Krummacher, Gottfried Daniel - Jakobs Kampf und Sieg - 5. Betrachtung

Krummacher, Gottfried Daniel - Jakobs Kampf und Sieg - 5. Betrachtung

1. Mose 32,27

Ich lasse dich nicht.
Es hält Natur so wunderfest,
Eh’ sie sich ganz dem Herren läßt.
Gott muß durch tausend Kreuz und Leiden
Zu diesem Lassen dich bereiten.
Jesusnam’, du Perl’ der Seelen,
O, wie köstlich bist du mir!
Dich will ich zum Schatz erwählen;
Was ich wünsch’, ist ganz in dir,
Leben, Kraft und Heiligkeit,
Gnade, Ruh’ und Seligkeit!
O, dein Name, deine Treue ewig meine Seel’ erfreue!

Das vorige Mal haben wir betrachtet, was der Segen sei. laßt uns jetzt das Verhältnis Jakobs in Absicht desselbigen erwägen, ausgedrückt in den Worten: „Ich lasse dich nicht.“

Der Segen schließt die ganze Zuneigung des durch Christus erworbenen Heils in sich, von seinem ersten, dem Menschen selbst unmerklichen Anfang an bis zu seiner Vollendung im Himmel, von dem ersten Zug der Willensneigung zu Gott und seiner Wahrheit bis zum Stehen vor des Lammes Stuhl, von der bekümmerten Frage: Was muß ich tun, daß ich selig werden? Bis zur Sättigung mit Wonne wie mit einem Strom. Bei dieser Zueignung gibt es einen Anfang, eine Fortsetzung und eine Vollendung. Jakob äußert ein heftiges, starkes Verlangen nach dem Segen. Doch meint er damit nicht die ersten Anfänge desselben. Daran zweifelte er nicht, daß er bei Gott in Gnaden sei, daß er Vergebung seiner Sünden habe, daß die Erneuerung nach Gottes Bild wirklich in ihm begonnen sei. Er zweifelte nicht an der Gültigkeit des von seinem Vater – wenngleich nicht auf dem ganz geraden Weg – empfangenen Segens, den nicht nur sein Vater, sondern Gott selbst bestätigt hatte. Er zog die ihm zuteil gewordenen, göttlichen Verheißungen keineswegs in Zweifel, sondern berief sich (Vers 12) mit aller Freimütigkeit darauf. Er betrachtete sich nicht wie einen Menschen, an dem der Herr bisher keinen Gefallen gehabt, sondern als einen, wenngleich ganz unwürdigen, doch glückseligen Gegenstand seiner Barmherzigkeit und seiner wohlmeinenden Güte, wovon er auch die augenscheinlichsten und rührendsten Beweise hatte.

Allein er war nicht satt geworden. Er begehrte auf eine höhere, innigere, tiefere Weise gesegnet zu werden als bisher. Und diese Begierde, diesen Hunger, dieses Sehnen hatte der Herr selbst in ihm erregt. Der Herr hatte ein Bedürfnis für einen höheren Segen, für eine wesentlichere Mitteilung der Gnade in ihm erweckt. Er hatte ihm nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich eine tiefe Wunde beigebracht, die ihn nach Heilung begierig machte. Er konnte auf die bisherige Weise nicht mehr bestehen. Er konnte mit seiner bisherigen Stufe im Gnadenstande nicht mehr zufrieden sein. Er mußte mehr haben. Aus dem Jakob sollte ein Israel werden. Der Adler merkte seine Flügel und wollte damit auffahren. Es ging ihm, wie dem Weizenkorn im Schoße der Erde, dessen Keim die Hilfe sprengt und sich hervordrängt. Es hieß jetzt gleichsam zu ihm, wie zu seinem Großvater Abraham: Wandle vor mir und sei fromm und sei vollkommen; denn ich will einen Bund zwischen mir und dir machen. Aus dem Jüngling sollte ein Mann werden.

