Quandt, Emil - Die Ruhestätten des Menschensohnes - 5. Das Pharisäerhaus zu Nain.

Quandt, Emil - Die Ruhestätten des Menschensohnes - 5. Das Pharisäerhaus zu Nain.

Ev. Lukas 7,14.
Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sage an.

Wenn es aller Wahrscheinlichkeit nach das Haus Simons war, in welchem des Menschen Sohn zu Kapernaum wohnte, so treffen wir nach dem Bericht des Evangelisten Lukas in seinem siebenten Kapitel den Herrn zwar wieder in dem Haus eines Simon an, aber eines andern Simon, der nicht zu Kapernaum, sondern in einer andern galiläischen Stadt - es scheint Nain gewesen zu sein, wo der Herr den Jüngling von den Toten auferweckt hatte - seinen Wohnsitz hatte. Dort ein Simonshaus und hier ein Simonshaus, aber wie verschieden beide Häuser! Dort ein Jünger, hier ein Pharisäer; dort wohnte der Heiland, hier war er nur zu Gast. Ja, man kann denselben Namen führen und denselben Heiland im Haus haben, und doch es kann ein Unterschied sein wie zwischen Sommer und Winter, wie zwischen Tag und Nacht. Ach, wie wenige Häuser unter denen, die noch auf den Christennamen etwas geben, gleichen denn heutzutage jenem Simonshaus zu Kapernaum, wo Jesus Christus als König, Prophet und Hoherpriester anerkannt, angenommen, angebetet wird? Die meisten gleichen dem Simonshaus von Nain: der Herr ist wohl darinnen, aber nur als ein flüchtiger Gast, eingeladen weil es gerade Mode ist, den Rabbi von Nazareth bei sich zu Tisch zu haben; ziemlich rücksichtslos behandelt, weil der Verstand in ihm nur und kaum einen großen Lehrer sieht; endlich gar verscheucht durch den Hochmut der Werkgerechtigkeit, die keine Ahnung davon hat, dass es keinen andern Weg der Wahrheit zum ewigen Leben gibt als Jesum Christum. Es ist nun wohl angenehmer, solche Häuser zu schildern und zu betrachten, wie jenes Simonshaus zu Kapernaum im Vorbild war, Häuser, in denen des Menschen Sohn Alles in Allem ist, Hütten Gottes unter den Menschen. Allein es kommt bei biblischen Meditationen von ferne nicht darauf an, dass wir unter allen Umständen uns etwas Angenehmes sagen lassen, sondern darauf, unter allen Umständen uns die Wahrheit zu Gemüt führen zu lassen, damit die Wahrheit uns frei mache. In Wahrheit aber gibt es viel mehr Simonshäuser wie das in Nain heutzutage als Simonshäuser wie das in Kapernaum. In vielen Christenhäusern unserer Tage ist Simon, der Mann der Mode, der Wirt, der Jesum einlädt, weil ihn Andre auch einladen; in andern Häusern ist Simon, der Mann des Verstandes, der Wirt, er heißt den Rabbi willkommen, aber den Mittler zwischen Gott und Menschen steht er bedenklich an; und noch in andern Häusern ist Simon, der Mann der eigenen Gerechtigkeit, der Hausherr, er will wohl von Jesu unterhalten, aber nicht von ihm begnadigt sein.

