Krummacher, Gottfried Daniel - Jakobs Kampf und Sieg - 11. Betrachtung

Krummacher, Gottfried Daniel - Jakobs Kampf und Sieg - 11. Betrachtung

1. Mose 32,31.32

Und Jakob hieß die Stätte Pniel: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen. Und als er an Pniel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf, und er hinkte an seiner Hüfte.

Der Herr hatte Jakob gesegnet, und so ließ er ihn denn jetzt gehen. Er spürte es an seinem Innern, daß, wenn der Herr auch sichtbarlich vor ihm verschwände, er doch innerlich bei und in ihm bleibe. So geschah es auch den Jüngern bei den Himmelfahrt Jesu. Leiblich schied er von ihnen, aber geistlich und wesentlich blieb und bleibt er bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Und das spüren wir an seinem Geiste, den er uns gegeben hat, an dem Frieden, der Freude und der Kraft, die in uns wirkt. Der ganze Vorgang mit Jakob verdiente ein Denkmal. Er stiftete dieses dadurch, daß er der Stätte, an der sich diese merkwürdige Geschichte zugetragen, einen neuen Namen gab. Er bekam davon ein Sinnbild in der Natur: die aufgehende Sonne, und eine Erinnerung an seinem eigenen Körper: er hinkte.

Der Sohn Gottes hatte Jakob einen neuen Namen gegeben. Der Erzvater konnte das nicht erwidern und auch Gott einen neuen Namen beilegen, wiewohl seine Güte alle Morgen neu, immer gleich frisch und lieblich ist. Er gab also der Stätte einen neuen und passenden Namen, indem er sie Pniel, d. i. das Angesicht Gottes, nannte. Er erklärte sich auch über diesen Namen, indem er hinzusetzte: „Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen“ und die Wirkung davon war diese: „und meine Seele ist genesen“. Gott selbst aber hat dieser Begebenheit dadurch ein Denkmal gestiftet, das so lange dauern wird, als die Erde besteht, indem er sie durch seinen Knecht Mose hat aufzeichnen und durch den Propheten Hosea daran erinnern lassen. Doch – wie sage ich: so lange diese Erde steht? Bis in alle Ewigkeit wird Jakob selbst ein Denk mal dieser Begebenheit sein, und sowie er’s hier durch sein Hinken war, so dort durch seine Herrlichkeit.

Pniel! Diese Erde hat doch ungemein herrliche Stellen. Der sinnliche Mensch findet diejenigen am merkwürdigsten, wo die Natur sich in vorzüglicher Pracht und Majestät offenbart, wo hohe Berge entzückende Aussichten gewähren und lachende Gefilde den Segen des Himmels verkünden, wo majestätische Ströme sich hinwälzen, oder die weite See sich wie eine Ewigkeit vor den vergebens ein Ziel suchenden Blicken dehnt. Der künstlerische Mensch verweilt mit Lust bei den Denkmälern alter und neuer Kunst, er staunt die ungeheuren Dome an, die die Vorzeit himmelan türmte, oder ergötzt sich an der Kunst der Maler oder Bildhauer, welche gleichsam die tote Leinwand und den harten Marmor belebt. Er bewundert die Pracht und Schönheit fürstlicher Paläste und verweilt bewundernd bei den Werken der Kunst. Der geschichtliche Mensch verliert sich in Betrachtungen, wenn er die ehemaligen Schauplätze wichtiger Ereignisse betritt, wenn er des alten Rom mit seinen Erinnerungen ansichtig wird, oder auf einem Felde ist, wo merkwürdige Schlachten geschlagen wurden. Wem sind nicht in dieser Zeit Wittenberg und seine Schloßkirche, die Wartburg, Zürich und Genf, die Namen Luther, Zwingli und Calvin aufs neue merkwürdig geworden, weil sie an ihre folgenreichen Begebenheiten mahnen. Der christliche Mensch hat auch seine merkwürdigen Punkte auf dieser Erde: Bethlehem, Kapernaum, Jerusalem, Golgatha und Ölberg! Weiland besuchte sie der fromme, abergläubische Pilger leiblich, während doch vielleicht sein Herz fern von Gott war. Sein irdisches Auge sah die merkwürdigen Stellen, während sein Geistesauge verschlossen blieb, die Wunder zu erblicken, die daselbst geschahen zum Heil der Sünder. Sein Fuß wandelte in jenem sogenannten heiligen Lande, wo auch einst Abraham wandelte, das der Sohn Gottes mit seinen heiligen Füßen berührte, ja mit seinem Angesicht, das er mit seinen Tränen, mit seinem blutigen Schweiße, mit seinem versöhnenden Blute benetzte, in dessen Schoß sein entseelter Leichnam drei Tage schlummerte, und von wo aus er wieder in den Himmel ging, aus dem er herabgekommen war. Da wandelte auch mancher Pilgerfuß, während es ihm nicht gegeben ward, in den Fußstapfen des Glaubens Abrahams zu wandeln und den Weg des Friedens zu wissen, ja, während er den Sohn Gottes dadurch von sich stieß, daß er seine eigene Arbeit als eine Versöhnung für seine Sünden geltend zu machen gedachte. Jene Stellen sind dem Gläubigen lauter Pniels, Offenbarungen der Herrlichkeit Gottes, indem sein Glaube und seine Liebe in dem, was dort geschah, die Weide des ewigen Lebens findet. Und hat nicht jeder Christ seine besonderen Pniels, wo sich Gott besonders an ihm offenbarte, sein Betkämmerlein, eine Predigt, ein Buch, eine Gesellschaft, eine einsame Stunde und dergleichen, die ihm ewig unvergeßlich bleiben?