Wird eine Seele von dem niedern Stehen in der Gnade zu einem höheren, zu einem völligeren Glauben berufen, soll Christus mehr eine Gestalt in der Seele gewinnen, so geht auch ein gewisses Drängen vorher. Dies war auch bei Jakob der Fall, und der Herr bediente sich verschiedner Mittel, dieses Bedürfnis und diesen Hunger für eine höhere Mitteilung der Gnade und des Segens in ihm zu wirken. Er gab ihm zunächst den Befehl, in das Land Kanaan, wo sein Vater, aber auch sein Bruder Esau wohnte, zurückzukehren, und führte ihn so nach und nach auf den Kampfplatz, wo es ihm wunderlich, doch herrlich erging. Bisher hatte er sich in Mesopotamien um seines Bruders Grimm nicht zu bekümmern gehabt, obschon er mit seinem geizigen Schwiegervater seine Last Und Mühe hatte. Aber nun ward er mit allem, was ihm lieb und teuer war, gleichsam aufs Spiel gesetzt, ward, wie Paulus sagt, gleichsam den Löwen vorgeworfen. Es war seine eigene Wahl nicht, das wäre tollkühn gewesen, und er würde sich Gottes dabei nicht haben getrösten können. Es war eine Führung Gottes über ihm. Darauf beruft er sich auch (Vers 9): Du hast zu mir gesagt: Ziehe wieder in dein Land. Und der Herr hatte ihm verheißen: Ich bin mit dir, wohin du ziehst, und will dich behüten (Kap. 28,15). Eigne Vernunft und eigner Wille würden ihn nicht gut geleitet haben und leiten keinen gut. Daher ist es eine Verheißung: Ich will dir deinen Weg mit Dornen verzäunen, dich in eine Wüste führen und freundlich mit dir reden (Hosea 2). Daher bittet David: Dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn, und abermal: Wende von mir den falschen Weg und gönne mir dein Gesetz!

Allein es war dem Jakob nicht verliehen, sich in diesen Umständen seinem Bruder gegenüber so zu verhalten, wie es den empfangenen Verheißungen angemessen gewesen wäre. Unter der weisen Zulassung des Herrn bemeistert sich seiner Seele eine gewaltige Furcht vor seinem erzürnten Bruder, und er verhält sich dabei zum Teil allzu menschlich, zum Teil jedoch musterhaft. Die Empfindung der Furcht war nicht nur an sich beschwerlich, sondern man hätte auch denken sollen, sie würde bei einem Manne wie Jakob nicht haben statthaben können. Ohne Zweifel betrachtete er selbst sie als etwas Ungeziemendes, als etwas Unschickliches, ja Ungereimtes, wozu er teils keine Ursache habe, teils dadurch der Treue, Macht und Zusage des Herrn zu nahe trete. Aber diese Betrachtung vermochte nicht ihn zu beruhigen. Seine Vernunft sah zu viel auf das Sichtbare, zu wenig auf das Unsichtbare, zu viel auf den Esau, zu wenig auf Gott, und er selbst konnte sich davon nicht frei machen.

Und was entstand daraus? Der Kampf, das Verlangen, der Sohn möge ihn frei machen. Bis er das erlangte, benahm er sich allzu menschlich klug. Daher seine demütige Gesandtschaft an seinen Bruder, daher die untertänigen und übertriebenen Höflichkeiten, da er den Esau immer seinen Herrn, sich aber seinen Knecht zu nennen befahl. Daher die kluge Verteilung in zwei Haufen, um wenigstens den einen zu retten. Daher die Aufstellung der Geschenke vornan und die Abrichtung aller einer Hausgenossen zu ausnehmenden Komplimenten. Er tat alles, sich von seiner Furcht zu befreien. Aber dennoch heißt es von ihm: Jakob fürchtete sich sehr, und ihm war sehr bange. Und freilich sollte er sich selbst nicht frei machen. Diese Ehre gebührt dem Sohne Gottes allein. Ohne Zweifel wurde die Angst Jakobs durch die Vorwürfe noch peinigender, die ihm sein erleuchteter Verstand darüber machte, welcher ihm ein ganz entgegengesetztes Verhalten vorschrieb, ein Verhalten, wie es den empfangenen, vielen Beweisen der göttlichen Huld angemessen war, wie es David im 91. Psalm ausdrückt: „Ob tausend fallen zu deiner Rechten und zehntausend zu deiner Linken, so wird es dich doch nicht treffen. Ja, du wirst mit deinen Augen deine Lust sehen. Es wird der kein Übel begegnen und sich keine Plage deiner Hütte nahen; denn er hat seinen Engeln befohlen, daß sie dich behüten sollen auf allen deinen Wegen.“

