Luger, Friedrich - Der Brief des Jakobus - Neunte Betrachtung.

Luger, Friedrich - Der Brief des Jakobus - Neunte Betrachtung.

Die rechte Stellung des Christen zum Gesetz.

Über Jak. 2,10-13.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesu Christo! Amen.

Jak. 2, 10-13;
Denn so Jemand das ganze Gesetz hält, und sündigt an Einem, der ist es ganz schuldig. Denn der da gesagt hat: „Du sollst nicht ehebrechen!“ der hat auch gesagt: „Du sollst nicht töten!“ So du nun nicht ehebrichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes. Also redet, und also tut, als die da sollen durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden! Es wird aber ein unbarmherziges Gericht über den gehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; und die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht.

Diese Worte des Jakobus schließen sich unmittelbar an die vorhergehenden Worte des achten und neunten Verses an. „So ihr“, schrieb er, „das königliche Gesetz vollendet nach der Schrift: Liebe deinen Nächsten als dich selbst! so tut ihr wohl. So ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde, und werdet gestraft vom Gesetz als die Übertreter“. Da ist es ihm, als hörte er Einen seiner Leser einwerfen: Wie? Sagst du damit nicht zu viel, wenn du behauptest, dass, wer die Person ansieht, ein Übertreter des Gesetzes ist, da er doch nur ein einzelnes Gebot des Gesetzes, das Gebot der Nächstenliebe übertreten hat?“ Dem Einwurfe begegnet Jakobus, und nimmt von demselben Veranlassung, seine Leser über die rechte Stellung des Christen zum Gesetz, nämlich:

  1. Wie Christen das Gesetz ansehen, und:
  2. Wie sie es halten sollen,

zu belehren. Das denn der Gegenstand unserer weiteren Betrachtung!

1.

Der Verfasser unseres Briefes erweist sich auch darin als einen Knecht Gottes und des Herrn Jesu Christi, dass seine Worte uns nicht selten an die Worte des Herrn Jesu selbst erinnern, namentlich an Worte, welche wir in der Bergpredigt desselben finden. So werden wir durch die Eingangsworte unseres heutigen Textes: „Denn so Jemand das ganze Gesetz hält, und sündigt an Einem, der ist es ganz schuldig“, an die ernsten Worte des Herrn Jesu erinnert: „Wer nun Eines von diesen kleinsten Geboten auflöst, und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. Denn ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen!“ (Matth. 5,19.20.) Woran fehlte es denn nun eigentlich dieser Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer, und in wie fern war dieselbe unzureichend für den Eingang in das Himmelreich? Sie betrachteten das göttliche Gesetz nicht als ein Ganzes, sondern als eine Summa von einzelnen Geboten, zu denen sie ihre menschlichen Satzungen hinzufügten, und hielten auf die Beobachtung der letzteren mit großer Strenge, während sie die göttlichen Gebote zurücksetzten oder sich doch an einer äußerlichen und buchstäblichen Erfüllung derselben genügen ließen. Wir blicken mit Geringschätzung auf diese äußerliche Gesetzesauffassung und Werkheiligkeit der Pharisäer hin, und übersehen dabei nur zu oft, wie Viele es noch heute auch unter uns gibt, deren Gerechtigkeit nicht besser ist, als diese Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten. Wie Mancher hält mit peinlicher Strenge an Allem fest, was Sitte und Herkommen fordern, und rechnet sich und Anderen einen Verstoß gegen die Mode oder die Forderungen des gesellschaftlichen Anstands als Vergehen an, während er sich kein Bedenken daraus macht, die Gebote Gottes zu übertreten, oder sich mit einer äußerlichen Erfüllung derselben zu begnügen, und nach eigenem Belieben zwischen solchen Geboten, auf deren Erfüllung mit Strenge gehalten wird, und solchen, deren Missachtung und Übertretung man sich gestattet, zu unterscheiden! Wie groß ist beispielsweise die Zahl derer, die den Verdacht, das siebente Gebot übertreten zu haben, mit Entrüstung von sich weisen, während sie es leicht nehmen mit der Übertretung des sechsten Gebotes, ja sich vielleicht ihrer Unzuchtsünden, als hätten sie Heldentaten verrichtet, mit lachendem Munde rühmen! Wir bringen Mörder und Diebe an den Galgen und ins Zuchthaus, während es geschehen kann, dass Hurer und Ehebrecher Ehrenplätze einnehmen, vielleicht gar über Mörder und Diebe zu Gericht sitzen. Und doch hat der Herr, unser Gott, das sechste Gebot zwischen das fünfte und siebente gestellt, weil er will, dass mit dem Leben und dem Eigentum auch die Ehe und Familie in gleichen Ehren gehalten werde. Und wie Mancher, dem es als große Sünde erscheint, sich an dem Eigentum des Nächsten zu vergreifen, macht sich kein Gewissen daraus, ihm das Gut, welches köstlicher ist, als Geld und Gut, seinen guten Namen, seine Ehre, durch Afterrede und Verleumdung zu rauben, da doch Gott nicht ohne Grund auch den guten, ehrlichen Namen des Menschen unter den Schutz seines Gesetzes gestellt, und zu dem siebenten, um den Zungensünden zu wehren, auch das achte Gebot hinzugefügt hat.