Jakob nannte diese merkwürdige Stätte Pniel, nicht um sich selbst, nicht um dem , was er daselbst getan und ausgerichtet hatte, ein Denkmal zu setzen, sondern dem, was er da von Gott erkannt und erfahren hatte, der ihm erwiesenen Gnadenwohltat. Seht hier den Charakter aller Kinder Gottes! Die Welt ist stolz und rühmt sich selbst. Sie hat das getan und jenes ausgerichtet. Sie will dafür angesehen, gelobt und für ihren Eifer, ihre Klugheit und Geschicklichkeit geehrt werden. Eigene Ehre ist ihr Ziel, und Verweigerung derselben ist ihre empfindlichste Kränkung. Mit jenem Pharisäer schreibt sie es sich selbst zu, daß sie dies und das nicht ist, und jenes doch tut und ist. Sie will ihren Ruhm keinem andern lassen und findet sich durch den sehr beleidigt, der ihn an sich reißen will. Selbst wenn der Sohn Gottes sagt: Ohne mich könnt ihr nichts tun, so darf er nichts als Widerspruch erwarten; und wenn Paulus spricht: Nicht aus euch, sondern Gottes Gabe ist es, so findet sie das beleidigend, die stolze Welt! Das weiß der Herr bei den Seinigen schon anders herauszubringen, und sollte er ihnen das Gelenk der Hüfte zerbrechen müssen. Er tut’s damit, wer sich rühmen will, sich seiner eigenen Schwachheit und des Herrn rühme, aller eigene Ruhm aber zu Grunde gehe und aufhöre.

Jakob gibt den Grund der Benennung dieser Stätte in den Worten an: denn ich habe Gott von Angesicht gesehen. Hier finden wir eine völlige Aufklärung darüber, was für einer es war, der mit Jakob gekämpft, der ihm seine Hüfte verrenkt, ihm einen neuen Namen gegeben und ihn gesegnet hatte. Er war kein Engel. Jakob konnte wohl Engel. Auf seiner Flucht vor seinem Bruder, da er einsam in einer Wüste auf der Erde schlief, einen Stein statt des Kissens unter dem Haupte, sah er in einem Traum die Engel Gottes an einer Leiter auf- und niedersteigen, und der Herr stand oben darauf. Auf seiner Rückreise begegneten ihm wieder zwei Heere Engel, und er nannte die Stätte, wo dies geschah: Mahanaim. Hier aber war kein geschaffener Engel, sondern Gott selbst, jedoch diejenige Person des göttlichen Wesens, die zugleich „der Gesandte“ genannt wird, der in der Fülle der Zeit wirklich im Fleisch geoffenbart ist: Jesus Christus. Fragen wir, woran Jakob es mit einer solchen Gewißheit merkte, daß es eine göttliche Person war, mit der er’s zu tun hatte, so antworten wird: er wurde davon auf die selten geheimnisvolle Weise vergewissert, wie die am Grabe weinende Magdalena durch das eine Wort „Maria“ versichert wurde, es sei nicht der Gärtner, sondern Jesus selbst, der mit ihr redete, wie die Jünger am See Tiberias so innig überzeugt wurden, es sei der Herr, daß niemand fragen durfte: „wer bist du?“ Der Geist gibt Zeugnis, daß Geist – Wahrheit ist (1. Joh. 5,6). – Es ist um die christliche Überzeugung eine besondere Sache. Es ist ein Innewerden, daß es sich wirklich so verhalte, eine gewisse Zuversicht, die nicht zweifelt und nicht zweifeln kann, da hingegen ein bloß menschlicher Glaube denkt, es könnte sich so, aber auch anders verhalten.

