Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - VII. Das Ostermahl.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - VII. Das Ostermahl.

An der Schwelle der Passionsgeschichte steht so überschwänglich reich an Gehalt und Bedeutung, wie schlicht und unansehnlich seiner äußeren Erscheinung nach, das heilige Bundesmahl, und erschließt uns nicht allein das innerste Geheimniß der Marter Jesu, sondern reicht uns zugleich im Voraus schon den Inbegriff seiner Segensfrüchte zum Genüsse dar. Vom Herrn selbst zur Reichs- und Familientafel bestimmt, bei der die hausgenossenschaftliche Einheit seiner Gläubigen nicht allein anschaulich dargestellt, sondern zugleich genährt und getragen werde, hat dieses in lauter Liebe getauchte, und nur auf Förderung der Liebe berechnete Mahl in grellstem Widerspruch mit seiner Bestimmung gerade das ärgste Haderfeuer angezündet, ja, die Kirche zerrissen und dreifach gespalten. Und wollte Gott, daß wir von einem solchen Unglück nur als von einem vergangenen reden dürften! Aber leider! bildet selbst inmitten der evangelischen Kirche das heilige Abendmahl immer noch das Meriba, den Ort des Haders, wo Brüder, mit einem Blut erkauft, mit einem Geist getränkt, und an einer Heilandsbrust gebettet, einander die Gemeinschaft künden, und schmollend, oder gar sich wechselsweise verdammend auseinandergehn. Verschuldet dies das heilige Mahl? O, ferne sei es! Verschuldet's die Schrift mit einer etwa ungenügenden Lehre von des Mahles Zweck? - Ebensowenig. Die Schuld fällt lediglich auf das Haupt der sündigen Menschen, die, statt in Einfalt an der Schriftdeutung sich genügen zu lassen, und der apostolischen Mahnung 2 Timoth. 1, 13: „Halte an dem Vorbilde der heilsamen Worte, die du von mir gehöret hast,“ nachzuleben, mit klügelndem Vorwitz die Grenzen des Schriftwortes zu überschreiten wagen, und auch da den Schleier des Geheimnisses lüften zu müssen meinen, wo Gottes Wort ihn ungehoben ruhen läßt. Die kirchliche Einigkeit würde unversehrt geblieben sein, hätte man sich zu der wahrhaft weisen Uebereinkunft verstanden, dasjenige als das Wesentliche in der Bedeutung des heiligen Abendmahles festzuhalten, was uns das Wort unzweideutig als solches bezeichnet, und um das wenigstens nicht streiten, geschweige sich entzweien zu wollen, was klarer uns zu offenbaren der heiligen Schrift nicht gefallen hat. - Aber enthält die Schrift überhaupt Bestimmtes und Unzweideutiges über des Abendmahls Sinn, Zweck und Bedeutung? - Unbestritten, geliebte Brüder. Mögen unsre heutige und die ihr folgenden Betrachtungen uns davon überzeugen. Wir gehn auf die Einsetzung des heiligen Mahls zurück, und schöpfen somit unsre Anschauung von demselben, unbefangen durch ein menschlich gefaßtes Dogma, aus der Quelle.

Matth. 26, 29. Marc. 14, 25. Luc. 22, 14-18.

Und da die Stunde kam, setzte er sich nieder, und die zwölf Apostel mit ihm. Und er sprach zu ihnen: Mich hat herzlich verlanget, dies Osterlamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide. Denn ich sage euch, daß ich hinfort nicht mehr davon essen werde, bis daß erfüllet werde im Reiche Gottes. Und er nahm den Kelch, dankete und sprach: Nehmet denselbigen und theilet ihn unter euch denn ich sage euch: Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis das Reich Gottes komme, und bis an den Tag, da ich es neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.

Was für diesmal unsre Andacht beschäftigen wird, ist nicht schon das heilige Bundesmahl selbst, sondern nur Einleitendes und Vorbereitendes zu dessen Stiftung, aus dem wir aber schon ein vorlaufendes Licht über die Bedeutung des Mahles selbst sich werden ergießen sehn. Wir vernehmen heute zuerst, was der Herr zu seinem Sakrament verklärte, sodann, in welcher Gemüthsverfassung er zur Einsetzung des heiligen Mahles schritt; und endlich, welche Aussichten er vor dessen Stiftung den Seinen eröffnete.

