Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die dunkle Grube.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die dunkle Grube.

2 Cor. 12, 7 - 10.
Auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarungen überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, ein Satans-Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe. Darüber ich dreimal zu dem Herrn geflehet habe, daß er von mir wiche. Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheiten, auf daß die Kraft Christi bei mir wohne. Deshalben bin ich gutes Muthes in Schwachheiten, in Schwachen, in Nöthen, in Verfolgungen, in Aengsten, um Christi willen. Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.„

„Kein Reisen ist ohn' Ungemach;
Der Lebensweg hat auch sein Ach;
Man wandelt nicht auf weichen Rosen.“

So singt ein alter, im Wege des Herrn erfahrener und bewährter Kirchensänger; und wer zog je mit ihm dieselbe Straße, und hat nicht Gelegenheit gefunden, es ihm von Herzen nachzusingen? Auf der Pilgerfahrt nach der himmlischen Heimath werden Dinge erlebt, die nicht blos den Wünschen unserer Natur schnurstracks zuwiderlaufen, sondern auch, scheinbar wenigstens, den ausdrücklichen Verheißungen widersprechen, die Gott in seinem Worte den Seinen gegeben hat. Dies erfuhr unter Anderen auch der fromme Sänger des 88. Psalmes, den wir in diesem seinem Liede seufzen hören: „Ich liege wie die Erschlagenen, die im Grabe ruhen, und deren Du, Herr, nicht mehr gedenkest. Du hast mich in die unterste Grube gelegt, in die Finsterniß, und in die Tiefe!“ Und selbst einem Paulus, diesem Chorführer des heiligen Apostelreigens, blieb diese bittere Erfahrung keine fremde. Die Eröffnung, die er in unserm heutigen Texte uns selbst darüber macht, ist für uns von großer Bedeutung. Fassen wir sie näher ins Auge, und betrachten zum Troste, zur Ermuthigung und Weisung aller derer, die entweder schon in einer ähnlichen finstern „Grube“ schmachten, oder später sie noch werden kennen lernen, zuerst das Elend, das über den Apostel hereingebrochen war; dann den Aufschluß, den der Herr ihm über seinen Lebensgang ertheilte; und endlich den Gewinn, den er aus diesem Aufschluß für seine fernere Pilgrimschaft zu ziehen wußte.

In der apostolischen Mittheilung liegt ein reicher Schatz des Friedens für uns verborgen. Helfe der Herr, daß wir ihn heben, und als köstliche Beute in unser eigenes Leben mit hinüber nehmen!

I.

Die Eröffnung des Apostels überrascht uns. Wer hätte es dem allezeit freudigen, thatkräftigen, welterobernden Manne angesehen, daß er unter solch' einem Kreuze seufze? Denn daß die Ausdrücke, mit denen er sein Leiden schildert, auf etwas noch ganz Anderes zielen, als auf die gewohnten Widerwärtigkeiten, die er Seitens grimmiger Feinde aus dem Heiden- und Judenlager täglich zu erdulden hatte, hört Jeder bald heraus. Diese Unbilden machten ihm wenig zu schaffen, und dienten ihm nur zum Zeichen und Siegel, daß er den Standarten des Lügenvaters gegenüber die Fahne des lebendigen Gottes und Seiner Wahrheit entfaltet habe. Mit tiefem Herzensfrieden schreitet er durch diesen Tumult hindurch, und hält das Kreuzesbanner nur um so höher, je heftiger die Kinder Belials wider ihn toben. Aber nicht so leicht ward es ihm, in eine andere über ihn verhängte Noth sich zu finden. Er beschreibt dieselbe mit den geheimnißvollen Worten: „Mir ist gegeben ein Pfahl ins Fleisch, ein Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage“. O, der dunklen, schauerlichen Tiefe, in welche diese Bezeichnung hinunter deutet! Unter dem „Pfahl im Fleisch“ haben wir offenbar ein körperliches Uebel zu verstehen. In seinem leiblichen Organismus fühlte der Apostel etwas Fremdes. Es war ihm wie ein Pfeil, der in ihm haften blieb; wie ein Nagel mitten in seinem Haupte, oder in seinem Lebensmark. Er empfand unablässig ein inneres Stechen und Nagen, das ihm jede Thätigkeit erschwerte, und allen Heilversuchen Trotz bot. Wo dieses Leiden seinen Sitz hatte, werden wir nicht ermitteln. Gewiß ist, daß er schwer daran zu tragen hatte; und sein Wort an die Corinther: „Man sagt von mir: seine Briefe find stark, aber die Gegenwärtigkeit seines Leibes ist schwach“, giebt zu der Vermuthung Anlaß, daß das Uebel auch seiner äußeren Erscheinung ein Gepräge aufgedrückt hatte, das eben nicht geeignet war, ihm bei denen, die auf das, was eine „imponirende Persönlichkeit“ heißt, ein Gewicht zu legen pflegten, den Eingang und Anklang zu erleichtern. Und zu dem physischen Nothstand gesellte sich ein noch herberer. Ein „Satans Engel“ Ihr erschreckt, und denkt, Paulus rede hier wohl bildlich, und bediene sich einer sogenannten „Personification“. Aber Paulus pflegt mit oratorischen Figuren nicht umzugehn. Der „Satans Engel“ ist ihm ein reales Wesen, ein persönlicher Abgrundsgeist. Dieser knüpfte an seine Leibesschwäche an, und „schlug ihn mit Fäusten“, was nichts Anderes heißen kann, als: er bestürmte ihn mit inneren Anfechtungen, und zwar der gröbsten und demüthigendsten Gattung. Verlorene Mühe würde es sein, die Natur dieser geistigen Anläufe genauer erforschen und näher bestimmen zu wollen. Genug, die Noth, die auf den Apostel drückte, war groß, und es fehlte nicht viel, daß er dem Esrahiten Heman seinen 88sten Psalm dem ganzen und vollen Inhalte nach hätte nachbeten können.