Es bat ihn der Pharisäer einer, dass er mit ihm äße. Ein Pharisäer bittet den Heiland zu Tisch, das erscheint von vorn herein auffällig. Die Pharisäer sind uns ja sonst aus der neutestamentlichen Geschichte bekannt als unbußfertige Söhne Abrahams, die mehr noch, als die andern Juden entfremdet waren von dem Heile, das aus Abrahams Samen kommen sollte; die darum den Wandel des Herrn auf Erden mit Misstrauen, Eifersucht und Feindschaft begleiteten, die am Ende die Anstifter seines bitteren Leidens und Sterbens auf Golgatha wurden. Wir verstehen es daher wohl, wenn des Menschen Sohn freundliche Einladungen erhält aus den Kreisen der Zöllner und Sünder; aber es erscheint uns befremdlich, dass dieser Simon, Einer aus dem Kreis der Widersacher, ihn zu Gast bittet. Das Rätsel löst sich indessen, wenn wir bedenken, dass die Einladung Simons noch in die erste Periode der messianischen Laufbahn Christi fällt. Damals schwebte der Name des Menschensohnes zwar schon auf vielen Zungen, aber die Pharisäer wussten noch nicht recht, was sie aus diesem vielberedeten jungen Nazarener machen sollten. Die Welt betet gern die aufgehende Sonne an, wer konnte wissen, wozu es dieser Nazarener noch bringen würde? So gehörte es damals auch bei den Pharisäern. noch zum guten Ton, den jugendlichen Lehrer, der so viel versprach, der so etwas Eigenes, Absonderliches, Ungewöhnliches an sich hatte, hin und wieder einzuladen; und Simon, indem er den Herrn in sein Haus lud, machte eben die Mode mit. Des Menschen Sohn aber schlug die Einladung des Mannes der Mode nicht aus. Es ist wahr, der Herr hat von Anfang bis zu Ende nie verhehlt, dass der Pharisäismus auf religiösem Boden eine Pflanze ist, die nicht von Gott gepflanzt ist; aber das große Wehe über die Pharisäer hat er doch erst dann ausgesprochen, als sie vom Misstrauen zum Hass, vom Hass zur Lästerung, von der Lästerung zur tödlichen Verfolgung fortgeschritten waren. So lange sie ihn noch einluden, ging er auch noch zu ihnen, damit er sie einlade ins Himmelreich. Denn gnädig und barmherzig ist unser Heiland, geduldig und von großer Güte. O unser Heiland ist viel weitherziger als manche seiner Jünger. Er geht nicht bloß dahin, wo er gewiss sein kann, Gleichgesinnte zu finden; nein, er geht überall hin; wo sich nur irgendwo ihm eine Tür auftut, um überall ihrer Etliche zu gewinnen und selig zu machen. So kommt denn der Herr Jesus auch in Simons Haus; aber siehe, kaum ist er eingetreten, so zieht er eine arme Sünderin hinterdrein, wie der Magnet ein Eisenteilchen. Denn also pflegt es zu gehen; wo man mit dem Heiland irgendwelche Verbindungen anknüpft, da ergeben sich immer auch sofort allerlei Berührungen mit Zöllnern und mit Magdalenen; sie bilden ein für alle Mal das Gefolge des großen Herzogs der Seligkeit. Doch das ist nun ganz und gar nicht Simons Meinung, mit armen Sündern gemeinschaftliche Sache zu machen. Er will des Menschen Sohn einmal bei sich haben, weil ihn Andere auch zu sich einladen. Aber dass solche Einladung allerlei unliebsame Konsequenzen nach sich ziehen würde, fällt ihm erst ein, als es geschehen ist. Ein Gefühl des Unbehagens und Unwillens beschleicht ihn, als er eine Magdalena über seine Schwelle treten sieht; und er bereut es schmerzlich, den Nazarener zu sich gebeten zu haben. Der Heiland aber sucht ihn in der allersanftmütigsten Weise eines Besseren zu belehren. Simon, ich habe dir etwas zu sagen, spricht er, und sagt ihm das Evangelium.