Begleite uns Sein Segen auf unserm Betrachtungsgange!

1.

Der Herr hat sein prophetisches Tagewerk vollendet. Der Meister Israels tritt in den Hintergrund zurück; der Hohepriester Gottes beschreitet die Opferstätte. Was er auf der Höhe des Oelbergs verordnete, ist geschehn. Petrus und Johannes sind auf seinen Befehl hingeeilt, haben den von dem Meister aufs genaueste bezeichneten Mann mit dem Wasserkruge beim Eingang in die heilige Stadt getroffen, dann, der Spur dieses Mannes folgend, das befreundete Haus erreicht, und den Hausherrn auf ihre Ansprache: „Der Meister läßt dir sagen: Wo ist die Herberge, darin ich das Osterlamm essen möge mit meinen Jüngern?“ willfährig gefunden, ihnen zu diesem heiligen Zwecke einen großen gepflasterten Saal in seiner Wohnung zur Verfügung zu stellen. Der Herr selbst folgte später am Abende nach; und in dem bezeichneten Gemache ist es, wo wir ihn heute in trautem Kreise mit seinen Zwölfen vereinigt finden. Das Passah- oder Osterfest bricht eben an, der Feste Israels höchstes, herrlichstes und freudenreichstes; das eigentliche Geburtsfest des auserwählten Bundesvolkes; das Fest, das seit fünfzehn Jahrhunderten gefeiert, alljährlich wieder mit neuer Wonne begrüßt ward, durch sein bloßes Dasein die geschichtliche Wahrheit der einstmaligen Wundererrettung des Samens Abrahams vom Schwerte des Rachengels durch das Blut der Lämmer über allen Widerspruch erhob, als Gedächtnißfest dieser großen Begebenheit immer wieder zu erneuertem Dank, aber auch zu erneuerter Beugung vor dem Gott der Gnade aufrief, und zugleich mit der Erlösungsbedürftigkeit die Hoffnung auf das durch die Erlösung in Egypten nur vorgebildete Heils- und Rettungswunder im Blute des verheißenen großen Friedensfürsten frischte. Werfen wir zunächst auf die vorbildliche Thatsache einen flüchtigen Blick zurück. Der Engel des richterlichen Gottes war vom Throne der ewigen Majestät entsendet, alle Erstgeburt in Egypten zu schlagen und vom Angesichte der Erde hinweg zu mähen. Dem Samen Abrahams jedoch wurde aus göttlichem Auftrag ein Rettungsmittel an die Hand gegeben, und worin dasselbe bestand, wißt ihr. Jeder einzelne Familienvater sollte ein fehlerloses Lamm männlichen Geschlechts von seiner Heerde nehmen, dasselbe schlachten, dessen Blut an die Pfosten seiner Hausthür sprengen, und dann mit den Seinigen sich ruhig und getrost in seiner Hütte halten. „Das Blut,“ sprach der Herr, „soll euer Zeichen sein an den Häusern, darin ihr wohnt, daß, wenn ich das Blut sehe, ich vor euch übergehe, und euch nicht die Plage widerfahre, die euch verderbe, wenn ich Egypten schlagen werde.“ Und es geschah, wie der Herr geboten. Wer aber kann in dieser göttlichen Anordnung die geheimnißvolle Bilderschrift verkennen, die sie im Schoße trug? Wer überhört in ihr die symbolische Predigt von der im Rathe Gottes den Sündern zugedachten ewigen Erlösung? Wem bleibt es zweifelhaft, daß das Lamm, an welches die Rettung geknüpft ward, Christum, den einigen Heiland, bedeutete; des Lammes Schlachtung auf Christi sühnendes Leiden und Sterben für die Sünder hinüberzielte; die Besprengung der Thürpfosten mit der Lämmer Blut die den gläubigen Sündern widerfahrende göttliche Zurechnung der Verdienste des großen Bürgen abschattete, und die sichere Geborgenheit der der Veranstaltung Gottes in kindlicher Einfalt sich beugenden Israeliten nur die vollkommene Begnadigung wiederspiegeln sollte, welche der Ewige fort und fort Allen, die der Heilsordnung der Buße und des Glaubens in Demuth sich unterwerfen würden, umsonst, und lediglich im Hinblick auf das vermittelnde Blut des Gotteslammes würde zu Theil werden lassen? - Diese große sinnbildliche Heilsverkündigung hallte alle die Jahrhunderte ununterbrochen, und zwar dadurch in Israel fort, daß in Folge gottverordneter Stiftung das Wunder Egyptens alljährlich am Passahfeste dem Volke wieder lebhaft vergegenwärtigt wurde. Da sahen sie die Lämmer, diese bedeutsamen Vorbilder des erhofften Gotteslammes, wieder zur Schlachtbank führen. Da erneuerte sich angesichts des strömenden Bluts derselben mit dem Dank für die erste Verschonung die vorbildliche in Egypten, die freudige Hoffnung auf die andere, die wesenhafte, der man entgegenhalte. Da rief man sich wieder mit verstärkter Zuversicht einander zu: „ Er wird unfehlbar kommen, der unsre Krankheit auf sich nehmen wird; denn hier haben wir des Wahrhaftigen in der Höhe Siegel und Unterpfand.“ Und indem man nach vollzogener Opferceremonie das Osterlamm im festlichen Familienkreis verzehrte, freute man sich, selbst auch auf dein verschleierten Grunde dieses unscheinbaren häuslichen und sinnlichen Aktes wieder einen göttlichen Gedanken, und zwar den anzutreffen, daß eine gläubige Aneignung und Hinnahme dessen, was Gott den Sündern in Christi Blut bereiten werde, die einzige Bedingung bilden solle, an welche die Betheiligung an dem großen bis in die Ewigkeit hinüber reichenden Gnadenschatz geknüpft sein werde.

