Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Die Suchende

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Die Suchende

Erste Predigt

Hohelied Salomons 3, 1-4.

Ich suchte des Nachts auf meinem Lager, den meine Seele liebt; ich suchte, aber ich fand ihn nicht.
Ich will aufstehen, und in der Stadt umgehen, auf den Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebet. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umgehen: Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet? Da ich ein wenig vor ihnen überkam, da fand ich, den meine Seele liebet. -Ich halte ihn und will ihn nicht lassen, bis ich ihn bringe in meiner Mutter Haus, in meiner Mutter Kammer.

Die Braut, die Gemeinde des Herrn, oder die einzelne gläubige Seele, öffnet uns in der verlesenen Stelle die Schatzkammer ihrer geistlichen Erfahrungen, und erzählt uns etwas aus ihrer Führung und innern Lebensgeschichte, wozu gewiß mancher unter uns in dem, was er selber auf dem Wege des Heils schon erlebt, den Schlüssel finden wird. O! eine feine, tiefe und große Wahrheit, welche in der Erzählung der Braut uns vor die Augen tritt. Was uns an Christum bindet, das muß nicht sowohl der süße Geschmack seiner Güte, als vielmehr das schmerzliche Gefühl unserer Armuth und unseres Elendes sein. Das ist die Wahrheit, in deren große Bedeutung unsere heutige Betrachtung uns tiefere Blicke eröffnen möge.

Nach Anleitung ihrer eigenen Aeußerungen, beobachten wir die Braut mit stetem Blick auf uns, in einer vierfachen Lage:

  1. Zuerst wie sie schwelgt in geistlichem Reichthum.
  2. Wie sie verliert, was sie hat, und in der Verbannung schmachtet.
  3. Wie sie im Wiedersuchen begriffen ist und nicht findet.
  4. Wie sie findet um nicht mehr zu verlieren.

I

Ich suchte des Nachts auf meinem Lager. Wen denn? - Den meine Seele liebt. Christum, den Schönsten der Menschenkinder. Christum, den himmlischen Bräutigam. Den hatte die klagende Seele gehabt auf ihrem Lager. Liebliches Bild, mit welchem die ganze Seligkeit des Zustandes angedeutet wird, in dem sie sich zuvor befunden hatte! Sie hatte den Herrn auf ihrem Lager. Den Herrn auf seinem Lager haben, was kann das anders heißen, als bei ihm und in ihm ruhen, seiner beseligenden Nähe auf das Allerlebhafteste und Empfindlichste inne werden, seine Freundlichkeit schmecken, voll sein von warmem, innigem Gefühl der Liebe und Zärtlichkeit gegen ihn, und lauter Lust und Freude empfinden bei der Betrachtung seiner Person, seiner Thaten, seines Wortes. Den Herrn auf seinem Lager haben, was heißt das anders, als seiner Zuneigung und Liebe sich versichert fühlen, seiner Verheißungen und Zusagen im Herzen froh und gewiß sein, erfüllt sein mit andächtigen Rührungen und Bewegungen des Gemüthes, und mit lebendigem innern Drang und Trieb, ihn zu loben und zu preisen, über ihn zu jubeln und zu frohlocken.

Blicket zurück auf die Aeußerungen unserer Braut in den vorhergehenden Versen ihres Liedes. Da sie jubelte: „Der Geruch deiner Salben ist lieblich; dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe.“ Da sie ausrief: „Mein Freund ist mir eine Cophertraube in den Weingärten Enggedi. Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich. Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein Freund unter den Söhnen. Ich sitze unter seinem Schatten, deß ich begehre, und seine Frucht ist meinem Gaumen süße. Er führet mich in den Weinkeller, und die Liebe ist sein Panier über mir. Er erquicket mich mit Blumen, und labet mich mit Aepfeln, denn ich bin krank vor Liebe. Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet.“ - Da sie also sang und jauchzte, da also das Saitenspiel ihres Herzens klang und tönte, da hatte sie, den ihre Seele liebt, auf ihrem Lager. -