Was hatte Jakob nicht alles für sich? Den von Gott selbst bestätigten Segen seines Vaters, auf seiner Flucht das merkwürdige Traumgesicht von der Himmelsleiter und die herrliche Verheißung von dem Segen, der sich durch seine Nachkommen über alle Völker ausbreiten solle, die vielen zeitlichen Güter, welche ihm der Herr während seines Aufenthaltes bei Laban auf eine so augenscheinliche Weise verliehen hatte, den ausdrücklichen Befehl zur Rückreise mit dem zugesicherten Schutz, die wundervolle Lenkung Labans, daß er, seines grimmigen Zorns ungeachtet, kein unfreundlich Wort mit ihm reden durfte, die Begegnung eines Heeres von schützenden Engeln bei Mahanaim. Und doch noch Furcht, eine so große Furcht! Das war offenbar nicht rechts, war ein Beweis, daß Jakob noch keinen völligen Glauben besaß, daß er diese Perlenschnur von Verheißungen genug, aber nicht Glauben genug. Wer sich noch fürchtet, sagt Johannes, der ist nicht völlig in der Liebe (1. Joh. 4,18). Die Furcht hat Pein; aber die völlige Liebe treibet die Furcht aus. – Der völlige Glaube flieht nicht (Jes. 28,16), er eilet nicht und fürchtet sich auch nicht. Wer mit Psalm 46 sagen kann: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, der spricht auch: darum fürchten wir uns nicht, wenn auch die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken.

Aber auf diesem Standpunkt befand sich Jakob damals noch nicht, und man hüte sich vor dem Gedanken, als ob dies ein Standpunkt sei, wozu vielleicht nur alle hundert Jahre ein einziger Heiliger gelange, vor dem Gedanken, er könne deswegen von andern auch nicht erreicht werden, weil wir selbst dahin noch nicht gekommen sind. Denn solche Gedanken sind sehr schlechte, Gott verkleinernde Gedanken, Ruhestätten des Fleisches. Jakob fühlte das gar wohl, daß sein Glaube noch nicht der Verheißung gemäß sei. Seine Furcht wich allen seinen Klugheitsmaßregeln kein Haar breit und lachte, wie Hiobs Leviathan der bebenden Lanzen. Alle eine Bemühungen, selbst sein Gemüt zur Stille und Beruhigung zu bringen, waren fruchtlos und beförderten seine Furcht und Unruhe nur, statt sie zu besänftigen.

O glückliches Mißlingen des eigenmächtigen Wirkens, Selbsthelfens und Besserns! Glücklich der, dem über dem Ringen die Hüfte der eigenen Kraft, Klugheit und Gerechtigkeit auseinandergeht, dem nichts übrig bleibt, als sich ganz dem Herrn Jesus in die Arme zu werfen!

So ging es dem Jakob. Sein beschwerlicher Zustand von außen und noch mehr von innen, dem er selbst nicht abhelfen konnte, nötigte ihn, durch Gebet seine Zuflucht zum Herrn zu nehmen. In demselben legt er ihm seinen Gemütszustand offen und bekennt aufrichtig: Ich fürchte mich vor meinem Bruder Esau. Zugleich bittet er um eine höhere Mitteilung der Gnade. Vielleicht waren es mehr unaussprechliche Seufzer als deutlich empfundene und klar ausgesprochene Bitten, ein Ächzen der neuen Kreatur, die wider ihren Willen unter der Eitelkeit gefangen lag, nach der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, ein Sehnen nach etwas Besserem, was er nicht deutlich an den Tag legen konnte.