Darum haben wir alle Ursache, das Wort des Jakobus noch heute zu Herzen zu nehmen: „Denn so Jemand das ganze Gesetz hält, und sündigt an Einem, der ist es ganz schuldig. Denn der da gesagt hat: Du sollst nicht ehebrechen!' der hat auch gesagt: Du sollst nicht töten! So du nun nicht ehebrichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes“.

Das Gesetz ist eben mehr, als eine Summa von einzelnen Geboten; es ist ein Ganzes. Darum bist du, wenn du ein einzelnes Gebot des Gesetzes übertrittst, ein Übertreter des Gesetzes. Wie ein Kleid, wenn es auch nur an einer Stelle zerrissen ist, doch eben ein zerrissenes Kleid ist; oder wie ein Leib, wenn ein Glied desselben leidet, ein kranker Leib ist; oder wie in einem Konzerte die Musik falsch klingt, wenn auch nur ein einzelnes Instrument nicht rein gestimmt ist, oder nicht richtig gespielt wird.

Das Gesetz ist aber eben darum ein Ganzes, weil es der Ausdruck eines Willens, des Willens Gottes, des allerhöchsten, heiligsten Gesetzgebers, ist. Du setzt durch die Übertretung eines einzelnen Gebotes deinen Willen dem heiligen Willen Gottes entgegen, und bist ein Sünder vor ihm; gleichwie ein Kind, wenn es auch nur in einem Stücke gegen den Willen der Eltern handelt, ein ungehorsames Kind ist. Beweist doch auch jede Übertretung eines göttlichen Gebotes, deren du dich schuldig machst, dass dein Herz noch nicht zu Gott steht, wie es der Fall sein sollte, und dass auch deine Erfüllung der anderen Gebote noch nicht aus dem rechten willigen Gehorsam gegen Gott und der rechten dankbaren Liebe gegen ihn hervorgeht.

2.

Und doch wusste es schon der Fromme des alten Bundes, dass der rechte Gehorsam gegen Gottes Gesetz nicht in der äußerlichen Erfüllung seiner Gebote bestehe, sondern in der inneren Hingabe des Herzens an Gott und seinen heiligen Willen. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen!“ (5 Mos. 6,5.) Wie dürften denn wir Christen meinen, Gottes Gebote ohne den willigen Gehorsam eines ihm in dankbarer Liebe ergebenen Herzens halten zu können; die wir das Wort der Wahrheit nicht bloß als das Wort des alttestamentlichen Gesetzes kennen, in welchem der göttliche Gesetzgeber dem Menschen mit seinem: „Du sollst!“ entgegentritt, sondern als das gnadenreiche Evangelium, durch welches wir nach dem Willen Gottes zu Erstlingen seiner Kreaturen gezeugt sind, die mit neuen Herzen ihm dienen, mit neuen Zungen ihn loben, und mit einem neuen Wandel seinen Namen heiligen sollen! Also redet, „und also tut“, schreibt darum Jakobus, als die da sollen durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden. „Das Gesetz der Freiheit“, so nennt er hier, wie schon im ersten Kapitel (V. 25), das Wort der Wahrheit, das Evangelium, weil es uns nicht nur vom Fluche, sondern auch von der Herrschaft der Sünde erlöst, und frei gemacht hat zu solchem willigen Gehorsam dankbarer Liebe gegen Gott und unseren Erlöser. So sei denn, meint daher Jakobus, jede Rede, wie jede Tat, das Zeugnis eines also in freiem Gehorsam dankbarer Liebe Gott ergebenen Herzens, ein Beweis, dass ihr es erkannt habt und wisst, dass die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist, und wir nicht einem toten Gesetze in diesem Wort der Wahrheit gegenüberstehen, sondern einem lebendigen Gott, dessen barmherzige Liebe das Gericht überwunden hat. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“. „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu, und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ (Joh. 3,16. 2 Kor. 5,19.)