Dieser süße und liebliche Zustand, da man den Herrn auf seinem Lager hat, tritt gewöhnlich in der ersten Zeit der Bekehrung ein. Der Pfingsthauch, der Wind vom Himmel, blaset daher, und unter seinem allmächtigen Wehen schmelzen allmählig, wie Schneedecken, die Hüllen hinweg von der Wüste unseres Herzens und Lebens. - Es zerreißen die Schleier der Selbstverblendung, und ehe wir's uns versehen, kommt uns, die wir bisher so satt waren und nichts begehrten, unsere große Friedens- und Freuden-Armuth vor die Augen. - Wir fühlen Lücken, die verzäunt, und geistliche Bedürfnisse, die gestillt sein wollen. - Wir finden, daß es mit uns nicht stehe, wie es stehen sollte - und es sagt uns ein lebendiges Gefühl, daß es anders mit uns werden müsse. - Worte und Werke, Gesinnungen und Bestrebungen, die uns bis dahin gut und recht gedünkt, fangen an uns zu beunruhigen, und wir fühlen ein innerliches Nagen, wie eines Wurmes, der nicht sterben, wie eines verborgenen Feuers, das nicht verlöschen will. - Da laufen wir denn um, zu suchen, was uns heilen, und was den wunderbaren Durst der Seele stillen mögte. Aber diese Welt ist nicht Gilead, und ihre Hülfen, Rathschläge und Linderungsmittel sind eitel ausgehauene, löcherichte Brunnen, die kein Wasser geben. - Je mehr wir das erfahren, je mehr wächst unser Hunger und Kummer, daß es endlich gar aus ist mit aller Freude - und alle Thränenquellen sich erschließen, und das Lachen in bitterliches Weinen sich verkehret. - Das ist der Thaumond - da unter dem Brausen des Pfingstwindes die starren Eisesbanden des natürlichen Stolzes und der Unbußfertigkeit zu brechen beginnen, und der Mensch die verdeckenden Hüllen von seinem Jammer schwinden stehet. - Wohin nun? Nun, es ist ein Zug der Gnade da - eine Hand in der Wolke, die leitet sicher, und irret Niemand. - Man kommt zu Jesu, - man schreiet, man seufzt um Gnade, man bekommt Antwort in seine Seele, und nun nimmt der Mai seinen Anfang, nun bricht die Zeit herein, da man, wie die Braut, den Herrn aus seinem Lager hat. Ach Gott, wie einem nun so wohl ist! - Welch ein Leben, gegen das arme, kümmerliche Leben in der Welt gehalten! - Wißt ihr noch, wie es uns war in jener Zeit? Wie da Alles in der Blüthe stand auf unseres Herzens Acker? Wie wir da weinen konnten, wie die Kinder vor Rührung und Freude weinen, so oft wir uns ergötzten im Garten der Schrift, so oft wir gedachten des Herrn, wie er so treu gewesen, und sein Wort und seine Geschichte lasen? - Wie uns das Herz hüpfte und bebte vor Entzücken, wenn wir von ihm zeugen und predigen hörten, wie wir voll Inbrunst waren, wenn sein Lob gesungen wurde und wie wir beten konnten, mit welcher Inbrunst, mit welchem Drang und Trieb, mit welcher Lust und Liebe. - Wie wir nun angethan waren und gerüstet, von ihm zu reden, wie wir nun in einem Nu die Welt bekehren, und von den Dächern und auf den Gassen seinen Namen verkündigen wollten. - Wie wir Mauern suchten. um mit unserm Gott darüber zu springen, und lebendige Steine um ihm schnell einen Tempel zu bauen, - und wir gar nicht begreifen konnten, daß andere Christen so still waren, so ruhig und gehalten, und nicht die Fülle unserer Empfindungen teilten und nicht in unsern Jubel einstimmten, ja wohl gar im Stande waren, zu klagen und zu seufzen, da wir für immer ausgeklagt und