Aber der, der die Herzen erforscht, kannte des Geistes Meinung wohl. Er selbst hatte diesen höhern Hunger nach Gerechtigkeit in ihn hineingelegt, diesen Drang in ihm gewirkt. Gleichwie ein Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schrie seine Seele zu Gott. Seine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott, daß er dahin käme, daß er Gottes Angesicht schaute. Daselbst sah er nach ihm in seinem Heiligtum und wollte gern schauen seine Macht und Ehre. Das wäre seines Herzens Freude und Wonne gewesen, wenn er den Herrn mit fröhlichem Munde hätte loben mögen (Psalm 63). Er suchte die Einsamkeit. Er betete und weinte, wie Hosea sagt. Er konnte sich nicht recht sagen, was er wollte. Es war nicht bloß die Furcht, wovon er befreit zu werden wünschte, sondern auch die eigentliche Quelle derselben, das noch nicht im völligen Glauben geöffnete Herz, das Gott in seinen Verheißungen noch nicht so fassen konnte. Es waren gleichsam geistliche Geburtswehen, wie der Heiland sagt, wodurch etwas Neues in der Seele ausgeboren werden sollte.

Aber nachdem der Herr ihn so angefaßt hatte, fing die rechte Arbeit erst an. Der Herr rang selbst wider ihn. Seine Sünde und Unwürdigkeit ward ihm tief aufgedeckt, aber zugleich sein Drang zum Herrn, sein Hunger nach dem Segen so vermehrt, daß er nicht ablassen konnte, mochte es gehen, wie es wollte. Obschon aufs übelste zugerichtet, obschon aller Kraft beraubt, erklärte er dennoch: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Unmöglich kann ich dich eher lassen; ich will, ich muß einen besonderen Segen haben. Der Herr war willens, ihm denselben mitzuteilen, deswegen bereitete er ihn dafür zu. Er raubte ihm alle sonstigen Stützen, damit der Herr selbst sein Stecken und Stab sein könnte. Er benahm ihm alle Kraft, damit er sie in dem Sohne Gottes allein finden möchte. Er mußte die Vertreibung der Furcht, aller ihm gegebenen Verheißungen ungeachtet, er mußte die Umänderung seines Herzens, die Beruhigung seiner Seele für sich unmöglich finden, damit er dies und alles andere allein bei dem Herrn suchte und von ihm erwartete. Er nahm ab, Christus wuchs. Er ward klein, zunichte, damit der Herr groß, ja alles würde, so daß er noch auf seinem Sterbebett bekennen mußte: Er hat mich erlöst von allem Übel und nicht ich selbst, sowie er sein ganzes, inneres Bestehen in den Worten ausdrückt: Herr, ich warte auf dein Heil!

Ähnliche Wege hat der Herr auch mit andern gehalten, an welchen er sich näher in seiner Herrlichkeit offenbaren wollte. Nehmt die Jünger! Der Herr hatte ihnen noch vieles zu sagen, aber sie konnten es da noch nicht tragen; sie waren noch nicht fähig, es zu fassen. Es würde ihnen ungereimt vorgekommen sein, sie hätten es nicht annehmen können; also schwieg der weise Heiland und hatte Geduld, bis der Geist kommen und sie in alle Wahrheit leiten würde. Allein, was ging der näheren Offenbarung Christi in ihren Herzen voran? Der Heiland deutet es selbst (Joh. 16,21) in der Gleichnisrede an: ein Weib, wenn sie gebiert, hat die Traurigkeit, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr der Angst um der Freude willen, daß der Mensch zur Welt geboren ist. So habt auch ihr jetzt Traurigkeit, aber ich will euch wieder sehen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Und Paulus sagt zu den Galatern: Meine lieben Kinder, die ich abermal mit Ängsten gebäre, bis daß Christus in euch eine Gestalt gewinne. Die Jünger aber kamen über dem Leiden Jesu selbst mit in ein tiefes, ungewohntes Leiden. Ihr ganzes, bisheriges Gebäude ward über den Haufen geworfen, und es blieb allein der Grund desselben, den Gott selbst in sie gelegt hatte. Aber der andere Grund der sündlichen Natur offenbarte sich auch auf eine Weise, wie sie es nie von selbst geglaubt hätten. Sie hielten sich zwar schon längst für Sünder, aber doch zugleich für weit bessere Menschen, als sie sich nun kennen lernen mußten. Sie ärgerten sich an Jesus, der doch den selig gepriesen hatte, der sich nicht an ihm ärgern würde. Sie ärgerten sich an Jesus, obschon sie das für unmöglich gehalten hatten und deswegen ihm hartnäckig widersprachen, als er es ihnen voraussagte, es werde mit ihnen dahin kommen. Nimmermehr, antworteten sie; dazu sind wir dir zu sehr ergeben. Aber als es darauf ankam, liefen sie alle davon, ließen Jesus im Stich, suchten es geheim zu halten, daß sie seine Anhänger gewesen, fürchteten sich vor ihren Esausbrüdern und besorgten, sie würden die Mütter mit den Kindern schlagen. Ja, sie fingen an, ihre Hoffnung: Jesus werde Israel erlösen, für grundlos zu halten und also zu denken, es sei ihm von den Juden ein Streich geschehen, dessen er sich nicht versehen habe.

