Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XIII. In seinem Erbarmen.

Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XIII. In seinem Erbarmen.

„Jesus sprach: Es jammert mich des Volks“ (Matth. 15,32). „Solltest du dich denn nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?“ (Matth. 18,33).

Zu drei verschiedenen Malen erzählt uns Matthäus, dass es den HErrn des Volkes gejammert habe. Sein ganzes Leben war der Ausdruck des Erbarmens, womit Er von Ewigkeit her auf die Sünder geschaut hatte, und des Mitleidens, das Ihn beim Anblick ihres Elends und Jammers bewegte. Hierin war Er das genaue Ebenbild unsres barmherzigen Gottes, des Vaters, der voll Erbarmen gegen seinen verlorenen Sohn, demselben um den Hals fiel und ihn küsste.

Wenn wir das Erbarmen des Herrn Jesu ansehen, so wird es uns klar, dass Er den Willen des Vaters, den Er auszuführen gekommen war, nicht als eine Ihm auferlegte Pflicht oder Last ansah, sondern dass dieser göttliche Wille in Ihm wohnte als sein eigener Wille, der Ihn bei allen seinen Gefühlen und Handlungen leitete und regierte. Nachdem Er gesagt hatte: „Ich bin vom Himmel gekommen, nicht, dass ich meinen Willen tue, sondern des, der mich gesandt hat“, fügte Er alsbald hinzu: „Das ist der Wille des Vaters, dass ich nichts verliere von allem, das Er mir gegeben hat, sondern dass ich es auferwecke am jüngsten Tage.“ „Das ist der Wille des, der mich gesandt hat, dass wer an den Sohn glaubt, habe das ewige Leben.“

Der Wille Gottes bestand für den Herrn Jesum nicht in Verboten oder Befehlen. Nein, Er hatte den innersten Kern des Willens Gottes erfasst, der darin besteht, dass Er verlorenen Sündern das ewige Leben gebe. Weil Gott selbst die Liebe ist, deshalb ist es sein Wille, dass die Liebe in der Erlösung der Sünder freien Spielraum habe. Jesus kam auf Erden, um diesen Willen Gottes zu verkündigen und zu erfüllen. Und Er tat dies nicht als ein Knecht, der dem Willen eines Fremden gehorcht. Nein, in seinem persönlichen Leben und in allen seinen Bewegungen bewies Er es, dass der liebevolle Wille des Vaters, die Sünder zu erlösen, auch der seinige sei. Nicht bloß durch seinen Tod auf Golgatha, nein, ebenso sehr durch das Erbarmen, womit Er die Not aller Elenden auf sich nahm, und durch die Zartheit, womit Er mit ihnen umging, hat Er es bewiesen, dass des Vaters Wille in der Tat sein eigener geworden war. Auf jegliche Weise zeigte er, dass das Leben Ihm nur deshalb von Wert war, weil Er dadurch Gelegenheit bekam, des Vaters Willen zu tun.

Geliebte Nachfolger Jesu Christi, die ihr euch dargegeben habt, Ihm ähnlich zu werden, lasst den Willen des Vaters euch ebenso wichtig sein, wie er es eurem HErrn war. Der Wille des Vaters in der Sendung seines Sohnes war die Offenbarung und der Sieg des göttlichen Erbarmens in der Erlösung verlorener Sünder. Jesus konnte diesen Willen unmöglich erfüllen, ohne von dem gleichen Erbarmen beseelt zu sein.