ausgeseufzt zu haben meinten. - Gedenkt ihr noch an diese Zeit? - Da hatten wir in dem Sinne. in welchem die Braut es meint in unserm Texte, den Herrn auf unserm Lager. Dieser Stand war süß und selig, aber es durfte dann für unsere Seele kein Bleibens sein. Der Herr mußte uns zu seiner Zeit aus diesem Lande Gosen geistlicher Vergnügungen, von dieser fetten Weide der Empfindungen, wieder ausführen. - Denn hüben wir nicht schon heimlich an, in dieser Lage übermüthig zu werden und um der seligen Aufgeregtheit unseres Gemüthes wollen, uns für große Heilige zu halten, für Sonderlinge vor Andern? Begannen Wir nicht schon in der Freude über unsern Reichtum des Bettelstabes uns zu schämen, und ließ der Drang und das Bedürfnis nicht schon nach, anzuklopfen an die Gnadenpforte, und mit den Armen und Elenden an der Thüre des reichen Herrn uns zu lagern? - War es nicht schon im Grunde weit mehr unser eigenes Frommsein und unsere Empfindungsfülle. worauf wir bauten und fußten, und um weßwillen wir dem Gericht zu entrinnen hofften - als Christus und sein Verdienst? - Fingen wir nicht schon an. den Grund unserer künftigen Seligkeit in uns zu suchen, anstatt allein außer uns in dem Gekreuzigten? - Und was wir liebten, war es nicht weit mehr das Brod womit uns Christus speisete, der Wein, damit er uns tränkte, als Er selbst? - Wir liebten ihn, ja. wir hingen ihm an. allerdings. Was war es aber für eine Liebe? - War es jene ernste, heilige, feste Liebe. die da ihren Grund hat im Bewußtsein: Christus ist mein Blutbürge. der mein Leben aus der Hölle gerissen hat. und dem ich's danke daß das Feuer des Gerichts mich nicht verzehret? - War es jene Liebe, die da geankert ist in dem beugenden Gefühl: ich bin nicht werth, daß die Sonne mich bescheinet, und Christus hat die Himmel verlassen, um meinetwillen, - um meine, den Teufeln verfallene Seele zu retten und mit seinem Leben zu erkaufen? - War es jenes Anhangen an ihn und jenes Festklammern, das seinen Grund hat in der lebendigsten Anerkennung unserer gänzlichen Ohnmacht, Nichtigkeit und Untüchtigkeit, und in der Ueberzeugung, daß man jeden Augenblick von Christi Gnade leben müsse? - O nein, so weit reichte unser Blick noch nicht, weder in uns selbst und die Tiefe unseres Verderbens, noch in den Abgrund der Verdienste Christi. Wir hatten nur erst oben abgeschöpft, sowohl vom Pfuhle unserer Verwüstung, als von dem grundlosen Meere der Liebe und Barmherzigkeit des Mittlers. Nur oberflächlich konnte darum auch unsere Liebe zu ihm sein. - Einzelne Sünden waren uns wohl schon vor die Augen gekommen, aber unsere Sündigkeit noch nicht; diese, jene Uebertretung, aber noch nicht die ganze wüste und zerrüttete Grund unseres Herzens; - ein und der andere Auswuchs, aber noch nicht der böse Saft, der uns durchströmt, noch nicht das ganze Bild Belials, das wir in uns tragen. Mit einem Wort: wir waren für Christum noch mehr eingenommen, des süßen Geschmacks seiner Gaben wegen, als daß wir durch das Gefühl unseres Elendes und seiner Unentbehrlichkeit zu unserem Heil an ihn gebunden gewesen wären. - Und das ist ein laxes und loses Band, das eine Liebe, die jeder Wind der Anfechtung auslöschen kann, - nicht aber eine feurige Gluth, die stark ist wie der Tod, fest wie die Hölle, - und die auch viele Ströme nicht ersäufen können. -