Ein Spiegelbild für das Modechristentum unserer Tage. Nicht zu allen Zeiten, nicht in allen Gegenden, nicht in allen Kreisen ist die Feindschaft wider den Sohn Gottes und der Jungfrau von gleicher Stärke. Es hat auf der Neige des vorigen Jahrhunderts eine Zeit gegeben, wo es in der gebildeten Gesellschaft zum guten Ton gehörte, über das Evangelium von Jesu Christo vornehm zu schweigen und über die Vergebung der Sünden in Christi Blut und Wunden frivol zu lächeln, während die einfacheren Bürgers- und Bauersleute noch in altväterlicher Treue und frommer Einfalt an der Kirche, an der Bibel, an dem Christenglauben festhielten. Man erlangte wohl in den höheren Kreisen der Gesellschaft damals viel eher Verzeihung für gewisse offenbare Sünden, die man noble Passionen nannte, als für das Bekenntnis zum Glauben an den dreieinigen Gott. Hier und da steht es ja noch so, aber im Ganzen und Großen haben sich die Zeiten gewandelt. Man ist ernster geworden auf den Höhen, und leichtfertiger in den Niederungen. Die Schrecken grauenvoller Revolutionen haben den Tatbeweis geliefert, dass, wenn die Altäre schwanken, auch die Throne zittern; dass, wenn der höchste Adel, den es auf Erden gibt, der Adel der Wiedergeburt, verspottet und verhöhnt wird, auch der Adel der hohen Geburt ins Gemeine gezogen wird. Daher während der Unglaube und die Verachtung der Heiligtümer von oben nach unten geflossen sind und heutzutage weite, ach so weite Kreise des Mittelstandes und der unteren Stände durchdrungen haben als ein böser, böser Sauerteig: herrscht im Allgemeinen in den oberen Schichten der Gesellschaft eine mehr oder minder bedeutende Anlehnung an das Kreuz von Golgatha als an denjenigen Felsen, an dem die Wogen der modernen Weltbewegung abprallen müssen. Es ist nichts Auffälliges mehr heutzutage, neben den Klassikern auch das Buch von Jesu Christo auf dem Bücherbrett zu haben; es macht kein Gerede mehr, ein Tischgebet zu halten. O es soll der große Gott ja tausendmal dafür gepriesen sein; unser Jahrhundert hat uns wieder Könige gezeigt, die ihre goldene Krone dem König in der Dornenkrone zu Füßen legten; Staatsmänner, die ihre Knie beugten vor dem Mann, dessen Reich nicht von dieser Welt ist; Künstler, die ihre Harfen schlugen für das Lamm, das unsere Sünde trug; Edelfrauen, die Samariterdienst getan bis in den Tod an Kranken und Verkommenen. Nicht dass wir sie darüber loben, das sei ferne; Christen loben sich nicht, aber sie lieben sich und preisen den großen Gott und Heiland, der ein gnadenvolles Auge hat nicht nur für das Scherflein der armen Witwe, sondern auch für das Gold, den Weihrauch und die Myrrhen der Weisen und der Reichen. Doch können, dürfen wir es uns verhehlen, dass neben den lichten Erscheinungen eines lauteren, herzlichen, früchtereichen Christentums in unseren Tagen die traurige und jammervolle Erscheinung eines leeren, gehaltlosen, unfruchtbaren, konventionellen Christentums nebenher geht? O wenn Menschen schwiegen, die Steine würden reden, die Steine jener Häuser, in denen Alles Welt ist vom Dach bis zum Fundament, Welt das Tichten und Trachten, Welt das Leben und Lesen, Welt das Tun und Lassen, und in denen doch Jesus Christus auch ein geladener Gast ist, wie weiland im Haus Simonis. Man geht zur Kirche, aber nicht ins Kämmerlein; man hört das Evangelium, aber man gehorcht ihm nicht; man hat eine christliche Färbung, aber keine christliche Weihe. Man gibt sich einer gewissen Rührung hin bei Predigten von Jesu Christo, aber man hat tags zuvor mit ganzer Seele einem Lustspiel applaudiert. „Ich gestehe“, sagte einmal ein Pastor zu einer vornehmen Dame, die ebenso regelmäßig das Theater, wie die Kirche besuchte, „ich gestehe, dass es mir schlechterdings unbegreiflich ist, wie Sie so Widerstrebendes vereinigen.“ „Das können Sie auch nicht begreifen, Herr Pastor“, lautete die im freundlichsten Ton von der Welt gegebene Antwort, „weil Sie nicht in unseren Standesgefühlen aufgewachsen sind; aber ich versichere Sie, dass sich bei uns so etwas sehr gut vereinigen lässt!“ Die gläubigen Prediger mögen eben predigen, aber sie dürfen nicht seelsorgerlich genieren. Am allerwenigsten dürfen sie eine Gemeinschaft anzubahnen suchen mit dem Gefolge des Menschensohnes, mit den Zöllnern und Magdalenen. Es muss alles Phrase bleiben, die Religion des Kreuzes wird zu einer Arabeske des Hauses. Diese ästhetische Art von Christentum ist wie eine Papierblume, nimmt sich manchmal ganz angenehm aus und ist doch ohne Saft und Kraft, etwas Nachgemachtes, Wertloses, Totes. Man belügt mit diesem Christentum sich selbst, vielleicht auch andere Menschen, aber wahrhaftig nicht den allwissenden Gott, der Augen hat wie Feuerflammen. Man kommt mit diesem Christentum vielleicht durch das Leben, aber nicht durch das Sterben, vielleicht vorwärts durch die Welt, aber nicht aufwärts über die Welt, nicht in den Himmel, nicht in die Seligkeit.