Brüder, wir haben das Moment entdeckt, an welches Christus seine Abendmahlsstiftung anschloß. Das Ostermahl ist's. Das Wörtlein: „anschloß“ besagt hier jedoch zu wenig. Wir bezeichnen die Sache richtiger, wenn wir sagen, Christus habe das mosaische Passah- oder Erlösungs-Mahl zu seinem Sakramente verklärt. Eine sehr irrige Anschauung liegt der Redeweise zum Grunde, welche das Alte Testament durch das neue „abgeschafft“ oder „beseitigt“ nennt. Abgeschafft ist auch nicht der unscheinbarste Theil des mosaischen Ritus und Ceremonials, sondern Alles vielmehr nur aus dem Zustande des Schattenhaften und Vorbildenden in's wirkliche Sein und Wesen aufgehoben. Dies ist der Sinn des Ausspruchs Christi: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Strichlein vom Gesetz, bis daß es Alles geschehe.“ So wie die Blüthe am Baum keine Vernichtung erfährt, sondern welkend nur in die Frucht sich aufhebt, und in dieser ein wesenhafteres Leben fortlebt; in gleicher Weise hatte Alles, was im alten Bunde als Schatten und Typus auftrat, die göttliche Bestimmung, im neuen Realität anzuziehn und sich zu verkörpern. Die alttestamentliche Priesterfigur z.B. wurde in Christo wirklich; wirklich wurde in Christi Tod das Sühneopfer der alten Hütte; es fand sein wesenhaftes Gegenbild das ganze levitische Besprengungs-, Waschungs- und Reinigungsritual in der Reinigung durch Christi Wort, Blut und Geist. Ja, nicht das Geringste im mosaischen Schattenwerk sank als taube Blüthe hin oder blieb leerer Schattenriß und unerfülltes Bild. Es verleiblichte sich Alles. Das Puppengespinnst zerriß; der Zwiefalter stieg daraus empor. Ein merkwürdiger und glaubensstärkender Umstand dies! Das ganze Erlösungswerk Christi erscheint somit Akt für Akt nur als die lebensvolle Ausführung und Verwirklichung eines schon länger als tausend Jahre zuvor dem Volke Israel, und in diesem der ganzen Welt, vor Augen gestellten Modells und Bildercyklus. Kann dies Zufall sein oder auch nur Einfädelung menschlich kluger Berechnung? Unmöglich! Hin waltet der lebendige und persönliche Gott! Hier ist Sein Plan, Sein Werk, Sein Thun. Wer dies bezweifelt, bezweifelt bei hellem Tage das Dasein der Sonne. Gott begegnet uns verhüllt nur in der Natur; im Zusammenhange seiner Offenbarung dagegen aller Schleier und Decken baar und ledig. Schließt für eine Zeitlang nur einmal in den Bibelbau euch ein, und schickt wiederholt herzinnige Seufzer um göttliche Erleuchtung hinauf zur Höhe: und ohne Unterlaß werdet ihr in dem heiligen Bibel-Tempel von dem: „Hie bin Ich, hie bin Ich,“ euch umklungen hören, und des Entdeckens neuer Wunder und Herrlichkeiten wird für euch kein Ende sein.