II

Damit es nun aber mit uns komme zu jenem vollkommenen Stand, da man Christo anhängt, nicht mehr blos der Lust wegen, die man bei ihm hat, sondern des Elends wegen, das man in sich findet; - nicht mehr der Aepfel und Blumen halber, damit er uns labet, sondern seiner Unentbehrlichkeit wegen, zu unserm ewigen Heile; - nicht mehr wegen der gefühlvollen, schönen Stunden, die man in seinem Reiche genießet, - sondern aus dem Grunde, weil man sich außer seiner Gemeinschaft, dem Zorn und Feuereifer Gottes und allen finstern Mächten Preis gegeben fühlt. - Damit unsere Stellung zu ihm also werde, daß wir uns gleichsam an seinen Hals hängen und sprechen: „Herr Jesu, mach's nun mit mir, wie Du willst, erquicke mich oder auch nicht, sättige mein Herz mit Manna oder laß mich darben, - Dich lasse ich nicht, denn wo ich Dich nicht hätte, verginge ich in meinem Elende; denn außer Dir ist nichts als Nacht und Tod und Hölle,“ - damit es dahin mit uns komme, pflegt es der Herr zu machen, wie er's mit der Braut machte. - Zu seiner Zeit verwandelt er den heitern Sonnentag in unserm Gemüthe in dunkle Nacht, und entzieht uns alle Labung und Erquickung. - „Ich suchte des Nachts auf meinem Lager, den meine Seele liebt, spricht die Braut, ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“ - Es war also Nacht geworden um sie her, und sie mußte klagen: „ich habe den Herrn verloren.“

Nacht, in dem Sinne, in welchem die Braut es versteht, ist es dann für uns geworden, wenn das Gefühl von der beseligenden Nähe des Herrn aus uns verschwunden ist, und unser Herz keinen Geschmack mehr hat von dem lieblichen Wesen zu seiner Rechten. Nacht ist es worden, wenn die Fülle seliger Empfindungen und Rührungen in uns vertrocknete und die Lust am Herrn, und dem, was des Herrn ist, in uns ausging. - Nacht ist es worden, wenn das Wort, das wir lesen, uns nicht mehr rührt, wenn die Verheißungen, die wir vernehmen, unser Gemüth kalt und unerregt lassen, wenn die Predigt, der wir horchen, keinen Genuß mehr bietet, wenn der Gottesdienst, der uns zuvor das freudigste Geschäft gewesen, uns zu einer Last wird; - wenn wir den seligen Trieb vermissen zum Bekennen, und den überschwenglichen, wohlthuenden Drang zum Loben und Preisen, - und die Beschäftigung mit den heiligsten, größten Dingen unser Herz nicht mehr zerfließen macht in angenehmen Rührungen und süßen Gefühlen. - Dann ist es Nacht geworden. O des jammervollen Zustandes, da die Narde unserer geistlichen Erkenntniß ihren Geruch verloren hat, da die Trauben im Garten des Evangeliums für uns keinen Saft mehr haben, und die Blumen keinen Duft, - und da unser Herz ist, wie ein dürrer Sandfleck, und die geistliche Zunge uns am Gaumen klebt! -

Da geht's denn nun ans Klagen und Lamentiren, da liegen wir am Boden und wissen nicht Rath und Trost mehr, denn die Krücke, darauf wir uns lehnten, war nicht das Verdienst Christi, sondern unser Gefühl, und diese Krücke ist nun zerbrochen. Und der Grund, darauf wir das Haus unserer Hoffnung bauten, war nicht der Balken des Kreuzes, sondern vielmehr der lose Boden unseres eigenen Frommseins und unserer lebhaften Empfindungen, und wir sind gewohnt, mehr auf uns zu sehen, als auf den Gekreuzigten, - und unser Trost war mehr unser Liebesgefühl zum Herrn, als die Liebe des Herrn zu uns. - Darum haben wir aber auch nichts mehr von der ganzen Heilsanstalt Christi, sobald einmal über das Blüthenfeld unserer Empfindungen und Gefühle ein Winterfrost hereinbricht, und müssen dann klagen mit der Braut: ich habe den Herrn verloren.