Jakob nun sagte: Ich habe Gott von Angesicht gesehen. Paulus nannte Gott „den Unsichtbaren“ und sagt von ihm: er wohnt in einem Licht, dazu niemand kommen kann, den kein Mensch gesehen hat, noch sehen kann. Dennoch lesen wir 2. Mose 24: Aaron und seine Söhne und die siebenzig Ältesten des Volks Israel mußten auf den Berg Sinai steigen und von fern anbeten. Mose allein aber nahte sich dem Herrn. Und da sie hinaufgestiegen waren, sahen sie den Gott Israels: unter seinen Füßen war es wie Saphir (der himmelblau ist mit goldenen Punkten) und wie die Gestalt des Himmels, wenn’s klar ist. Auch Jesaja sah den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Stuhl, und sein Saum füllte den Tempel, und der, den er sah, war Jesus Christus (Joh. 12,41).

Das Volk Israel hatte sich bald nach der Gesetzgebung durch Abgötterei versündigt. Als Mose vom Berge herabkam und sah und hörte, mit welcher tobenden Freude das Volk dem goldenen Kalbe diente, zerwarf er im Zorn die zwei Gesetzestafeln, die er vom Berge Sinai mitbrachte, und in welche Gott selbst die zehn Gebote geschrieben. Besonders ergrimmte er über seinen Bruder Aaron, der das Kalb gegossen hatte. Zum Volk aber sagte er: Ihr habt eine große Sünde getan, aber ich will hinaufsteigen, ob ich vielleicht eure Sünde versöhnen möchte. Er stieg hinauf und sprach: Ach, Herr, das Volk hat eine große Sünde getan! Aber vergib ihnen ihre Sünde; wo nicht, so tilge mich aus dem Buche, das du geschrieben hast! Was? Antwortete der Herr, ich will den aus meinem Buche tilgen, der an mir sündigt. Führe das Volk ins Land! Ein Engel soll vor dir hergehen, ich will nicht mit dir hinaufziehen, denn du bist ein halsstarriges Volk, ich möchte dich unterwegs auffressen. daß gefiel dem Mose nicht, und er tat noch einmal eine demütige Fürbitte, und da Gott sie eine Zeit her nur „das Volk“ genannt hatte, so sagte Mose: Gedenke doch, daß dies Volk dein Volk ist, und der Herr erklärte nun: Mein Angesicht soll gehen, damit will ich dich leiten. Mose ergriff das begierig und sprach: Wo nicht dein Angesicht geht, so führe uns nicht von dannen hinauf; denn wobei soll erkannt werden, daß ich und dein Volk vor deinen Augen Gnade gefunden haben, ohne wenn du mit uns gehst? Was du gesagt hast, will ich tun, antwortete der Herr, denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen. Dies machte den Mose so kühn, daß er bat: So laß mich deine Herrlichkeit sehen! Der Herr antwortete: Ich will alle meine Güte vor dir her lassen gehen und will den Namen des Herrn predigen lassen vor dir. Wem ich aber gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich. Mein Angesicht aber kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Aber von hinten wirst du mir nachsehen. Und so sah Mose des Herrn Herrlichkeit von hinten, und Moses Angesicht glänzte davon, daß die Kinder Israel ihn ohne Decke nicht sehen konnten.

Jakob sagt auch: ich habe Gott von Angesicht gesehen. Er sah aber eigentlich nur die menschliche Gestalt, die der Herr für eine Zeitlang angenommen hatte. In der Fülle der Zeit hat er unsre Natur zu einer persönlichen Vereinigung mit seiner göttlichen angenommen. Der Unermeßliche hat sich dadurch mit Schranken umgeben, und der Unsichtbare ist sichtbar, Gott ein Mensch geworden. Kündlich großes Geheimnis! Mit welchem Entzücken werden ihn einst alle seine Auserwählten schauen, werden ihm gleich sein und ihn sehen, wie er ist! Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!