2.

Wie nun die Rettungsgeschichte in Egypten an dem blutigen Versöhnungswerte selbst, so fand das göttlich verordnete Ostermahl an dem heiligen Abendmahle sein erfülltes und wesenhaftes Gegenbild. - Kommt nun, und sehet! Der Tisch zu Jerusalem ist bereitet, und Alles, was das Festmahl erfordert, aufgetragen. So eben kam der geheimnißvolle Akt der Fußwaschung zu seinem Schluß, und nun darf das Brod gebrochen, die Speise genommen werden. Die Jünger sind tief bewegt. Der Meister, der seinen Brüdern „in Allem gleich ward, ausgenommen die Sünde,“ und in dessen Brust ein menschlich, tiefinnig mit uns armen Adamskindern sympathisirend Herz schlug, ist es nicht minder. Er sieht das Passahlamm vor sich stehn, und in demselben sein eigen Bild. Er ist „das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“, wie er als solches gleich zu Anfang schon durch seinen Vorläufer sich hatte ankündigen lassen. Zum erneuerten Zeugniß, daß Er es sei, hatte er an demselben Tage, an welchem die Osterlämmer in die heilige Stadt eingeführt zu werden pflegten, auch seinen Einzug in dieselbe gehalten. - Nachdem man sich denn wieder an der festlichen Tafel niedergelassen, beginnt er mit der Stimme inniger Zärtlichkeit: „Mich hat herzlich verlangt, dies Osterlamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide.“ O, beachtet's, welch' einen Blick Er uns hier in das Heiligthum seines Innern thun läßt. Ihn hat „herzlich verlangt,“ mit ihnen noch dies Mahl zu halten. Aus welchem Grunde doch? - Allerdings wollte Ihm auch das schon lieblich und süß erscheinen, die letzten Stunden seines Lebens in der Knechtsgestalt, von den Mißtönen des Unglaubens entfernt, und dem Getümmel der verneinenden Welt entnommen, im friedlichen Kreise seiner Einverstandenen, dieser keimenden Saat seiner Kirche, verbringen zu können. Auch das schon hatte ihn lockend und tröstlich gedeucht, den Schluß seines nunmehr vollendeten Laufes im Schoße der Liebe, in der Gemeinschaft seiner Vertrauten feiern, und dann in ungestörter, festlicher Weise mit denselben seinen Abschied machen zu dürfen. Aber denkt nicht, hierin den Grund seines Verlangens schon erschöpft zu haben. Hütet euch überhaupt, dem Herrn irgend etwas von jenem kränkelnden Wesen zuzuschreiben, was wir Sentimentalität oder Empfindsamkeit zu nennen pflegen. Wie in Ihm Alles gesund, und voller Kern und Energie war, so war Ihm auch unsre schwächliche Gefühligkeit, unser egoistisches Selbstergötzen in weichen, träumerischen Empfindungen etwas völlig Fremdes. Was so herzlich Ihn nach diesem letzten Ostermahl verlangen gemacht, war allerdings die Liebe, aber nicht die Liebe, die genießen will; sondern diejenige, die wohlzuthun, zu erfreuen und zu segnen brennet.