III

Was begibt sich nun weiter in diesem Zustande der Beraubung und Verbannung, wenn der Herr den üppigen Frühling unseres Herzens in kalten Winter verwandelte, und das Saitenspiel in uns verstummte, und das sonst so aufgeregte, empfindungsvolle und selig gerührte Herz zu einem Sandfleck worden ist? - Wir sehen's an der Braut. Da es Nacht in ihr worden war, da dachte sie: ich will aufstehen und suchen, den meine Seele liebt. - Ja wohl: „ich will - ich will.“ - Da sieht man's, wie wenig sie sich selbst noch kennt. Ich will aufstehen, will mich selber wieder aufrichten, will mich in das verlorne Paradies zurückversetzen, will mich wieder hineinarbeiten in den vorigen seligen Stand, will in mir das Liebesgefühl zum Herrn, und die Begeisterung für ihn wieder aufwecken; - will mein Herz wieder erwärmen und erleuchten, will mir wieder erwerben die vorige Freudigkeit und die Lust zum Rühmen, Loben und Bekennen, will meinen Mund wieder salben und mein Gemüth wieder so regsam machen, so rührig und empfänglich; ja was will sie nicht alles? - Aber laßt sie nur wollen, laßt sie sich nur abmühen! - Ueberaus heilsame Entdeckungen wird sie machen auf diesem Wege. Ein Jammerweg wird's für sie sein, aber am Ende dieses Weges liegt Heil und großer Segen. -

Ich will aufstehen. Wohin will sie nun? - Ich will in der Stadt umgehen, auf den Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebt. - In der Stadt? - Ja, in Jerusalem, dem geistlichen nämlich; - im Reiche Gottes, in der Gemeinde der Gläubigen, da gedenkt sie das verlorene, freudige Empfindungsleben wieder zu finden. - Doch ach, ich suchte, heißt es, aber ich fand ihn nicht. - Was sie sagen will, nicht wahr, wir wissen es aus eigener Erfahrung. - Ei ja, als uns jene Nacht überfiel, da meinten wir auch noch, wir könnten selbst das Freudenlicht uns wieder hervorarbeiten in unsere Seele, und vermögten unser dürres Herz uns selbst wieder aufzufrischen. Da hieß es auch noch: ich will, ich will, - als ob alles in unseren Händen gelegen hätte. - Da machten wir uns auch auf und durchstrichen die Gassen Jerusalems, und hofften, bald hier, bald dort, bald durch dieses, bald durch jenes Mittel, das Quellwasser geistlicher Freude wieder in uns herauf zu pumpen, doch ach, „ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“ -