Gottes Wille an uns wie an Jesum ist: die Rettung der Verlorenen. Auch uns ist es unmöglich, diesen Willen zu erfüllen, es sei denn, dass wir das Erbarmen unseres Gottes in uns wohnen haben, und es durch unser Leben kund tun. Auch für uns darf der Wille Gottes nicht allein darin bestehen, dass wir gewissen Dingen entsagen, welche Gott verbietet, und gewisse Werke tun, welche Er gebietet, sondern hauptsächlich darin, dass wir uns dazu hergeben, dieselbe Gesinnung wie Jesus gegen Sünder zu haben und zu beweisen, und dass wir darin unsere Freude finden, uns ihrer anzunehmen. Indem wir uns persönlich hingeben für jeden armen, dem Verderben entgegengehenden Sünder, mit welchem wir in Berührung kommen, und indem wir in erbarmender Liebe ihm zurecht zu helfen suchen, können wir es an den Tag legen, dass der Wille Gottes in der Tat der unsrige geworden ist. Wenn der barmherzige Gott unser Vater, wenn Jesus, den so oft des Volks jammerte, unser Leben ist, dann ist wohl kein Gebot mehr gerechtfertigt, als dasjenige, dass barmherzige Liebe das Leben eines jeden Christen kennzeichnen müsse.

Erbarmen ist das Gefühl, das beim Anblick von Not und Elend erweckt wird. Wie viel Gelegenheit bietet sich doch Tag für Tag zur Ausübung dieser himmlischen Tugend, und wie notwendig ist sie in einer Welt, so voll von Jammer und Sünde, wie die unsrige! Jeder Christ sollte es sich angelegen sein lassen, durch Gebet und treue Übung danach zu trachten, als eines der köstlichsten Merkmale der Ähnlichkeit mit dem geliebten Meister, ein erbarmendes Herz zu bekommen. Die ewige Liebe sehnt sich danach, sich einer verlorenen Welt mitteilen zu können, und ihre Befriedigung in der Errettung der Sünder zu finden. Sie sucht nach Gefäßen, die sie mit Liebe erfüllen und dann unter die Sterbenden senden könnte, damit dieselben trinken und ewiglich leben möchten. Sie verlangt nach Herzen, denen sie ihr zartes Erbarmen beim Anblick all des Elends der Sünder mitteilen könnte, Herzen, die es als ihre höchste Seligkeit schätzen, die Vermittler des Erbarmens Gottes zu sein, und deren Lebenszweck es wäre, Rettungswerkzeuge für Sünder zu werden. O mein Bruder, die ewige Barmherzigkeit, welche sich deiner erbarmte, lädt dich ein, als Einer, der selbst Barmherzigkeit erlangt hat, zu kommen, um dich von ihr füllen zu lassen. Dies wird dich tüchtig machen, durch dein Erbarmen gegen deine ganze Umgebung ein lebendiger Zeuge der barmherzigen Liebe Gottes zu sein.

Überall finden wir Gelegenheit Erbarmen zu beweisen. Wie viel äußere Not umgibt uns doch! Arme und Kranke, Witwen und Waisen, betrübte und verzagte Seelen gibt es gar viele, welche nichts so sehr bedürfen, als die Erquickung, die ihnen ein erbarmendes Herz bringen kann. Sie leben unter Christen, und doch klagen sie zuweilen darüber, dass manche Weltkinder mehr Teilnahme für sie zu haben scheinen, als Solche, denen es nur um ihr eigenes Seelenheil zu tun ist. Brüder, betet ernstlich um ein erbarmendes Herz, das stets nach einer Gelegenheit zu einem Werk der Liebe ausspäht, und immer zur Verfügung steht, als ein Werkzeug des göttlichen Erbarmens gebraucht zu werden. Das barmherzige Mitleiden Jesu war es, wodurch so viele zu Ihm gezogen wurden, als Er auf Erden war; dieselbe barmherzige Liebe wird heute noch mehr Seelen zu euch und zu eurem HErrn ziehen, als irgend etwas anderes.1)

Und wie viel geistliche Not umgibt uns von allen Seiten! Hier ist ein armer Reicher, dort ein leichtsinniger Jüngling; ein armer Trunkenbold oder ein hoffnungslos Verzweifelnder. Und wie viele Seelen sind einfach ganz umgarnt von den Eitelkeiten der sie umgebenden Welt! Ach, wie oft hört man Worte liebloser Gleichgültigkeit, oder harten Urteils, oder träger Hoffnungslosigkeit über alle solche Menschen! Das barmherzige Herz fehlt. Gerade durch das tiefste Elend wird die Barmherzigkeit angezogen, als zu dem für sie bestimmten Wirkungskreis. Die Barmherzigkeit wird niemals müde, sie gibt nie die Hoffnung auf. Die Barmherzigkeit lässt sich nie zurückweisen, denn die selbstverleugnende Liebe Jesu ist ihre Triebkraft.