Das ging in ihrem alten Grunde, in ihrem natürlichen Verstande und Herzen vor. Was machte aber indessen ihr neuer Mensch? Der weinte und heulte, wie Jesus ihnen vorhergesagt hatte. Der befand sich in Geburtswehen; aber es war noch keine Kraft da zum Gebären. Der wollte zu einer höheren Stufe des Glaubens ausbrechen; aber es fehlte an dem dazu nötigen Licht und an der Kraft. Sie heulten also vor Unruhe und Angst ihres Herzens und glichen einem Schiff auf stürmischer See. Sie wurden hin und her geworfen, hatten keinen Anker und sahen keinen Hafen. Mit Jesus war es aus und mit ihnen auch. Ein Mann rang mit ihnen, um sie von der Stätte zu drängen, sie an Gott, an Jesus, am Reiche Gottes, an allen Verheißungen, an sich selbst irre zu machen. Der Bräutigam war von ihnen genommen und die Zeit zum Fasten für sie da. Aber was folgte darauf? Eine höhere Offenbarung der Herrlichkeit Christi, eine Einsicht, wie sie sie früher nicht gekannt, ein Glaube, der ihnen bis dahin fremd gewesen, eine Erkenntnis der Schrift, wie sie sie bisher nicht gehabt, eine Demut und ein Vertrauen, eine Unmündigkeit und eine Weisheit, die ihnen früher ganz fremd gewesen waren.

„Ich will dich auserwählt machen im Ofen des Elendes“ (Jes. 48,10). Wer mit Christus auferstehen will, der wird auch vorher im Ölgarten samt ihm um und um mit Trauen umfangen und gebunden worden sein. Er wird eine Weile sich nicht regen können, damit er frei werde, wird vom göttlichen und weltlichen Gericht, vom Gesetz und seinem Gewissen verdammt, damit er für gerecht erklärt, gekreuzigt und getötet werde, damit er Gott lebe. Die wahre Gottseligkeit besteht nicht in Worten, sondern in Früchten der Buße und des Glaubens, in wesentlicher Erfahrung von Sünde sowohl als von Gnade, von sich selbst und von dem lebendigen Gott.