Simon, ich habe dir etwas zu sagen, spricht der Heiland, und er sagt ihm und Allen, die wie Simon stehen: Wer an mich nicht glaubt wie eine Magdalena, wer mich nicht liebt wie Magdalena, der wird auch nicht selig wie Magdalena. Irrt euch nicht; Gott lässt sich nimmermehr spotten. Der sich seinen Sohn vom Herzen gerissen und ihn für uns dahingegeben hat, lässt sich nicht mit ein paar frommen, wohlfeilen Redensarten abspeisen. Wer ihm das Herz nicht gibt, dem gibt er nicht den Himmel; und wer zu vornehm ist, vor dem Sohne Gottes die Knie zu beugen und zu beten: „Herr, erbarme Dich“, der ist ihm zu gemein. Schlage an deine Brust, werter. Leser, und neige dein Haupt! Es ist genug, dass du die vergangenen Tage deines Lebens versäumt, vertändelt, verschleudert hast mit einem Christentum des Scheins; heut' lebst du, heut' bekehre dich, eh' morgen kommt, kann's ändern sich!

Es bat ihn der Pharisäer einer, dass er mit ihm äße. Die Pharisäer waren Menschen mit einem sehr kleinen Herzen und einem sehr großen Verstand. Auch Simon war ein sehr verständiger Mann. Jesus von Nazareth, so rationalisierte er, predigt gewaltig und nicht wie wir Schriftgelehrten, er ist also höchst wahrscheinlich ein Lehrer von Gott gekommen, so etwas wie ein Prophet, von dem sich lernen lässt. Man muss ihn also einmal einladen. Doch ist er noch nicht legitimiert als ein Prophet, die geistlichen Behörden haben ihn noch nicht anerkannt, überdies ist er ziemlich dunkler Herkunft, aus Nazareth, und was kann aus Nazareth Gutes kommen? Man darf sich also auch nicht überstürzen mit dem Mann, man muss vorsichtig sein, dass man nicht zu viel tue. Ein wenig Geiz und Gebundenheit an die Dinge dieser Erde kam auch wohl dazu. Darum lädt er Jesum zwar ein, aber bewillkommnet ihn nicht einmal mit den gewöhnlichen Gastehren, wie sie im Morgenland gebräuchlich waren. Keine Fußwaschung, keinen Kuss zum Willkommen, keine Salbung hat er für den geladenen Gast bei seinem Eintritt übrig. Da tritt Maria Magdalena ein, eine große, aber eine begnadigte Sünderin, und macht die Versäumnis des verständigen Pharisäers durch überschwängliche Herzlichkeit gut. Simon hatte kein Wasser gegeben, Magdalena gibt das kostbarste Wasser der Erde, ihre Tränen, und trocknet die genässten Füße des Herrn, da das Linnen fehlt, mit den aufgelösten Haaren ihres Hauptes. Simon hatte für den Mund seines Gasts keinen Kuss gehabt, Magdalena küsst dem Herrn in tiefster Demut die Füße. Simon hatte kein Öl hergegeben, das Haupt des Menschensohnes zu salben; Magdalena salbt den Herrn mit köstlicher Narde. Der Pharisäer sieht es, und es ist ihm ärgerlich. Die Tränen der Sünderin sind ihm lästig, ihre Narde hat ihm widerlichen Geruch. Denn nicht den Heiland der Sünder sieht er in seinem Gast, sondern nur einen gelehrten Meister; und er kann es nicht verstehen, wie Jesus, wenn er wirklich das ist, wozu der Ruf ihn macht, ein göttlich erleuchteter Mann, solche Überschwänglichkeiten von solch einer Sünderin ruhig hinnimmt. Der Heiland aber setzt dem Pharisäer in schlagender Gleichnisrede auseinander, dass Simon Unrecht, und Magdalena Recht habe, dass Er, der Heiland, allerdings Anspruch habe auf die Tränen und auf die Narde der Sünder als der große Erlöser, der Macht hat auf Erden die Sünde zu vergeben.

