Monod, Adolphe - Einige Worte über das Bibellesen.

Monod, Adolphe - Einige Worte über das Bibellesen.

Ich pflege in meiner gegenwärtigen Lage gern einige Worte christlicher Ermahnung an die Freunde zu richten, welche die Güte haben, sich bei mir zu versammeln. Heute beraubt mich mein leidensvoller Zustand dieses Trostes. Ich muß mich darauf beschränken, euch eine Thatsache aus meiner christlichen Erfahrung mitzutheilen, die euch zu einem heilsamen Nachdenken über den Werth des Wortes Gottes führen kann; ich nehme hiezu ganz einfach ein Erlebniß dieser Woche. In einer Nacht, in welcher ich viel litt und wenig schlief, hatte ich mich gegen Morgen, etwa um 1 Uhr, mit der Hoffnung niedergelegt, etwas Ruhe zu finden. Ich bat den lieben jungen Mann, der bei mir wachte1), mir ein Kapitel aus der Bibel vorzulesen. Er schlug mir das achte Kapitel aus dem Römerbriefe vor. Ich willigte ein, ersuchte ihn jedoch, des Zusammenhangs wegen bis zum sechsten, ja bis zum fünften Kapitel zurückzugehen. Wir lasen nacheinander das fünfte, sechste, siebente und achte Kapitel; ich dachte nicht mehr ans Schlafen, so sehr waren meine Aufmerksamkeit, mein Interesse, meine Bewunderung durch die himmlische Sprache des heiligen Paulus oder vielmehr des Heiligen Geistes, der durch den Apostel redet, erregt. Dann lasen wir das neunte Kapitel und die folgenden bis zum Schluß mit stets gleich bleibender Spannung, und endlich, um nichts auszulassen und den ganzen Brief gelesen zu haben, die vier ersten Kapitel. Zwei Stunden ungefähr waren über dem Lesen verflossen; ich dachte nur noch daran, Gottes Wort zu hören und Nutzen aus demselben zu ziehen, und der Herr verleih mir in Seiner Gnade die Ruhe, die mir gefehlt hatte. Ich kann euch nicht aussprechen, wie ich, während wir den Römerbrief im Zusammenhange lasen, von der Göttlichkeit, Wahrheit, Heiligkeit, Liebe und Kraft, deren Stempel jeder Seite und jedem Worte aufgedrückt ist, ergriffen war. Ohne uns unsere Gedanken mitgetheilt zu haben, glaubten mein junger Freund und ich, eine Stimme vom Himmel zu vernehmen, und fühlten, daß die Schrift, auch ohne die Zeugnisse, welche ihre Eingebung und göttliche Autorität beweisen, sich selbst ein ebenso vollkommen ausreichendes Zeugniß gibt, als Jesus Christus sich uns durch Seine Werke bekundet hat. Wir erfuhren aber auch zugleich, wie nützlich es ist, die Bibel im Zusammenhange zu lesen und wie viel man verliert, wenn man sich nur an einzelne Stellen oder Kapitel hält. Man versteht ein Buch nur, wenn man es von Zeit zu Zeit im Zusammenhange liest. Wir sahen ein, daß man das Wort Gottes auf zwiefache Weise betrachten müsse: einmal im Zusammenhange, um einen so gesegneten Eindruck zu empfangen, wie wir ihn empfangen hatten, dann aber auch im Einzelnen, um sich über jeden Vers und jedes Wort Rechenschaft zu geben. Der Haupteindruck jedoch war ein beschämender. Wie! sagten wir uns, wir haben einen solchen Schatz in unmittelbarster Nähe und wir versäumen es, ihn zu heben! Zwei Stunden hatten wir, so zu sagen, im Himmel zugebracht; wir fanden uns nicht nur unter die besten Menschen, die inspirirten und bevorzugten Werkzeuge des Heiligen Geistes, sondern mitten unter die auserwählten Engel und in die Gemeinschaft Jesu Christi versetzt. Wir faßten den Entschluß und stellten ihn unter den Schutz Dessen, der allein die Vorsätze Seiner Kinder fördern kann, den Entschluß, uns mit einem ganz andern Eifer als bisher dem Forschen in der Heiligen Schrift zu widmen und, wenn es sein muß, viele andere lehrreiche und nützliche Bücher, die aber mit dem Worte Gottes nicht verglichen werden können, ungelesen zu lassen und mit diesem Worte zu leben, wie wir mit Gott selbst zu leben wünschen; denn das Lesen dieses vom Geiste Gottes eingegebenen Wortes ist gleichsam eine Unterredung mit Gott. Ich empfehle euch, meine theuren Freunde, ein beständiges und gründliches Forschen und Betrachten des Wortes Gottes. Es erhebt uns weit über alles Andere, wird die Kraft unsers Lebens, die Freude unsers Herzens und unser mächtigster Trost im Leben und im Sterben durch Jesum Christum. Das erbitte ich für euch und für mich. Amen.

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Eine kleine Anzahl junger Freunde, fast sämmtlich Studenten der Medizin, wachten bei Adolf Monod fast ein halbes Jahr hindurch und länger, Ihre Aufopferung und freundliche Pflege erleichterten ihm sehr die langen schlaflosen und leidensvollen Nachte.
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