Bald waren es herzerhebende, schöne geistliche Bücher, die wir vor uns aufthaten, von denen wir uns predigen ließen, in der Hoffnung, dadurch würden wir wieder Odem bekommen, und den stehenden Teich der Empfindungen wieder in Bewegung setzen und zum Wellenschlag bringen. - Aber ach, die Bücher dünkten uns schaal und nüchtern, und ließen uns, wie wir waren, matt und trocken. - Wir suchten, aber fanden nicht. - Wir eilten zu den Versammlungen der Heiligen, wo freudig gezeugt wurde von Christo und seiner Liebe, wo sein Lob ertönte in lieblichen geistlichen Liedern, und herzliche Gebete zum Himmel stiegen, da dachten wir, müßte auch uns der Freudengeist wieder ergreifen, auch uns das Herz wieder aufthaun, und der Mund sich wieder öffnen. - Aber wir suchten, und fanden nicht. - Waren Andere beredet, wir blieben stumm; - floß es von Andern ab wie lebendiges Wasser, wir hatten keine Erquickung daran und erquickten niemand, - vermochten Andere inbrünstig zu beten, wir konnten nur trockene Worte machen. - Alles flog aufwärts auf Andachtsflügeln, wir blieben unten stehen, und die Flügel wollten uns nicht wachsen. - Wir thaten uns Gewalt an, mitzusingen, aber der Gesang wollte nun einmal durchaus nicht von den Lippen in's Herz kommen, das Herz blieb, ach! so sang- und klanglos. - Wir suchten, aber wir fanden nicht. - Wir drängten uns hinzu, wo es irgend feierliche Auftritte und Handlungen gab, in der Hoffnung, da werde das Eis unseres Herzens wieder aufthauen, da würden wir wieder etwas schmäcken von dem lieblichen Wesen, das zur Rechten des Herrn ist ewiglich. - Aber es war Nacht und blieb Nacht, und dem Winter in uns schien kein Frühling mehr folgen zu wollen. - Wir suchten, aber wir fanden nicht. - Wir liefen uns die Füße wund in Jerusalems Gassen, nahmen bald zu diesem, bald zu jenem frommen Freunde unsere Zuflucht, und klagten, aber es blieb beim Klagen; wir versuchten bald dieses, bald jenes, um unser Herz wieder jung zu machen, lebendig und blühend; aber immer aufs Neue mußten wir seufzen mit der Braut: ich suche ihn, aber ich fand ihn nicht. -

Die Braut stößt auf die Wächter, die in der Stadt umgehen. Die Wächter? - Wer sind die? - Das sind wir Botschafter an Christi Statt, deren Beruf es ist, umzugehen in Jerusalem, zu wachen, daß kein Schade geschieht in der Stadt, zu wecken die Seelen, die wir im brennenden Hause und am Rande des Abgrundes schlafend finden; zurückzuführen die Nachtwandler von den gefahrvollen Felswänden, worauf sie klimmen, - zu warnen, die da irren vom Wege, des Lebens, zu trösten, die da einsam sitzen und weinen; - aufzumuntern, die daniederliegen in den Gassen, und denen der Odem ausgegangen ist, daß sie nicht weiter können. Ja, die Wächter, das sind die Haushalter über Gottes Geheimnisse. - Zu denen kam die Braut: „Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?“ Unter denen, meint die Braut, müsse sie wohl finden, was sie suche; - aber ach, auch diese letzte Hoffnung belog sie. - Auch hier heißt es: „ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“ - Mahnung, Rath und Lehre genug, aber kein Leben, kein Freudenlicht, keine Liebe, keine Lust am Herrn und seinen Sachen, nichts von dem, was sie suchte. - Da hatte sie sich denn matt und müde gerannt in den Gassen der Stadt Jerusalem, und alles versucht, - aber es blieb bei der Klage: „ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“