Es gibt nun in der Christenheit unserer Tage der Häuser nicht wenige, die darin dem Haus Simons gleichen, dass der Heiland in ihnen nur als Rabbi, als erleuchteter Mann, als ein großer Weiser erkannt und anerkannt wird, nicht aber als der Erlöser von Sünde, Tod und Teufel, nicht als der Mittler zwischen Gott und Menschen. Der Rationalismus, das Christentum des herzlosen Verstandes, hat weite Gebiete heutzutage inne, da man die Geister mit dem Marktgewicht wägt und die Tiefe des Reichtums beide der Weisheit und Erkenntnis Gottes mit seinem superklugen Einmaleins herausrechnen will. Man hat eine gewisse äußerliche Achtung und Ehrfurcht vor „Jesus von Nazareth“; man nennt ihn den Weisesten der Weisen, den großen Lehrer der Völker, die schönste Blüte der Menschheit, und man verehrt seine Aussprüche, wohlgemerkt nachdem man sie von Allem, was an Geheimnisse erinnert, entleert hat, als goldene Regeln des Lebens. Nur dass sich Niemand unterstehe, von Christi Wunden, von Christi Wundern zu reden; und dass er auferstanden sei von den Toten und dass er wiederkommen werde zu richten die Lebendigen und die Toten, belächelt man als Kindermärchen. Darum kann man denn nichts weniger ertragen als ein Magdalenen-Christentum. Wenn arme Sünder die Vergebung ihrer Schuld in Christi Blut und Wunden suchen, wenn sie durch seine Huld begnadigt ihm Halleluja singen, wenn sie seiner milden Majestät Tränen dankbarer Liebe weihen, wenn sie ihr armes Leben als Opfernarde ihm verduften lassen: das kann und darf nicht mit rechten Dingen zugehen, das sind für verständige Leute pietistische Torheiten, orthodoxe Ungeheuerlichkeiten, leere oder heuchlerische Phrasen überspannter Naturen, gegen die in bitterster Feindschaft auf Tod und Leben zu kämpfen ihnen als eine heilige Pflicht gilt. Simon und Magdalena, wie damals, so auch jetzt noch oft in einem und demselben Haus: der Mann dem Herrn Jesu gegenüber in kühler, reservierter Stellung, die Frau hingegossen in liebeselige Andacht vor dem Gekreuzigten und Auferstandenen; über die Sterne auf seligen Bahnen eilt ihr frommes, geflügeltes Ahnen siegreich dem grübelnden Mann voran. Simon und Magdalena, oft in einer und derselben Kirche durch die Diener des Wortes vertreten; der Eine predigt, dass Jesus der Sohn Josephs sei und ein Mann wie andere Männer, nur der beste und größte unter ihnen; der Andere predigt, dass Jesus Christus der Sohn des lebendigen Gottes sei, in dem Gott und die Menschheit in Einem vereint und alle vollkommene Fülle erscheinet. Simon und Magdalena, vielfach auch geschieden durch Wand und Mauern; dein Haus, o Menschenkind, dessen Auge jetzt über diese Zeilen fliegt, vielleicht ein Simonshaus, das den Herrn Jesum nur selten empfängt und bei seinem Empfang ihn so kalt, so gleichgültig grüßt; und dein Nachbarhaus vielleicht ein Marienhaus, in welchem bußfertige Sünder das Erbarmen des Gottmenschen Morgens, Mittags und Abends preisen in Psalmen und Lobgesängen.