Sein auf dies letzte Ostermahl gerichtetes Verlangen entstieg vornehmlich seinem sehnlichen Begehren, daß die Stunde gekommen sein möchte, da er unserm Fluchstande ein Ende machen, und die Handschrift, die wider uns war, an's Holz nageln könnte; und sodann freute Er sich längst so herzinnig aus diesen stillen Abend als auf den Zeitpunkt, da es Ihm vergönnt sein werde, in der beabsichtigten, geheimnißvollen Stiftung zu Gunsten seiner Lieben gleichsam sein Testament zu machen, und unter Zustimmung seines himmlischen Vaters auf sie die Früchte seines versöhnenden Lebens, Leidens und Sterbens zu vererben. Mit seinem Worte: um des alsdann einzusetzenden Abendmahls willen hatte er sich so lebhaft und herzlich nach dem Eintritt dieser letzten Passahfeier gesehnt. Als lockendes Denkbild stand diese Gründung seiner Liebe seit Jahren schon vor seiner Seele. Ermesset hienach die hohe Bedeutung, die dieser heiligen Stiftung zu Grunde liegen muß. Nein, ein Akt, in dem es nur auf Anordnung einer wiederkehrenden freundschaftlichen Erinnerungsfeier abgesehn gewesen wäre, hätte für das Herz des Sohnes Gottes nimmermehr der Gegenstand eines so tiefen, heißen und durchhaltenden Verlangens werden können. Das „mich hat herzlich verlangt“ reicht allein schon hin, nicht blos die rationalistische, sondern auch des sonst so theuerwerthen Zürcherischen Reformators Ansicht vom heiligen Abendmahle zu widerlegen. Das „mich hat herzlich verlangt“ drückt an und für sich schon dem heiligen Mahle den Stempel eines göttlichen Geheimnisses, eines Sakramentes auf. - O Du, mein Herr und Heiland, so innig also sehnte Dein Herz sich nach dem Momente, da Du dieses Vermächtniß Deiner Leutseligkeit uns Sündern überweisen könntest? Selbst die grausige Todesnacht, die bald darnach Dich umschatten sollte, ließ dieser Gedanke der Erbarmung Dich übersehen?!

Ach, wie Du uns geliebt hast; geliebet „bis an das Ende!“ - Und wer liebt Dich wieder, und schätzt das Geschenk Deiner Gnade nach Gebühr, und dankt Dir, wie sich's ziemte, für das uns zugedachte reiche Erbe?! O Herr, wie tief sind wir entartet, verkommen und verloren! Erbarme Dich unser, o Jesu, und schaffe ein „Neues“ in uns nach Deiner Verheißung! -

3.