Das ist die allumfassende barmherzige Gottesliebe, die das Gericht überwunden hat, wie sie uns in diesem Wort der Wahrheit verkündigt wird. Aber wehe darum, wer nicht, von dieser barmherzigen Gottesliebe überwunden, sein Herz in dankbarer Liebe Gott ergibt, und in erbarmender Liebe gegen die Brüder aufschließt! Ihm geschieht es nach dem Bilde jenes hartherzigen. Knechtes im Gleichnisse unseres Erlösers, welchem die barmherzige Liebe seines Königs zehntausend Pfund erlassen hatte, und der nicht bereit war, seinem Mitknechte die hundert Groschen, welche dieser ihm schuldig war, zu erlassen. „Es wird aber“, schreibt darum Jakobus, „ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat.“

Wer wirklich die Gnade Gottes, wie sie im Worte der Wahrheit sich uns darbietet, im Glauben ergriff, und sagen darf: „Mir ist Barmherzigkeit widerfahren!“ dem wird die erfahrene Gnade und Barmherzigkeit Gottes zum Quell eines neuen, in dankbarer Liebe Gott und den Brüdern geweihten Lebens. Da weicht der Hochmut aus dem Herzen, der den Bruder neben sich und damit Gott, unser Aller Schöpfer und Erbarmer, verachtet. Da weichen der Hass und der Neid, welche scheel sehen zu dem Glück des Bruders. Da weicht der Zorn, welcher nicht tut, was vor Gott recht ist. Wir erfahren es an uns selbst und unserem Verhalten gegen die Brüder, wie es gemeint ist, wenn Jakobus schreibt: „Die Barmherzigkeit rühmt sich“ sie feiert ihre Triumphe „wider das Gericht“. Hat Gott an uns Gnade für Recht ergehen lassen, wie könnten wir am starren Rechte festhalten gegen den Bruder? Gottes Barmherzigkeit ist allen Sündern bereit; wie dürften wir denn einen bösen Unterschied machen, und nicht gegen alle Brüder, auch gegen die, welche sich an uns versündigen, Barmherzigkeit zu üben, bereit sein? Wir müssen die Sünde Sünde, das Unrecht Unrecht nennen; sonst würden wir als Solche, die da unrecht richten, erfunden. Aber „die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht“; die Liebe ruht nicht, bis sie den Sieg gewonnen hat, und „deckt auch der Sünden Menge“. (1 Petri 4,8.) Da gilt weder Jude noch Grieche, weder reich noch arm, weder Freund noch Feind; wir umfangen sie Alle mit der Barmherzigkeit, welche uns selbst widerfahren ist. Wir begehren nichts, als Gefäße der Barmherzigkeit Gottes zu sein, aus welchen sich ihr Strom unter die Brüder ergießt, und ihren Ruhm durch Wort und Tat zu versündigen.

Freilich, wer sind wir, und was ist unsere beste Liebe, und wie wenig entsprechen ihre besten Werke der barmherzigen Liebe, mit welcher wir von Gott geliebt sind! Wie viele köstliche Gelegenheit, Liebe zu üben, übersehen und versäumen wir täglich! Mag ein Pharisäer meinen, das Gesetz Gottes erfüllt zu haben; Christen, welche nach dem Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen, und sich selbst nach demselben richten, wissen es, wie weit sie hinter dem zurückblieben, was sie Gott schuldig sind, und wie unrein und unvollkommen sie vor dem sind, der Herzen und Nieren prüft, und vor dem die geheimsten Gedanken unserer Seele offenbar sind. Denn auch seine Heiligen sind nicht rein vor ihm, und was wollte werden, wenn an jenem Tage des Gerichts und der gerechten Vergeltung das Gericht sich rühmte wider die Barmherzigkeit, und über sie den Sieg davontrüge? Denn, „so Du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen?“ „Denn vor Dir ist kein Lebendiger gerecht!“ (Ps. 130,3. Ps. 143,2.) „Aber die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht“. Der Richter, welchem der Vater das Gericht übergeben hat, ist er selbst, unser barmherziger Herr und Heiland Jesus Christus. Darum wohl Allen, in deren Herzen seine Liebe den Sieg gewann, bei denen die barmherzige Liebe nicht umsonst fragt nach den Früchten der Liebe, welche sie gewirkt hat! Wie viel uns auch fehlt, und um wie Vieles wir uns selbst strafen müssen; „die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht!“ „Was ihr getan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!“ (Matth. 25,40.) Nicht nach Verdienst, über alles Verdienst, nach seiner Barmherzigkeit wird der Herr Allen geben, an welchen die Frucht seiner Liebe in barmherziger Liebe offenbar ward. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!“ (Matth. 5,7.) Amen.

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autoren/l/luger/luger_der_brief_des_jakobus_9._betrachtung.txt · Zuletzt geändert: von aj
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