Auf eine ähnliche Weise geht es allen denjenigen unter den Christen, welche dazu verordnet und berufen sind, dem Sohne Gottes gleichförmig zu werden. Nachdem sie die erste Station der Buße durchgegangen, nachdem sie durch die enge Tür ins Reich Gottes gedrungen sind, nachdem sie der Vergebung der Sünden fröhlich versichert worden sind und an Christus und seine Gnade glauben, genießen sie viel. Der Bräutigam ist bei den Hochzeitsleuten, wie können sie Leid tragen? Ein schönes Kleid wird ihnen angelegt. Sie bekommen einen Ring an ihre Finger, Schuhe an ihre Füße. Ein Freudenmahl wird zugerichtet; man hört den Gesang und den Reigen. Die Versicherung vom Gnadenstand ist groß, die Freude innig. Man spricht auch zu andern: Kommt her, die ihr Gott sucht! Man spürt eine Kraft, daß man schon Pauli Ruhmsprache führt: In allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat, einen Mut, der keine Schmach der Welt, kein Kreuz, keinen Tod, keinen Teufel scheut, ein Himmlisch-gesinntsein, das alles auf Erden anekelt, einen Geschmack am Lesen der heiligen Schrift, daß man selbst dem Schlaf einige Stunden abbricht, einen Einfluß zum Beten, daß Stunden verfliegen wie Augenblicke und man nur mit Unlust davon scheidet, Mitteilungen der Gnade, daß man sie kaum auszuhalten vermag, eine Bereitwilligkeit zu leiden, daß man bereit wäre, sein Brot zu betteln und alle seine Habe den Armen zu geben, einen Abscheu an der Sünde, der an Zorn grenzt, eine Leichtigkeit zu allem guten Werk, daß man Jesu Joch von ganzem Herzen als Saft und seine Last als leicht preist. O, wie ist man jetzt so selig! Man meint, man müßte es allen Menschen sagen, damit sie sich doch auch aufmachten. Man gönnt es ihnen, daß sie doch das Glück auch wüßten, und quält wohl seine noch unbekehrten Hausgenossen mit unablässigen Zuredungen, sie möchten sich doch auch bekehren, (gerade als wäre das Menschenwerk) und ruft: „Ach, ganze Welt, ach komm herein! Hier kannst du, daß Gott gnädig sei ohn' dein Verdienst, anschauen!“ Wollen erfahrene Christen solchen Seelen dreinreden, daß sich das ändern werde, so ist ihnen das unglaublich. Wie könnten sie auch fasten, so lange der Bräutigam bei ihnen ist? Vielmehr rufe man ihnen zu: Freuet euch, der König kommt! Durch sein Erbarmen hat der Herr ihren Berg fest gemacht. Sie sprechen: Nimmermehr wollen wir uns fürchten. Aber wenn er sein Angesicht verbirgt, so erschrecken sie. Dies ist gleichsam der Willkomm im Reiche Gottes. Sie kommen, wie die Kinder Israel nach ihrem Auszug aus Ägypten und Durchgang durchs Rote Meer nach Elim zu den zwölf Wasserbrunnen und siebenzig Palmenbäumen und lagern sich daselbst.

Aber von da zieht die ganze Gemeinde in die Wüste, die nach Sinai führt. Die Erquickungen lassen nach und wechseln oft mit großer Dürre. Die Seele empfindet bald eine große Kraft, bald sieht sie sich in dem jämmerlichen Unvermögen. Jetzt hat sie großen Mut und dann eine große Zaghaftigkeit. Nun kann sie sich Jesus zueignen und dann wieder nicht. Zu einer Zeit fühlt sie sich zu heiliger Übergabe sehr geschickt, zu einer andern gar nicht dazu aufgelegt. Dieser beständigen Abwechslungen wird die berufene Seele endlich ungemein müde, und sie fragt: Sollte denn das Herz nicht fest werden können? Sie fragt: Sollte es denn bloß ein Paulus gewesen sein, der da sagen konnte: Ich weiß, an welchen ich glaube, und bin gewiß? Sollte man denn nicht zu dem Glauben gelangen können, den der Apostel beschreibt als eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und nicht zweifeln an dem, das man nicht sieht, als einen Reichtum des gewissen Verstanden? Sollte man denn nach der Vorschrift des Johannes die Liebe, die Gott in Christus zu uns hat, heutzutage nicht mehr so glauben und erkennen können, daß die Furcht durch die Liebe ausgetrieben wird und man eine Freudigkeit hat selbst auf den Tag des Gerichts? Oder sollte ich nur nicht dazu gelangen können, da doch bei Gott kein Ding unmöglich ist, wenngleich ich aus mir selber nicht tüchtig bin zu einigem guten und geneigt zu allem Bösen? Sollte man in unsern Tagen nicht mehr zu einem Gnadenstande gelangen können, wie er jenen Beschreibungen des Apostels gemäß ist, wenn er schreibt von einem Lossein vom bösen Gewissen, von einem freimütigen Hinzunahen zum Gnadenthron, von einer Ruhe in Gott, von einem Anhangen an dem Herrn, wodurch man ein Geist mit ihm wird?