IV

So hatte es denn nun allerdings den Anschein, als ob die Braut auf immer von allem Heil hinweggeschleudert wäre, - und doch war sie ihrem Heil noch nie so nahe gewesen, als grade jetzt. Sie stand nun auf dem Punkte, zu Christo in das rechte Verhältniß zu kommen und in die Verbindung mit ihm, die ewig währet. Sie hatte nun alles versucht, um sich für den Herrn, sein Reich und seine Sache zu erwärmen. - Alles war eitel und vergeblich gewesen, und selbst unter den Wächtern, die in der Stadt umgehen, hatte sie nicht wiedergefunden, was sie verloren. - Todt, wie sie zu ihnen kam, zog sie auch wieder von ihnen zurück. - Und als sie nun ein wenig vor ihnen überkam, - da, nun, was geschah da? da, denke ich mir, stand sie für's Erste stille, und ging, wohin? sie ging hinein, zunächst in sich selbst, in ihr eigen armes mattes Herz, und fühlte es mit voller Klarheit und Gründlichkeit zum erstenmal in ihrem Leben, wie der Mensch Null sei, und sein Können und Vermögen Null, und wie er durch die Sünde in der allerfürchterlichsten Ohnmacht darnieder liege. - Nein, daß es so traurig mit ihm aussehe, daß er so in sich abgestorben sei, daß er nicht einmal vermöge, aus sich selbst sein Herz in Liebe zu erwärmen gegen den größten aller Wohlthäter, den treusten aller Freunde, daß er nicht einmal sich selber den Mund öffnen könne zum Preis und Lobe dessen, der wie Keiner im Himmel und auf Erden, des Lobes, Dankes und des Preises würdig ist, - daß er nicht einmal im Stande sei, aus sich selber sich zu freun über die größten Segnungen, sich im Gebet zu Gott emporzuschwingen, und seine Lust zu haben an dem Herrn und seinen Gütern, und daß selbst die allertrefflichsten Mittel viel zu schwach seien, um den Fels seines Herzens in Andacht, Liebe und heiliger Rührung zu zerschmelzen, - nein, das hätte sie nimmer gedacht, nimmer sich träumen lassen! - Wie hätte es ihr je einfallen können, die menschliche Natur für so verwüstet zu halten! - Aber nun gingen ihr erst auf dem Wege der Erfahrung die Augen auf über die ganze Zerrüttung der Natur. Nun erst fühlte sie es recht, wie des Menschen Leben von Natur nur ein Tod sei und kein Leben; - nun erst erkannte sie sich in ihrem ganzen Verfall, in der ganzen Kraft- und Saftlosigkeit ihres Wesens und Willens, in ihrer großen Verkommenheit und Hülfsbedürftigkeit, - und war es ihr bisher genug gewesen, einen Bräutigam zu haben, der ihr viel Gutes that, und der Freuden und Erquickungen viel ihr schenkte, - ach Gott! nun erhub sich in ihr das Geschrei nach einem Bürgen, der für sie einträte, nach einem Mittler, der sich ihrer armen Seele annähme, nach einem Fürsprecher, der ihr durch's Gericht hülfe, nach einem Erneuerer, der sie in seine Arbeit nähme und etwas aus ihr machte, woran das Auge Gottes einiges Wohlgefallen haben könnte. - Und was sie suchte, sie fand es in der Person dessen, der ihr bisher mehr nur ein lieber Freund gewesen war, welcher ihr das Leben erheiterte und das Herz fröhlich machte; aber ach, was war er ihr nicht alles jetzt geworden! „Da ich ein wenig vorüber war, da, jauchzt sie, da fand ich, den meine Seele liebt.“

Ist es uns nicht auf gleiche Weise ergangen, meine Brüder? Anfangs hingen auch wir dem Herrn mehr darum an, weil wir von ihm und seinen Worten viele Freude hatten, als darum, weil wir uns ohne ihn ewig hätten verloren gefühlt. - Das war aber nur ein loses Anhangen, eine matte Liebe, die nicht länger dauerte, als das Freudengefühl unseres Herzens. War das verschwunden, und die Tafel, da wir Lust und Erquickung genossen, abgetragen, dann waren wir, ach! wieder los von Christo, und konnten ihn zehnmal verläugnen in einem Athemzug, auf allerlei Weise. Aber als wir erst unter des Geistes Erleuchtung, in uns die ganze verwüstete Kreatur zu sehen bekamen, und in Christo den ewigen Blutbürgen und Mittler, dessen Hand allein unser Leben aus den ewigen Flammen reißen kann, da war unser Verhältniß zu ihm und unser Anhangen ein ganz anderes geworden. -

Ich halte ihn, jauchzt die Braut, und will ihn nicht lassen. - Warum denn nicht? - Weil er dir viele Freude in dein Herz gibt, und manche Erquickungsstunde dir bereitet aus Erden? - O nein, würde die Braut erwiedern, wenn sie unter uns wäre, - o nein, und wenn er mich darben ließe Jahraus und ein, und mich nichts schmäcken ließe von seiner großen Lieblichkeit, ich halte ihn, und will ihn nicht lassen, weil ich weiß, daß nur Er mich vom ewigen Tode retten kann. - Ich halte ihn und will ihn nicht lassen. - Warum denn nicht? - Weil man's bei ihm so gut hat, und Er das Leben dir versüßet? O nein, würde sie zur Antwort geben, o nein, - und wenn er mir lauter Galle zu trinken gäbe in dieser Welt; - ich weiß, daß Er allein es ist, der mir an den finstern Klüften der Ewigkeit vorüber, und durch's Feuer des Gerichts hindurch helfen kann, darum halte ich ihn und will ihn nicht lassen. - Ich halte ihn und will ihn nicht lassen. - Warum denn nicht? - Weil Er dir helfen kann, daß du die Gerechtigkeit erlangest, die vor Gott gilt? - Ei, was helfen kann, würde die Braut sagen, - ich kann nichts, nichts dazu thun, daß ich geschmückt werde zur großen Hochzeit. - Er muß und kann mich ganz allein in den Nock und die Kleider des Heils hüllen, in denen Gott uns sehen will. Darum halte ich ihn, und will ihn nicht lassen, - und gebe mich ganz in seine Hände. - „Ich halte ihn, und will ihn nicht lassen,“ jauchzt sie, oder vielmehr der Geist, der in ihr ist - „bis ich ihn bringe in meiner Mutter Haus, in meiner Mutter Kammer.“ - In meiner Mutter Haus? - Nun ja, Paulus sagt Gal. 4, 26.: Aber das Jerusalem da droben, das ist die Freie, das ist unser aller Mutter.„ - Dahin will sie ihren Bürgen bringen, dahin von ihrem Bürgen sich bringen lassen. - Sehet, Geliebte! so ist also nun die Seele, durch des Herrn Gnade und Führung, in den Stand gekommen, daß sie an Christus hängt, und an ihn gebunden ist; nicht mehr, wie anfangs, durch das Gefühl des Freudenreichthums, den sie durch ihn erhielt, sondern durch das Gefühl ihrer Armuth und ihres großen Elendes, - nicht mehr blos, wie anfangs, durch die Erfahrung: „Bei ihm ist gut sein,“ sondern nun durch die gründliche Ueberzeugung: außer ihm ist Hölle, Tod und Verderben. - Sie sieht in ihm nicht mehr blos ihren Erquicker, sondern ihren ewigen Retter und Nothhelfer; - und sie hofft das ewige Leben nicht mehr, wie früher, von ihrer Liebe des Herrn zu ihr, denn sie weiß, was für ein Gemachte sie ist, und stützt sich nicht mehr auf ihre frommen Empfindungen, sondern allein auf das Verdienst Christi, und es ist ganz aus ihrer Seele gesprochen, was Assaph sagt im 73sten Psalm: „Herr! wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, meines Herzens Trost und mein Theil.“ Nun, lieben Brüder, es führe so der Herrn uns sammt und sonders, daß das Bewußtsein unseres Nichts die Fessel werde, die uns mit ihm verknüpfe - und sein Verdienst und seine Sünderliebe der Fels und Grund, worauf sich einzig unser Friede baue.

Ach, liebster Herr! wenn du entweichst,
was hilft mir sein geboren?
Wenn du mir Deine Lieb' entzeugst,
ist all' mein Gut verloren.
So gib, daß ich Dich, meinen Gast,
wohl such, und bester Massen
möge fassen;
Und, wann ich Dich gefaßt,
in Ewigkeit nicht lassen. Amen.

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