervor. Wer unter uns ein hohes Lied auf die Ehe schriebe, der spräche viel von Herzens- und Geistesgemeinschaft rc. Hier ist der schöne Leib in der Pracht aller seiner Glieder die Gabe, mit der eins das andere glücklich macht. Aber der Menschenleib hat seine Schönheit eben auch von Gott. Und so wenig der 19. Psalm mit seiner Bewunderung für die Sonne der Bibel unwürdig ist, oder deshalb aus ihr entfernt werden muß, weil die Heiden jene Bewunderung in Anbetung verkehrten, ebensowenig ist das Hohelied mit seinem Lob des Menschenleibs und der Ehe ein Flecken für die Bibel und braucht deshalb nicht von ihr abgeschnitten zu werden, weil alte und neue Heiden daraus eine tierische Gier und Unsauberkeit zu machen pflegen. Im Hohen Lied handelt es sich nicht um wilden, eigensüchtig schrankenlosen Genuß, sondern um eine ehrliche rechtschaffene Ehe, wo die Liebe zur Treue sich verklärt.

Nun hat freilich zur Aufnahme des Hohen Lieds in die biblische Sammlung aller Wahrscheinlichkeit nach noch ein anderer Umstand mitgewirkt. Diese Lieder wurden geheiligt und gelesen nicht nur als ein Loblied auf die Ehe, auch nicht nur Salomos wegen, sondern weil sie von der irdischen auf die himmlische Liebe übertragen worden sind. Das Verlangen und Suchen, Haben und Genießen, das der Mensch in seinem Verkehr mit Gott erlebt, sei es daß er achtet auf die innerliche Empfindung seines Herzens, sei es daß er sich mit seinem Volke zusammenfaßt und an die Erlebnisse des Volkes denkt, ward zum Ausdruck gebracht mit den Worten des Schmerzes und des Jubels, welche Sulamith in ihre Ehe bringt.

Die prophetische Sprache lud dazu ein, die Gott als den treuen Gemahl des Volkes pries, und die Natur der Dinge begünstigte es. Denn die eheliche Liebe bewegt die natürliche Empfindung am kräftigsten und leiht darum auch den anderen und höheren Stufen der Liebe gern ihre Farben und Worte. Fragt man aber, ob das Lied von Anfang an, und seiner eigenen Absicht nach zu solch innerlichem geistlichem Gebrauch bestimmt und verfaßt gewesen sei, so wird hierauf mit Nein zu antworten sein. Dazu ist die Sprache und Erzählung des Buches doch zu realistisch, zu sehr einer wirklichen Ehe mit ihrer den Leib umfassenden Liebeslust angepaßt. Wer das Buch in dieser Art geistlich liest und braucht, der hat den alten Brauch der Judenschaft und Christenheit für sich, aber schwerlich den Sinn und die Meinung Salomos. Darum muß auch ein solcher Gebrauch des Buches in allen Fällen maßvoll bleiben. Es ist nicht jedes Wort und jeder Zug des Liedes so zu brauchen, denn dazu ist es eben nicht gemacht.

1)
Abgesehen davon, daß ein Hirte und der König doch nicht dasselbe sind; man erwäge den Schluß. Wie Sulamith mit dem Hirten von der Trift heimkommt, sagt sie wohlgemut: so reich Salomo ist, ich gönne ihm seinen Reichtum gern und tausche nicht mit ihm, 8, 11 u. 12. Und dieser Gedanke geht durchs ganze Buch und ist ein wesentlicher Teil desselben. Immer wieder wird betont, wie Sulamith und ihr Hirte zu ihren Glück nicht Reichtum noch Pracht bedürfen. Ihnen spendet die Natur ihre Schätze und sie wissen sich derselben zu freuen. Auch ihr Brautbett ist prächtig, aber es ist grün und die Bäume sind Wand und Dach dazu, 1, 16. 17. Auch Sulamith wird von ihrem Freund zum prächtigen Schauspiel geladen, nämlich: der Frühling ist gekommen und die Bäume schlagen aus, 2, 11 ff. 7, 12 ff. Schön ist's ein Hirte zu sein, denn man kann dabei Lilien pflücken, 6, 2, 3. Das Lied feiert nicht nur die Freude der Liebe, sondern zugleich auch den Genuß der Natur. Es geht etwas von dem durch das Buch, was Jesus ausgesprochen hat: in all seiner Herrlichkeit war Salomo nicht bekleidet wie eine dieser Lilien.
2)
„Drama“ ist nicht das richtige Wort, um die Art des Hohen Lieds zu bezeichnen. Es ist seinen Aufbau nach dem Buche Hiob sehr ähnlich. Ständen wie bei Hiob vor den einzelnen Liedern die Überschriften: „Da antwortete Sulamith und sprach“, so würde die Ähnlichkeit jedem in die Augen springen. Der Dichter hat sie weggelassen, weil hier der Wechsel der Lieder rascher und lebhafter ist und bis zur Wechselrede steigt. Auch ändert der Ort und die Umgebung der Lieder. Aber eine dramatische Handlung und Katastrophe liegt hier so wenig als bei Hiob vor. Wechsel kommt in die Liebe Sulamith's nur dadurch hinein, daß der Hirte nicht immer bei ihr weilen kann. So wechseln Genuß und Entbehrung und es fallen zwischen die Begegnungen die Zeiten des Verlangens und Suchens. Aber mit jeder neuen Zusammenkunft erwacht auch neu die Bewunderung und Freude der Liebe, und in dieser Wiederholung wird ihre Größe abgemalt und anschaulich gemacht, gerade wie Hiobs immer wiederholte Klage und Widerrede gegen seine Freunde die Größe seines Leidens zur Erscheinung bringt.
3)
Diejenigen, die in Salomo den abgewiesenen Bewerber um Sulamith sehn, müssen natürlich einen andern Verfasser für das Buch ansetzen, weil Salomo keine Ironie auf sich selbst gedichtet hat.
4)
Insofern hat die alte jüdische Regel, daß man das Buch nicht lese, ehe man dreißig sei, allerdings guten Sinn.
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