Genug, sie muß glauben, daß es etwas Höheres, Herrlicheres und Seligeres im Christentum gebe, als sie selbst und auch ihre Bekannten es bis dahin erfahren haben mögen, und sie spürt einen lebhaften Hunger nach diesem wesentlichen Christenstande, obschon sie sich desselben unwürdig erkennt und bekennt, daß es von der freien Gnade des Herrn abhange, ob es ihm gefallen wolle, sie aus ihrer bisherigen Enge in einen weiten Raum zu führen, und sie preist diejenigen auserwählten Seelen besonders selig, die aus Gnaden dazu gelangt sind, wobei sie glauben lernt, daß den unehrlichsten Gliedern manchmal die größte Ehre angetan wird und niemand Ursache habe, um seiner Unwürdigkeit willen zu verzagen, weil es nicht ist aus Verdienst der Werke, sondern aus Gnaden. Solche Seelen, die in einem vorzüglichen Sinne nach Gerechtigkeit hungern und dürsten und denen das Sattwerden verheißen ist, empfinden einen Ekel, ein gewisses Mißfallen an ihrem bisherigen Bestehen in der Gottseligkeit, und sie entdecken in allen ihren guten Übungen ungemein viel Armseligkeit und können sie auf die bisherige Weise nicht mehr fortsetzen. Sie sehen zu deutlich die sich in alles mengende Eigenliebe und Eigengerechtigkeit. Sie verabscheuen das eigene Wirken, obschon sie es auch noch nicht aufgeben können. Sie erkennen auch die Erquickung als etwas, was das Wesentliche im Christentum nicht ausmacht. Sie schmachten darnach, daß der Sohn sie recht freimache, daß die Hilfe aus Zion über Israel käme und der Herr sein gefangen Volk erlöste.

Hier nun bekommt der Mensch weit tiefere Einsichten in die eigentliche, verderbte Beschaffenheit unsers Herzens, Einsicht in die schreckliche Eigengerechtigkeit und Eigenliebe, die uns ganz durchdrungen hat, in den ungeheueren Unglauben, worin wir begraben sind, und muß alles Selbsttun als lauter Hinderung betrachten. Hier geht es ihm nicht anders als dem Jakob, da ihm seine Hüfte verrenkt, ihm also alles Vermögen, für sich zu stehen, alles Vermögen, weiter zu kämpfen, benommen war und ihm also nichts übrigblieb, als entweder wehrlos seinem ergrimmten Bruder in die Hände zu geraten oder sich einem Gegner an den Hals zu werfen. Nichts bleibt ihm übrig, als sein Vertrauen und seine Hoffnung ganz auf den Herrn zu setzen und mit Jakob zu sagen: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn; du segnest mich denn mit einem höheren Lichte, als mir bisher geleuchtet, wodurch ich dich, mein Heiland, recht erblicke, wie du am Kreuz mich hast versöhnt, mit einem standhaften Frieden, der mein Herz und Sinn bewahrt in Christo Jesu; statt der bisherigen Störung meines Gemüts, mit einem völligen Glauben, der aus deiner Fülle nimmt eine Gnade um die andere und an dir bleibt wie eine Rebe an dem Weinstock, der eine gänzliche und beständige Zustimmung zu dem Erlösungswerk abgibt und darin beharrt, so daß ich gewisse Zuversicht haben: - du segnest mich mit einer wahren Gemeinschaft mit dir, so daß ich ohne Unterlaß beten, dir Dank opfern und dadurch dich preisen kann! Sehr, so ist das Gebet Jakobs: „Ich lasse dich nicht!“ ein Gebet des Anfangs, aber auch ein Gebet des Fortgangs im Gnadenleben. Wohl dem, der es in beider Beziehung braucht, dem ein Licht aufgeht in der Finsternis!

Der Herr segne uns alle! Er fange sein Werk in den Seelen an, wo es noch nicht geschehen ist! Und wo der Anfang da ist, da fördere er es, daß der völlig Tag anbreche! Völlige Einsicht, völliger Glaube, völlige Heiligung, völlige Liebe sei unser Gnadenteil!

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/k/krummacher_g.d/jakobs_kampf_und_sieg/5._betrachtung.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain