Oehninger, Friedrich - Wahrheiten für unsere Tage - Unser Elend

Oehninger, Friedrich - Wahrheiten für unsere Tage - Unser Elend

Die Wurzel des evangelischen Glaubens der Reformatoren - das schärfste Bewusstsein von der Sünde, als dem ewigen Tod - ist der modernen Kulturwelt verloren gegangen.

Dagegen war Luthers erste These: Des Christen Leben soll eine beständige Buße sein. - Ebenso wie Luther und Calvin ist auch Zwingli tief in die Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit geführt worden; darum konnte er jedem auf den Leib rücken, weil er mit sich selbst in's Gericht gegangen war, und die Sündenerkenntnis und der Besserungsernst führten auch ihn auf's Heilsbedürfnis und auf die Gnadenpredigt. - Zwingli sagt: „Wer auf seine Frömmigkeit baut, der kennt sich selbst nicht; wer sich selbst nicht kennt, der kennt Gott nicht; wer Gott nicht kennt, der glaubt nicht; wer nicht glaubt, dem ist alles Sünde, was er tut.“ Tertullian sagt: „Ich bin mit jeder Art von Sünde gebrandmarkt und für nichts anderes geboren, als Buße zu tun und davon zu reden. Ergreife auch du die Buße, wie ein Schiffbrüchiger ein getreues Brett.“ - Und M. Hahn schrieb: „Wer sich elend fühlt, entweiche dem Licht nicht. Es muss alles geschieden werden, es stehe an, so lange es wolle. Muss uns nicht der Sünde Anfall in die wesentlichen Tugenden treiben und durch das Sündengefühl das Gegenteil in mir ausgeboren werden?“ - Die Lösung für ein abgewichenes Geschlecht ist nicht: Fortschritt, sondern Umkehr!

Unsere Zeit und ihre Philosophen sind zum Pessimismus geneigt, zu jener finsteren, trostlosen Weltanschauung, welche meint, es wäre besser, die Welt wäre nicht, und Nichtsein sei besser als Sein. Einer dieser Philosophen, Hartmann, hat in seiner „Philosophie des Unbewussten“ ein merkwürdiges Kapitel von 100 Seiten über das „Elend des Daseins“ geschrieben. Es sollte beim Kampf gegen diesen Pessimismus zugegeben werden, dass er viel Wahrheit enthält. Müssen wir doch nach dem Heidelberger Katechismus, um den wahren Trost im Leben und Sterben uns anzueignen, vor allem wissen, wie groß unsere Sünden und unser Elend ist. Auch Pascal erinnert daran, dass die Größe des Menschen in der Erkenntnis seines Elends bestehe. „Er ist elend, weil er es ist; aber er ist groß, weil er es weiß.“ Worin die neue trostlose Philosophie irrt, das ist hauptsächlich die Verkennung der Sünde als Ursprung des Elendes und das Nichtglauben an eine Erlösung aus dem Elend. Heutzutage ist die Meinung verbreitet, als ob das Unglück im Menschsein überhaupt liege und das Leiden naturwendig mit dem Existieren, dem Leben zusammenhänge. Damit steht die Zunahme des Selbstmordes in Verbindung. In betreff der Elenden, welche, um sich der richterlichen Strafe ihres verbrecherischen Treibens zu entziehen, sich selbst getötet haben, hört man im Publikum sagen: Die sind jetzt „fein heraus,“ nachdem sie das Leben genossen. Aber nicht, dass wir Menschen sind, macht unser Elend aus, sondern dass wir gefallene Menschen sind; wir sind gleichsam entthronte Fürsten. In der beständigen Sehnsucht, die den Menschen im irdischen Treiben im Grunde nie verlässt, ist ein Rest von Erinnerung an bessere Tage oder Zeitalter, ein Zeichen von ursprünglich höherer Bestimmung zu erblicken. Die glücklichsten Menschen sehen wir von jener Sehnsucht ergriffen. Man denke an jenes Lied Goethe's: „Der Du von dem Himmel bist, alles Leid und Schmerzen stillest, Den, der doppelt elend ist, doppelt mit Erquickung füllest, - ach, ich bin des Treibens müde! Was soll all der Schmerz, die Lust? Süßer Friede, komm, ach komm in meine Brust.“ Es ist eben alles eitel unter der Sonne! Tage eines Tagelöhners, ein Kriegsdienst, Knechtschaft des Verderbens, nennt die Schrift mit Recht den jetzigen Zustand auf Erden. Einer Fata Morgana gleich verspricht dem Anfänger die Zukunft goldene Schlösser, und er träumt von den Dithyramben1) des Mai und der Liebe. Man schmeichelt sich in das Leben hinein, aber das Leben schmeichelt uns nicht. Man kommt von allem zurück und sucht müde am Ufer des Lebens Ruhe. Es geht uns wie der Naemi: Voll zog ich aus, aber leer kam ich heim. Und ehe die Ruhe kommt, ist noch der letzte Feind, der Tod, zu bestehen. Nicht ohne Grund vergleicht Pascal unsere Lage mit der einer Anzahl von Menschen in Ketten, die zum Tod verurteilt sind. „Lächerlich ist es, sich auf die Gesellschaft derer zu verlassen, die unser Schicksal teilen; man wird allein sterben.“ An dem „Gehen auf dem Bauche,“ wo der Stolz sein Grab findet, wird das Gott gleichseinwollen zu Schanden. In den Gegensätzen gemeiner Furcht und sinnlicher Abhängigkeit und Niederträchtigkeit einerseits, und himmelstürmenden Stolzes, bewegt sich die Menschheit hin und her. Daher haben so viele Menschenkenner, wie z. B. A. Humboldt, damit geendet, dass sie die Menschen verachteten. Hamlet nennt den Menschen die Quintessenz des Staubes. Wie sehr der Mensch an einer inneren Krankheit leidet, zeigt der Umstand, dass er beständiger Zerstreuung durch Arbeit oder Genuss oder Besitz bedarf, um guter Dinge zu bleiben; sogar ein König ist ohne Zerstreuung ein unglücklicher Mensch. Und zahllos sind die „Athener, die zu nichts anderem aufgelegt sind, als etwas Neues zu sagen oder zu hören.“ (Apg. 17,21). - Die schreckliche und tödliche Langeweile, die das Geschlecht unserer Tage quält, ist nichts anderes als der Platz im Herzen, der von Gott lehr ist. - (Naville). Wie viel der Feigenblätter weiß die moderne Kultur zu schaffen, um die innere Blöße zu decken, - und doch kommt am Ende der Lebensekel auf! Der Philosoph Hartmann äußert sich darüber folgendermaßen: „Über der Arbeit tröstet sich der Mensch mit der Aussicht auf die Muße und über der Muße mit der Arbeit, wie der Kranke sich im Bette wendet. Auf dasselbe erbärmliche Dasein, dessen Eitelkeit man in jeder Hinsicht an sich selbst erfahren hat, setzt man für die Kinder die Hoffnung. Alt genug kommt man von dieser Illusion zurück, um bei den Enkeln und Urenkeln von vorn anzufangen.“ Den Charakter des Elendes tragen die Spitzen der menschlichen Gesellschaft am meisten. Man denke an die Nervenleiden, Erholungsbedürftigkeit rc. in den sogenannten „besseren Ständen“. Man bedenke folgende Schicksalsstatistik der 2540 Kaiser und Könige, die man gezählt hat. 15 Prozent starben gewaltsam, 36 Prozent haben sonst das Glück verloren, 300 wurden vom Thron gestoßen, 64 abgedankt, 24 endeten durch Selbstmord, 12 als geisteskrank, 25 starben infolge von Misshandlung, 100 fielen auf Schlachtfeldern, 108 wurden hingerichtet, 126 eingekerkert und 151 ermordet.

Es ist aber nicht in erster Linie das äußere Schicksal, sondern der innere geistige Zustand der Menschen, der sie elend macht. Sie sind in dem Widerspruch mit sich selbst, den der Apostel mit den Worten schildert: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; das Böse, das ich nicht will, das übe ich aus,“ und der heidnische Dichter Ovid also beschreibt: „Video meliora proboque, deteriora sequor“ 2) und: „Nitimur in vetitum semper cupimusque negata“ 3) Unter allen Menschen und Völkern herrschen dieselben Sünden und Schwachheiten: Zu viel essen und trinken, Faulheit und Ungeduld, Zanken mit den Seinigen, Untreue und Eitelkeit, Undank und Lüge, Feigheit und Menschenfurcht, sich selbst über alles lieben und seinem Nächsten tun, was man selbst nicht leiden mag. „Man muss blind sein,“ sagt Pascal in seinen „Gedanken,“ „um nicht zu wissen, dass man voll Stolz, Ehrgeiz, böser Lust, Schwäche und Ungerechtigkeit ist. Wie ist eine Religion zu schätzen, die unsre Natur so sehr kennt und so kräftige Gegenmittel dagegen verspricht.“

Welt und Natur und Menschen, wie sie dato sind, sind nicht normal. Das Bestehende ist nicht das Göttliche, wie Hegel meinte; zu viel Natur- und Vernunftwidriges spricht dagegen. Das Bestehende ist vielmehr der beständige Aufruhr gegen Gott. Es gibt einen „Brauch wider die Natur“, einen Konflikt des Menschen mit sich selbst, mit der Natur, mit der eigenen Leiblichkeit und mit der Schöpfung, der in Röm. 1 als Folge und Strafe der Gottlosigkeit, des Aufruhrs gegen den höchsten Willen erscheint. Das ist unser Elend, welches auch dem Naturlauf und den menschlichen Schicksalen aufgeprägt ist. Hieraus ist es zu verstehen, dass seiner Zeit Perthes an Steffens schrieb: „Schreiben Sie ein Buch, das den Wahn der Güte der Natur zertrümmert, durch Schilderung ihrer Schrecknisse und der Grausamkeit ihrer Einrichtungen und durch und durch gottlos ist für den Deisten4) und Rationalisten, welche des Menschen Fall und Erlösung leugnen.“

1)
Als Dithyrambus, auch Dithyrambos, wird seit der Antike ein griechisches, kultisches Chorlied oder Reigenlied bezeichnet, das zu Ehren des Gottes Dionysos vorgetragen wurde, wenngleich neben dem Weingott auch andere Götter oder Helden besungen wurden. Der Dithyrambus zeichnet sich durch eine ekstatische Ergriffenheit des Chores aus und wurde in einem Wechsel von Chor und Vorsänger vorgetragen.
2)
Das Bessere sehe ich wohl und billige es, aber dem Schlechten folge ich
3)
Was uns verboten ist, nach dem streben wir, und wünschen immer das, was uns versagt ist.
4)
Als Deismus (‚Gotteslehre‘, von lateinisch deus ‚Gott‘) bezeichnet man eine Religionsauffassung, nach der nur Vernunftgründe, nicht die Autorität einer Offenbarung, zur Legitimation theologischer Aussagen dienen können. Die deistischen Gottesvorstellungen sind allerdings sehr unterschiedlich. Im engeren Sinne sind Deisten diejenigen, die das Göttliche als „Ursprung alles Seienden“ annehmen, konkretes göttliches Eingreifen aber als „nicht begründbar“ ansehen. Im weiteren Sinne wird der Deismus als freidenkerische Glaubensströmung im Zeitalter der Aufklärung angesehen.
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