Der wahre Christ beschränkt seine Barmherzigkeit nicht auf seine eigene Umgebung; er hat ein weites Herz. Sein HErr hat ihm die ganze Heidenwelt als sein Arbeitsfeld angewiesen. Er sucht mit den Verhältnissen der Heiden bekannt zu werden; ihre Last trägt er auf dem Herzen; es jammert ihn ihrer in der Tat und es ist ihm ein Anliegen, ihnen zu helfen. Ob nun das Heidentum in seiner Nähe oder in der Ferne ist, ob er es in all seinem Unflat und in seiner Erniedrigung vor Augen hat, oder nur davon hört, das tut nichts zur Sache; die barmherzige Liebe lebt einzig und allein, um Gottes Willen zu erfüllen durch die Rettung der Verlorenen.

Nach Jesu Bild in seinem Erbarmen: dies sei von nun an unsere Losung. Nachdem der HErr das Gleichnis des barmherzigen Samariters erzählt hatte, den es des verwundeten Fremden „jammerte“, sprach Er: „Gehe hin und tue desgleichen.“ Er ist selbst der barmherzige Samariter, der zu jedem von uns, seinen Erlösten, spricht: „Gehe hin und tue desgleichen.“ Gleich wie ich euch getan habe, also tut auch ihr. Wir, die wir seinem Erbarmen alles verdanken, die wir uns seine Nachfolger heißen, in seinen Fußstapfen wandeln und sein Bild an uns tragen möchten, o wir wollen doch der Welt sein Erbarmen darstellen. Wir können es; denn Er lebt in uns und sein Geist wirkt in uns. Lasst uns mit viel Gebet und in festem Glauben auf sein Vorbild, als auf die sichere Verheißung dessen, was wir sein können, blicken. Es wird Ihm eine unaussprechliche Freude sein, wenn Er uns dazu bereit findet, nicht nur uns feine Barmherzigkeit zu erweisen, sondern auch durch uns der Welt. Wir aber werden die überschwängliche Freude erfahren, ein Jesus-ähnliches, von Erbarmen und großer Barmherzigkeit erfülltes Herz zu bekommen.

O mein Herr! mein Beruf wird beinahe zu hoch! Auch in deiner erbarmenden Liebe soll ich dir nachfolgen, dir ähnlich werden, und dein Leben wiederstrahlen. An dem Mitleiden, womit ich jede leibliche und geistige Not ansehe und ihr abzuhelfen suche, an der sanften, zarten Liebe, wodurch jeder Sünder erkennen muss, dass ich ihm gerne zum Segen wäre, soll die Welt sich eine Vorstellung von deinem Erbarmen machen. O du Albarmherziger! Vergib mir, dass die Welt bisher so wenig hiervon an mir sehen konnte. O mächtigster Erlöser; errette mich nicht nur durch dein Erbarmen, sondern ergreife mich und erfülle mich ganz, damit Barmherzigkeit das eigentliche Wesen und die Freude meines Lebens werde. Lass dein Erbarmen gegen mich, eine lebendige Quelle des Erbarmens gegen andere, in mir werden.

Herr Jesu, ich weiß, du kannst diese Bitte nur unter der einen Bedingung gewähren, dass ich mein eigenes Leben und meine Anstrengungen mich selbst zu bewahren und zu heiligen, fahren lasse, und dir gestatte in mir zu herrschen und mein Leben zu werden. O du Barmherzigster! Ich gebe mich dir hin, du, und du allein hast ein Recht an mich. Es ist mir nichts köstlicher, als dein barmherziges Angesicht; was kann denn seliger sein, als dir ähnlich zu werden?