Es gibt aber auch hienieden ein übersinnliches, geistliches Sehen Gottes in der Gnade. Die Erde, der Himmel mit seiner majestätischen Gestirnenpracht, die jetzige, schöne Jahreszeit, die blühenden Bäume, die wallenden Saaten, das Rollen des Donners in den Wolken, der milde Tau, alles mahnt uns an die allwaltende Vorsehung.

Allein Hiob sagte endlich, nachdem der Her ihn aus dem Wetter belehrt hatte: Sonst hörte ich dich mit dem Gehör meiner Ohren, aber nun sieht dich mein Auge. Und die Frucht davon war diese: Darum schuldige ich mich und tue Buße in Staub und Asche. Die Erkenntnis also, welche Hiob nach dem Kreuz bekam, war ungemein viel tiefer und gründlicher als zuvor, wie man von einer Sache, die man mit Augen sieht, einen viel deutlicheren Begriff bekommt, als wenn man nur davon hört. Dem Jakob ging es auch so. Es war ihm ein nehmendes Licht über diesem Kämpfen aufgegangen, wie er es bisher noch nicht gehabt. Er war mit seinem Gott weit genauer bekannt geworden als bis dahin, wie wenn man jemand von Angesicht sieht, von dem man bisher nur reden hörte. Ist das nun das ewige Leben, daß man den wahrhaftigen Gott und den er gesandt hat, Jesus Christus, erkennt; besteht Leben in Gerechtigkeit, Friede und Freude, so hatte er in diesem allen auf eine merkliche Weise zugenommen. Christus hatte eine ausgebildetere Gestalt in ihm gewonnen, obschon empfindliche Angst vorhergegangen war.

In deinem Lichte sehen wir das Licht, sagt David und betet: Öffne mir die Augen, daß ich sehe die Wunder an deinem Gesetz! Er bekennt auch: Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es und macht klug die Einfältigen. Petrus aber spricht: Wachset in der Gnade und Erkenntnis unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi! Dies geschieht nun eben nicht durch Nachdenken, Studieren und Lesen. Dadurch kann man den Kopf wohl voll rechtgläubiger Begriffe und Gedanken bekommen: allein dies ist nur, wie Paulus sagt, die Form, was zu wissen und was recht ist. Es gleicht den nichtverdauten Speisen, die wohl aufblähen, aber nicht stärken und nähren. Deswegen sagt der nämliche Apostel: Das Wissen bläht auf, aber die Liebe bessert. Der Unterricht, den Jesus erteilt, wird durch den heiligen Geist auf dem Wege der Erfahrung geschenkt, durch das Mittel von allerhand Führungen, des Kreuzes und der Tröstungen, der Mitteilung und Beraubung, der Angst und des Friedens, der Stärke und der Ohnmacht. So leitet er die Sünder auf dem Wege, er leitet die Elenden recht und lehrt die Elenden seinen Weg. So unterweist er sie über Sünde und Gnade, bis sie mit Hiob dahin kommen, daß sie sich selbst ganz verwerfen und Gott alle Ehre geben. Da wird dann der Weg eben, der bisher höckerig war.

Sodann gibt auch Jakob die Wirkung dieses Sehens an und setzt hinzu: Meine Seele ist genesen. Ich bin errettet. Sein vorheriger Zustand war bedrängt; von außen Streit, von innen Furcht. Esau mit seinen vierhundert Mann schreckte ihn. Sein Glaube war schwach, sein Mut klein. Die Freude war auch aus seiner Seele gewichen, und ein Gewölk von Traurigkeit umdunkelte sein Gemüt und ergoß sich in Tränen. Diese Nacht war die angstvollste und peinlichste seines Lebens. Er sah nichts anders als den Tod vor sich, den Esau ihm geschworen, und er wußte, daß mit demselben nicht zu scherzen sei. Es schien, Gott selbst übergab ihn dem Tode, da er ihm gebot, aus Mesopotamien zurückzukehren. Er nahm seine Zuflucht im Gebet zu dem Gott, der ihn bisher gesegnet und beschützt hatte, um ihm seine Not und Furcht zu klagen, um sich Errettung auszubitten. Durch was für ein Mittel er ihm helfen könnte, wußte er nicht. Aber wie ging es ihm über dem Beten? Wir wissen es. Ein Mann rang dermaßen mit ihm, daß er sich seine Hüfte verrenkte.