An das Wort: „Mich hat herzlich verlangt,“ knüpft der Herr nun zunächst ein anderes, und zwar ein Wort von prophetischer Natur, dem er bald darauf ein zweites gleicher Gattung folgen laßt. .Denn ich sage euch,„ spricht er „daß ich hinfort nicht mehr davon essen werde, bis daß erfüllet werde im Reiche Gottes.“ - „Wir scheiden,“ will er sagen. „Unser Verhältniß zu einander wird fortan ein anderes, ein neues. Aber wir werden uns wiedersehn, und dann auch wieder zusammen zu Tische sitzen.“ „Wann?“ fragen wir wißbegierig und gespannt; und fragen weiter: „Was ist's, das dem Herrn, über den Trennungsschmerz Ihn erhebend, hier vor dem Geistesauge schwebt?“ - In ein fern Zukünftiges schaut sein Blick hinaus. Hört ihn: „Ich werde hinfort nicht mehr davon essen, bis daß erfüllet werde (was? Natürlich das Passah) „im Reiche Gottes.“ - Der Herr weiß, was er sagt, und sieht, auf was er zielt, mit frohlockendem Geiste klar und in bestimmten Umrissen vor sich. Uns dämmert etwas nur davon fernher entgegen; aber auch schon das reicht hin, um von des Herrn Freude einen Wiederschein auch in unser Herz hinein zu leiten. Das Passahmahl des Alten Testamentes hat, nachdem es zum Abendmahle sich verklärte, seine schließliche Erfüllung noch nicht gefunden. Es weist prophetisch noch auf ein Weiteres, und sogar Größeres und Herrlicheres hinüber. Es steht in Zukunft ein Fest der Versöhnten und Erlöseten bevor, zu welchem auch unsre gegenwärtige Communion wieder nur wie Abbild zum Wesen, oder doch wie Vorschmack zum Vollgenuß sich verhält. Wenn dieses Fest gefeiert werden wird, wird der Glaube dem Schauen, das Stückwerk dem Vollkommenen, der Sünderstand der vollendeten Heiligung, und der Kampf und Streit dem andauernden Triumph gewichen sein. Dieses durch nichts mehr unterbrochene Jubelfest fällt mit der Fertigung und Vollendung des Reiches Gottes, so wie mit der Verklärung der Natur, in einen Moment zusammen. An die Stelle unsres Abendmahls tritt dann etwas Neues. Worin dasselbe bestehen werde, darnach fragt mich nicht. Gewiß aber ist, daß der Herr mit dem „Ich esse hinfort nicht mehr mit euch von diesem Passah, bis es erfüllet werde“, nicht blos sagen will: „Bis wir miteinander der vollendeten Herrlichkeit meines Reichs und seiner Genossenschaft uns freuen werden.“ Zur Auflösung seines Ausspruchs in eine solche Allgemeinheit sind wir nicht befugt. Die Ausdrucksweise, deren er sich bedient, leidet schon diese Deutung auf ein unbestimmtes Geistige nicht; und vollends widerstrebt derselben der Zusatz, mit welchem der Herr später jenes Wort ergänzt. Zum Ritual des Ostermahls gehörte es, daß bei demselben vier Becher herumgereicht wurden, welche sich auf die vier verheißungsreichen Worte in der göttlichen Ankündigung des Rettungswunders in Egypten beziehen sollten; auf die Worte nämlich: „Ich, Jehova, will euch ausführen, - erretten, - erlösen, - und euch annehmen zum Volk als euer Gott!“ - Nach Darreichung eines dieser Becher bei dem trauten Mahle zu Jerusalem, wahrscheinlich des ersten der viere, der mit dem Abendmahlsbecher, dessen im zwanzigsten Verse unseres Textcapitels erst Erwähnung geschieht, nicht zu verwechseln ist, sprach der Herr: „Ich sage euch aber: ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis an jenen Tag, da ich es neu mit euch trinken werde in meines Vaters Reich. - Was bedeutet dieser geheimnißvolle Ausspruch? Besagt er nur: „Osterwein trinke ich nicht mehr mit euch; ich werde aber einst in meiner triumphirenden Kirche dasjenige, was der Wein bedeutet, die Himmelsfreude, im vollsten Maße mit euch genießen?“ - Unmöglich kann der Herr gewollt haben, daß wir den Sinn seines so eigenthümlichen, und mit dem feierlichen: „Ich sage euch“ eingeleiteten Verheißungswortes also verallgemeinerten und verflüchtigten. - Aber sollte denn im vollendeten Christusreiche auf Erden einst wieder etwas Aehnliches, wie unser Abendmahl, für uns bereitet sein, wobei, etwa wie weiland vom Baum des Lebens im Paradiese, aufs neue gegessen, und, wie aus den Quellen Edens, aufs neue getrunken würde?“ - In der That scheint der Herr hier auf der Art Etwas hinzudeuten, wenn auch das Was, Wie und Wozu dieser zukünftigen wunderbaren Speisung und Tränkung, zu der die verklärte Schöpfung die Elemente hergeben wird, uns einstweilen ein versiegeltes Mysterium bleibt.

Genug, der Heiland bezeichnet hier unzweifelhaft das Passahmahl des neuen Bundes, in welches er eben das vorbildliche des alten verklärend aufhebt, wieder als Vorfeier eines großen Friedens- und Jubelfestes, das seiner Gläubigen in der Zukunft des Reiches Gottes harre. Was unser Mahl zu einer solchen Vorfeier erhebe, wird sich im Verfolge unsrer ferneren Betrachtungen über dasselbe herausstellen. O, daß es in jener Eigenschaft der Erfahrung Aller, die ihm nahen, sich kund thun, und namentlich auch euch, die ihr noch in dieser Morgenstunde ihm zu nahen euch anschickt, zu dem Rufe des Entzückens veranlassen möchte: „Hier ist nichts Anderes, denn Gottes Haus; hier ist die Pforte des Himmels!“ Sicher geschähe dies, so ihr nur recht hungernd, dürstend und kindlich gläubig kämet. Ein einziger Gang zur heiligen Kommunion lehrete von deren Wesen und Bestimmung alsdann euch mehr, als hundert theologische Lehrvorträge. Auch ihr verließet die heilige Stätte mit dem Jubelklang des 23sten Psalms im Herzen: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesichts meiner Feinde; Du salbest mein Haupt mit Oel, und schenkest mir voll ein;“ und machtet die Worte des Dichters zu den euern:

Ich kann schon hier empfinden
Des Himmels Wonn und Freud.
Einst wirst Du mich entbinden
Von aller Eitelkeit.
Laß mich das Ziel erlangen,
Da, Jesu, ich und Du
Auf ewig uns umfangen
In selger Herzensruh. - Amen.

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