Simon, ich habe dir etwas zu sagen, spricht der Heiland. O schon die Weisheit dieser Welt, wenn sie nur ein wenig ernst und tief ist, hat dem rationalistischen Christentum so Manches zu sagen, hat ihm zu sagen: „Es gibt zwischen Himmel und Erde allerlei Dinge, von denen der Verstand der Verständigen sich nichts träumen lässt“; hat ihm zu sagen: „Man versteht ein Ding nicht eher, bis man es liebt;“ hat ihm zu sagen: „Menschenwitz ist kein nütz, Gottes Geist Alles leist“. Der Heiland aber in seinem biblischen Wort sagt: „Ich preise Dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, dass Du solches den Weisen und Klugen verborgen hast, und hast es den Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn es ist also wohlgefällig gewesen vor Dir. Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und Niemand kennt den Sohn, denn nur der Vater; und Niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn, und wem der Sohn es will offenbaren. Kommt her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ Ev. Matth. 11,25-30. Gott walte es, dass des Verstandeschristentum, das unendlichen Bedürfnissen vergeblich mit dem Maß der Elle gerecht zu werden sucht, je länger desto mehr dem Herzenschristentum weiche! Nicht Reflexionen und Philosopheme, sondern nur der Glaube macht selig, der Glaube, der mit Maria Magdalena die Sündenvergebung in Jesu Christo erbittet, erhält und bewahrt.

Es erübrigt uns noch in Erwägung zu ziehen, wie das, was Lukas uns von dem Haus Simonis erzählt, öfters von römisch-katholischer Seite missbraucht worden ist zur Stütze für die Irrlehre von der Werkgerechtigkeit. Wenn nämlich des Menschen Sohn, auf Maria Magdalena weisend, sagt: „Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt“, so führen die Papisten diesen Spruch gerne wider die evangelische Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein an, die Paulus lehrt, da er sagt Röm. 3,28: „So halten wir nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“, und die die teuren Reformatoren zu den Zeiten der glorreichen Kirchenverbesserung wieder auf den Leuchter gestellt haben. Vergebung der Sünden, sagen die Römlinge, wird nicht durch den Glauben an und für sich erlangt, sondern durch die Liebe der Gläubigen; dafür ist, sprechen sie, gerade Maria Magdalena ein leuchtendes Vorbild. Allein wie verkehrt eine solche Deutung ist, geht sonnenklar aus dem Gleichnis hervor, dessen sich der Herr bedient. Der Herr nennt sich einen Gläubiger, dem nicht nur Maria Magdalena, sondern auch Simon als Schuldner verpflichtet seien. Simon ist ihm fünfzig Groschen, die große Sünderin ist ihm fünfhundert Groschen schuldig. Simon schuldet nur fünfzig Groschen. Der Ruhm soll dem Pharisäer nicht geschmälert werden, dass er ein ehrbarer Mann ist, der, mit dem Maße bürgerlicher Gerechtigkeit gemessen, wohl bestehen mag, der nicht in so grobe Sünden gefallen ist, wie das arme Weib, das heute über seine Schwelle getreten ist. Allein verschuldet, schuldig ist auch Simon; schenken, schenken muss der große Gläubiger die Schuld auch ihm, wenn er nicht ins Gefängnis wandern soll. Denn bezahlen, was sie schuldig sind, können sie alle beide nicht, Simon ebenso wenig als Maria Magdalena, die sogenannten ehrbaren Leute ebenso wenig als die offenbaren, groben und großen Sünder. Gibt es aber für keinen Sünder, auch nicht für den ehrbarsten und bürgerlich unbescholtensten Sünder, Heil und Seligkeit, außer wenn Jesus Christus ihm seine Schuld schenkt, so ist das über allen Zweifel erhaben, dass es vor dem Herrn verdienstliche Liebe überhaupt nicht geben kann. Aber, so fragt wohl der Verstand, was heißt denn das Wörtlein „denn“ in der Versicherung des Menschensohnes: „Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt!“? Ja, wir müssen dazu nehmen, was dicht dahinter steht: „Welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Die Vergebung geht voran, und die Liebe folgt. Magdalena hatte für ihre vielen und großen Sünden bei dem Herrn Vergebung gesucht und gefunden, darum bewies sie ihm nun in ihrer Salbung so große Liebe; aber wahrhaftig - sie dachte nicht im Traum dabei an verdienstliche Liebe, sondern sie leistete ohne den leisesten Anspruch auf Verdienst dienende Liebe. Der verkehrte Sinn der hoffärtigen Menschen, die in Simons Haus splitter-richtend auf ihre Liebe niedersahen, konnte sie für einen Augenblick etwa beirren. Darum wiederholt der barmherzige Herr, um jeden Zweifel im Keim zu unterdrücken, seine ihr schon früher gegebene hohepriesterliche Absolution und sagt: „Dir sind deine Sünden vergeben - sie sind vergeben und sollen vergeben bleiben, und ob scheelsüchtige Menschen ihrer nicht vergessen können, ich, ich will ihrer in Ewigkeit nicht gedenken - dein Glaube (man merke doch: dein Glaube! nicht deine Liebe) hat dir geholfen, gehe hin in Frieden!“