So übt der Herr die Seinen durch manches Kreuz, unter welchem sie umkommen und verzagen zu müssen denken und wirklich umkommen und verzagen würden, erhielte der Herr sie nicht auf eine ihnen selbst zwar unmerkliche, dennoch aber treue und zuverlässige Weise. Ja, die Wahrheit zu sagen, kommen sie wirklich um und verzagen – nämlich an sich selbst, so daß sie ihrerseits ausrufen müssen: Wir verderben, daß ihnen Glauben, Lieben und Hoffen entrissen wird, wie es dem Jakob nicht nur benommen ward, sich zu wehren, sondern selbst auch nur fliehen zu können. Solche Stände sind in der Tat keine Kurzweil, wie es bei Jakob auch nicht war. Aber das Ende der Wege Gottes ist besser als ihr Anfang. Auf die Erniedrigung folgt die Erhöhung und das Leben auf den Tod.

So erwies es sich auch an Jakob. „Meine Seele ist errettet worden“, sagte er. Es war ihm jetzt ganz anders zu Mute. Er glich dem Adler, der wieder jung wird, dem seine Federn wieder wachsen, daß er sich auf seinen Schwingen wieder erheben und hoch in den Lüften sich in den Sonnenstrahlen wiegen kann. Sein Vertrauen zu Gott ward lebendig und beruhigte seine ganze Seele, so daß er getrost um sich her schauen konnte. Die Furcht war weg, daß er dem Esau getrost unter die Augen treten konnte, er hatte alles genug. Ein solcher lieblicher Wechsel ist in unzähligen Sprüchen verheißen: Ich will euch wieder sehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Ich will euch trösten, wie eine Mutter ihr Kind tröstet. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit – und was der schönen Zusagen mehr sind. Sie werden auch treulich erfüllt an allen denen, die der Herr demütigt, und deswegen heißt es: So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, daß er euch erhöhe zu seiner Zeit. Mein Herz freut sich, daß du so gern hilfst. Ich will den Herrn rühmen, daß er so wohl an mir tut. Er hat meine Augen von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten, meine Seele aus dem Tode gerissen. Lobe den Herren, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat. So rühmte der nämliche David, der auch so manche Klage erhob. So rühmt so manches Kind Gottes. Und was wird es für ein Rühmen, Jauchzen und Loben werden, wenn sie aus aller Trübsal in den Himmel kommen, nachdem sie ihre Kleider gewaschen und helle gemacht haben in dem Blute des Lammes.

Doch welch einen Ruhm der herrlichen Gnade erweckt es schon hienieden in den begnadigten Seelen, die mit David rühmen dürfen: Der Herr errettete ihn aus aller Furcht; die auf eine dauerhafte Weise in dem Herrn Friede, wenn auch in der Welt Angst haben, und die große Gnade erlangt haben, sich alle Wege in dem Herrn zu freuen und in kindlichem Geiste das: „Abba, lieber Vater! Zu rufen. O selige Seelen, welche erlöst von dem knechtischen Geist der Dienstbarkeit, erlöst von der Furcht des Todes, frei gemacht durch das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christus Jesus, von dem Gesetz der Sünde – Gott dienen, nicht nach den Buchstaben, sondern nach dem Geiste. Dies ist die herrliche Frucht des Anschauens der Herrlichkeit Gottes in dem Angesichte Jesus Christi durch den heiligen Geist.