HErr, hier bin ich. Ich glaube, dass du selbst mich lehren und mich tüchtig machen wirst, deinem Wort zu gehorchen: Du solltest dich erbarmen, wie ich mich über dich erbarmt habe.“ In diesem Glauben gehe ich heute hinaus, um in meinem Umgang mit andern zu zeigen, wie du mich geliebt hast. In diesem Glauben wird es der große Zweck meines Lebens werden, Menschen für dich zu gewinnen. Amen!

Anmerkung.

Das Böse kann nur durch die Berührung mit persönlicher Hingabe überwunden werden, niemals durch eine Liebe, die von ferne stehen bleibt. „Ihr seid das Salz der Erde“, sagt Jesus; „ihr selbst, gerade wie ihr seid, in dem Kreise, der euch angewiesen ist; überall und zu jeder Zeit muss eine heiligende Kraft von euch und von eurer Gegenwart ausgehen. Jesus selbst ist das Leben und das Licht. In allem was Er tut, sagt, leidet, sehen wir immer seine Person; wer daher irgend etwas von seiner Person trennt, kann dasselbe nicht behalten, es verschwindet ihm unter den Händen. Gerade hierin liegt der Grundfehler unser heutigen Christenheit. Man trennt die Worte und Werke Jesu von seiner Person, und daher kommt es, dass so viele, trotz allem was sie als Christen wirken mögen, Jesum selbst niemals gefunden haben. Es gibt deshalb auch viele, welche auf sein Verdienst und Leiden trauen; aber nicht beweisen können, dass sie wirkliche Gemeinschaft mit Ihm haben und Ihm in der Tat nachfolgen. Jesus ist nicht nur in Kana in Galiläa zu finden, sondern auch in Gethsemane und auf Golgatha. Ach, gibt es nicht leider viele, die sich des Kreuzes rühmen, und sich doch vor dem wahren Kreuz mehr fürchten, als vor dem Teufel? Sie haben ihr Bekenntnis des Kreuzes so weislich eingerichtet, dass ihrer Ehre, ihren Gütern, ihrer Freiheit dadurch kein Verlust erwachsen kann. Die wahre, tatsächliche Nachfolge Jesu Christi muss wieder, wie in früherer Zeit, das Panier der Christenheit werden. Einzig und allein dadurch wird der Glaube den Unglauben und Aberglauben wieder besiegen. Viele sind heutzutage eifrig bemüht, einer zweifelnden Welt die Inspiration der heiligen Schrift, die Wahrheit der Worte und des Lebens Jesu zu beweisen. Es ist vergebliche Mühe, durch Worte und Beweisführungen das begründen zu wollen, was nur durch selbstredende Macht und durch wirkliches Vorhandensein anerkannt werden kann. Lasst eure Taten es beweisen, dass der Geist der Wunder in euch wohnt; zeiget es vor allem in eurem Wandel, dass Jesus Christus in euch sein himmlisches, ewiges Leben fortführt, dann werden viele euren Worten glauben. Aber wenn euch diese Beweisung des Geistes und der Kraft fehlt, so darf es euch nicht wundern, wenn die Welt euren beredten Verteidigungen wenig Aufmerksamkeit schenkt. Die Stunde ist gekommen, da die ganze Christenheit sich wie ein Mann erheben, und in der Kraft Christi das wiederholen muss, was Jesus für eine dem Verderben zueilende Welt getan hat. Dazu ist die Nachfolge Jesu Christi vonnöten; dies wird auch der einzig stichhaltige Beweis für die Wahrheit des Christentums sein.2)

1)
s. Anmerkung
2)
Auszug aus M. Diemer: „Ein neues Zeugnis über die Nachfolge von Jesu Christo.“
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