Aber Simon, der Schuldner von fünfzig Groschen? Hatte er denn wirklich nur eine so kleine Schuld? O nein, o nein; der Herr geht nur auf des Pharisäers Gedanken von der Sünde ein, um ihn zum Nachdenken zu reizen. Denn der Herr ist ein gar weiser Lehrer, der seine Schulkinder nicht eins wie das andere behandelt, sondern ein jegliches nach dem Maß seiner Eigentümlichkeit. Das war eben der Grund, weshalb Simon den Herrn so wenig liebte, weil er in dem Hochmut seines Standesvorurteils, in der Hoffart seiner Werkgerechtigkeit sich für einen Ausbund von Tugenden, für ein Ideal von Heiligkeit hielt, wenn sich der Schlechte mit Schlechteren vergleicht, gerät er ja so leicht in den Wahn, zu meinen, er sei ein Tugendheld. Da will des Menschen Sohn mit dem Gleichnis ihn nun ernüchtern; er soll in sich gehen und erkennen, dass, ob er auch vor Menschen den Ruhm eines Gerechten habe - die Pharisäer hatten großes Lob der Heiligkeit unter dem Volk, ähnlich wie Priester und Mönche unter dem katholischen Volk - er doch seinem Gott ebenso gut fünfhundert Groschen schuldet, wie jenes arme, von ihm bisher so verachtete Weib aus Magdala. Denn wahrlich - nicht bloß die groben Übertretungen des göttlichen Gesetzes sind Übertretungen, sondern auch die feineren Sünden, die in den verborgenen Kammern des Herzens ihre geheimen Schlupfwinkel haben, auch die Sünden unausgesprochener Gefühle und Gedanken. Denn so Gott will Sünde zurechnen, so ist kein Fleisch vor ihm gerecht, und auch ein Simon kann dem Richter der gerechten Rache auf tausend nicht eins antworten. Hätte Simon das erkannt, hätte er erkannt, dass trotz seiner äußerlichen Ehrbarkeit auch seiner Sünden mehr waren, als die Wassertropfen im See Genezareth, als die Haare auf seinem eigenen Haupt: dann würde er wie die große Sünderin sich umgeschaut haben nach dem Heiland Gottes, der da Macht hat, auch blutrote Sünde schneeweiß zu machen, dann würde er vor ihm niedergefallen sein und gebetet haben: „Christe, Du Lamm Gottes, der Du trägst die Sünde der Welt, erbarme Dich meiner!“ und der Herr würde ihn begnadigt haben, gleichwie er Maria Magdalena begnadigte. Dahin wollte der Herr den Mann führen; ob Simon sich dahin hat führen lassen? Wir wissen es nicht.

Aber das wissen wir, dass es solche werkgerechten Häuser, wie das Haus Simonis eines war, als des Menschen Sohn zu ihm einging, auch heute noch gibt; Häuser, in denen jedes Glied der Familie einen hohen Begriff von seiner eigenen Vortrefflichkeit, und Liebenswürdigkeit hat; Häuser, in denen die eigene Gerechtigkeit sich so breit macht, dass für die Gerechtigkeit Jesu Christi kein Plätzlein übrig bleibt; Häuser, in denen man zwar auch auf die zukünftige Seligkeit rechnet, in denen man aber diese Seligkeit nicht ererben, sondern erwerben will. Mit dem Christentum des gesunden Menschenverstandes geht, eben weil dieser angebliche gesunde Verstand sehr krank ist, immer der Hochmut Hand in Hand, der mit seinen Tugenden sich brüstet; je weniger ein Mensch von Christo hält, desto mehr hält er von sich selbst; gute Rationalisten sind immer edle Leute in ihren eigenen Augen. Rationalismus aber und Katholizismus sind blutsverwandt, wenigstens in ihrer Schätzung der guten Werke und Verdienste der sündigen Menschen. Es geht aber leider auch durch manche Häuser der Evangelischen heutzutage, in denen sonst die Herrlichkeit des Sohnes Gottes gläubig erfasst ist, vielfach ein rationalisierender und katholisierender Zug der Werkgerechtigkeit. Man vermischt hier und da in bedenklicher Weise die Rechtfertigung und die Heiligung und meint, der Glaube allein könne unmöglich selig machen, sondern der Glaube und das fromme Leben zusammen bildeten den Grund der Seligkeit. Solche Anschauung hat den Schein größeren Ernstes und kann sich sehr unschuldig ausnehmen, ist aber die Quelle sehr trüber Fluten. Man sagt wohl: alle Wege führen nach Rom; dieser Weg aber führt am schnellsten nach Rom. Nein, so nötig die Heiligung ist und so ernst die Schrift alle Gläubigen dazu vermahnt, und so sehr man im Recht ist, sie solchen Gläubigen recht dringlich ins Gewissen zu schieben, die, auf den Lorbeeren ihrer Bekehrung ruhend, ohne Früchte des Geistes zu zeitigen dahinleben: so bleibt das sola fide doch in alle Ewigkeit in absolutem Wert; so sind wir doch aufs Heiligste verpflichtet, das große Palladium unserer Väter unbefleckt und unverkürzt auf unsere Kinder zu vererben, die heilsame Lehre, dass wir Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen mögen durch unser Verdienst, Werke und Genugtun, sondern dass wir Vergebung der Sünden bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden um Christi willen durch den Glauben, so wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird; denn diesen Glauben will Gott für Gerechtigkeit vor ihm halten und zurechnen, wie St. Paulus sagt zum Römer am 3. und 4. (Augsburg. Konfession. Vierter der Artikel des Glaubens und der Lehre.)

Der Grund, da ich mich gründe,
ist Christus und sein Blut;
das machet, dass ich finde
das ewge wahre Gut;
an mir und meinem Leben
ist nichts auf dieser Erd';
was Christus mir gegeben,
das ist der Liebe wert.

Die Kirche der Werkgerechtigkeit tut in unseren Tagen ihre geschmückten Hallen weiter auf als jemals und erfüllt dazu die Welt mit dem Geschrei, als ob die Tage des Protestantismus gezählt wären. Aber der Herr hat gesagt, dass Himmel und Erde vergehen werden, aber Sein Wort nicht; darum kann auch die Kirche Seines Wortes nicht vergehen; so lange Christus Christus bleibt, wird seine Kirche dauern. Doch müssen ihre Glieder treu sein im Festhalten des rechtfertigenden Glaubens, wenn sie Gnade finden sollen.

So darf denn Simon in keiner Gestalt in einem evangelischen Christenhause bleiben, wenn das Haus bleiben und Christus in dem Haus bleiben soll. Nicht nur das Modechristentum, nicht nur das rationalistische Christentum, sondern auch das katholisierende Christentum ist vom Übel. Was uns not tut für das Seligwerden, ist das Christentum der Maria Magdalena: da man sich an Jesus hält, nicht weil es andere Leute auch tun, sondern weil die arme Seele nach ihm schreit, wie der Hirsch nach frischem Wasser; da man in Jesu nicht nur einen Lehrer der Weisheit sieht, sondern das Wort, das Fleisch geworden ist, den Morgenglanz der Ewigkeit, das Licht vom unerschaffenen Licht, das in unsere Finsternis leuchtet und der Welt einen hellen Schein gibt; da man ihn liebt, nicht um ein Stücklein der Seligkeit sich dazu zu verdienen, sondern weil man es einfach nicht lassen kann, den wieder zu lieben, der sich für uns zu Tode geliebt hat. Wohlan, Simon verlasse unsere Häuser, Maria Magdalena aber bleibe, Jesum salbend, Jesum umfangend, so hilft uns unser Glaube, so leben, so sterben wir in Frieden. Das walte Gott!

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