Wollen wir den vollen Sinn Jakobs bemerken, so müssen wir bedenken, daß er sich in seiner Sprache eigentlich so ausdrückt: Ich bin gerettet worden und werde gerettet werden, so daß ihn auch eine stärkende Zuversicht für die Zukunft belebte. Der Herr hatte zu ihm gesagt: Du bist obgelegen – oder genauer ausgedrückt: Du bist tüchtig gemacht und wirst tüchtig gemacht werden, obzuliegen. Hier ist nun das Echo des Glaubens: Ich bin errettet worden und werde errettet werden. Mögen mich künftig nach dem Willen Gottes neue Drangsale treffen sollen, ich werde errettet werden, und endlich wird er mir aushelfen aus aller Trübsal zu seinem herrlichen Reich; des bin ich in guter Zuversicht, denn ich weiß, wer es ist, an den ich glaube. Gott hält, was er verspricht. Er hat dem Jakob durch alles treulich durchgeholfen, wiewohl er noch manche schwere Trübsal hat durchwandern müssen. Eine der härtesten derselben war der vermeintliche Tod seines Lieblings, Joseph, den ein wildes Tier unterwegs zerrissen haben sollte, da er ihn ausgesandt hatte, worüber er sich ohne Zweifel selbst sehr bittere Vorwürfe als über eine große Unbesonnenheit machte und deswegen sehr lange Leid trug, bis sich endlich auch dieses unerwartet herrlich aufklärte. Ob Jakob unter allen diesen Umständen mit eben der Ruhe hat sagen können: Ich werde errettet werden, weiß ich nicht. Aus seiner langwierigen Trauer über Joseph und aus seiner Erklärung: Wenn dem Benjamin auch ein Unfall begegnete, daß er stürbe, so würden meine grauen Haare mit Herzeleid in die Grube fahren, scheint das Gegenteil zu erhellen, wie auch aus den übertriebenen Reden gegen seine Söhne, die den Benjamin mit nach Ägypten haben wollten: Ihr beraubt mich aller meiner Kinder, sagte er, Joseph ist nicht mehr vorhanden, Simeon ist nicht mehr vorhanden, Benjamin wollt ihr auch hinnehmen; es geht alles über mich. Und als seine Söhne früher den schändlichen Mord an den Sichemiten begangen hatten, geriet er wieder in Furcht und sagte: Wir sind ein geringer Haufe. Die Kanaaniter werden sich versammeln und mich vertilgen samt meinem Hause. Wo ist denn nun dein glaube? Möchte man fragen. Aber auch dies gereicht sehr zur Verherrlichung Gottes und zum Beweise, daß er allein gut ist und wir ohne ihn nichts können. In der Freudigkeit seines Herzens und im Genuß der göttlichen Gaben mein der Mensch wohl: nun sei sein Berg so fest gesetzt, daß er nimmermehr darniederliegen werde. Und warum meint er das? Weil er heimlich für sich selbst etwas geworden zu sein glaubt und meint, er habe nun den Glauben usw. bekommen, um welchen er so lange gebetet. Aber da kann es noch immer wieder mit ihm dahin kommen, daß er wie Jakob sich selbst ansieht und besorgt, seine mächtigen Feinde möchten ihn noch einst vertilgen samt seinem Hause. O, was hat Gott mit uns zu tun, um uns in die wahre Armut des Geistes einzuführen und darin zu erhalten! Immer und immer wollen wir groß, etwas in uns selbst werden, wachsen, stark, geschickt in uns selbst sein! Immer und immer muß uns daher der Herr von unserer Armut und unserem Elend überzeugen. Aber diese alles würde auch nichts helfen, gäbe er es nicht endlich selbst einigen Seelen, ihm das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit beizulegen und sich in der Tat und Wahrheit für ein Nichts selbst dann zu achten, wenn sie das Gaben die Fülle haben; aber auch in der Tat und mit Beruhigung zu glauben und daran sich zu begnügen, daß in Christus alle Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt. Wohl ist es wahr, daß niemand etwas nehmen oder behalten kann, es sei ihm denn gegeben vom Himmel.

Jetzt ging die Sonne auf. Dies prachtvolle Schauspiel der Natur war auch ein Bild dessen, was in der Seele des Patriarchen vorgegangen war. Die Nacht verging. Ein lieblicher Tag brach an. Ihm ging sie auf. Einst sollte die Sonne der Gerechtigkeit und der Aufgang aus der Höhe erscheinen denen, die da saßen in Finsternis und Schatten des Todes und ihre Füße auf den Weg des Friedens richten. O, sie gehe auf, sie gehe uns auf, diese Sonne mit ihren genesenden Strahlen! Sie gehe auf der ganzen Christenheit, den Nachkommen Israels, der ganzen Welt!

Und Jakob hinkte. Jeder Tritt erinnerte ihn an die große Barmherzigkeit des Herrn und zugleich an seine Nichtigkeit. Jeder Tritt hob und demütigte ihn. Und wenn andere seinen Namen hörten und ihn hinken sahen, so wurden auch sie daran erinnert, daß der Herr sich gnädiger gegen die Seinen herabläßt, als man glauben sollte. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit! Amen.

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