Und so rufe ich denn schon hier die Kreuzträger auch unter unsern Gottespilgern herbei, daß sie anheben, Muth zu schöpfen in ihrer Noth, und freier aufzuathmen. Ja, was ihr eben vernahmt, widerfuhr einem Paulus, diesem „auserwählten Rüstzeug“, diesem bevorzugten Lieblinge des Herrn. So habt denn auch ihr nicht alsobald an Gott, oder an eurer göttlichen Kindschaft irre zu werden, wenn ihr ebenfalls einmal mit dem alten Dichter singen müßt: „Wind, Regen stürmen auf mich zu; Mein matter Geist findt nirgends Ruh“, und wie es weiter heißt. Hart kann es hergehn in unserm Leben, ehe wir Ursache haben, der Besorgniß Raum zu geben, daß Gott seine Friedensgedanken über uns in „Gedanken des Leides“ verwandelt habe. Denen, die Gott lieben, und wieder geliebt sind von Ihm, kann es nicht allein widerfahren, daß sie wie Hündlein unter ihrer Herren Tafel auf die Brosamlein harren müssen, die aus der Vorrathskammer ihres Gottes auf ihren Tisch fallen; nicht allein, daß sie von ihrer treuen Arbeit und ihrem redlichen Streben statt des Lohns nur Disteln und Dornen des Undanks und der bittersten Verkennung erndten; nicht allein, daß ihnen unverdiente Feindschaft und böser Leumund die Welt zu enge machen, oder Lug und Trug sie um ihre ganze Habe bringen, und ihre Hütte zu einem Sammelplatze aller Sorgen und Kümmernisse machen: sie können's auch erleben, daß sie, die so gerne wirksam wären, gebunden an Händen und Füßen, sich aufs Siechbette hingeworfen, sich dem Feuerofen der ausgesuchtesten Schmerzen und peinlichsten Beklemmungen übergeben, und obendrein mit einer erschütternden Trauerbotschaft um die andere sich überfluthet sehen, ohne daß auch nur der Trost menschlich herzlichen Mitleids ihnen den Dulderkelch versüßt. Ja, das Bitterste kann sie treffen, daß nemlich für eine Weile über ihren Geist, wie durchdringend er bisher geschaut, wie kühn und mächtig er die Flügel hob, ein dunkler Schleier sich breitet, ein bleiernes Etwas sich herlegt, wodurch sie der Herrschaft über ihre Gedanken und Worte beraubt, und so der gesegnetsten Berufsthätigkeit enthoben werden. „Aber Kindern Gottes“, fragt ihr bestürzt, „kann Solches begegnen?“ - Ja, Freunde; und es wiederfährt seinen liebsten und auserwähltesten Kindern, wie ihr zum Theil an Paulus seht, oft am ersten. Mit großartigem, weitausschauendem Blick steht der Herr immer nur die letzte und höchste Bestimmung seiner Pfleglinge an; und diese Bestimmung besteht nicht darin, daß sie auf Erden glücklich und wirksam seien; sondern darin besteht sie, daß sie, die Er zu seiner Herrlichkeit berufen hat, hienieden himmelswürdig und himmelsfähig werden. Mit Seinem Maaß gemessen ist unser Leben, und währete es achtzig Jahre, nur eine Spanne lang; daß aber diese Spanne für das ewige Leben rentbar gemacht, und zu unsrer Heiligung und sittlichen Verklärung ausgekauft werde, das ist seine erste und vornehmste Vatersorge. Hierauf sind alle seine Führungen mit uns angelegt. Den Seinen insgesammt gilt sein Wort an Israel: „Ich will dich läutern, mehr, denn Silber, und dich auserwählt machen im Ofen des Elends.“ Vernehmt's, ihr Kreuzträger alle, die ihr feinen Weg geht, und hebt das gesenkte Haupt einmal wieder empor! Leuchtet's euch auch nicht immer ein, wie dies und das, was Schweres über euch daher kam, eure Bereitung für den Himmel fördern möge; seid gewiß, es thut's unter Gottes segnender Bewirkung doch. Und zweifelt nur nicht, daß, „wenn das Gold im Tiegel ist, der Schmelzer nahe“ sei. Auch wo ihr vor Leid und Schmerz euch krümmt, und schier vergehen zu müssen meint, ruht ihr in den Händen der ewigen Liebe.

2.

Dies war von vorneherein auch unserm Apostel eine ausgemachte Sache. Hört ihn! „Auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarungen überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl in's Fleisch, ein Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage“. Daß Beides ihm „gegeben“ sei, und zwar von Gott gegeben und über ihn verhängt, steht ihm ebensowohl außer Frage, wie das Wozu seines schweren Kreuzes. Er kennt dessen Zweck; er hat ihn eben bezeichnet, und bedarf darüber keines besondern Aufschlusses weiter. Ihr wißt, welch' ein hervorragender Mann er war. Keinem seiner Mitapostel war eine so reiche Begabung zu Theil geworden, wie ihm. Alle Charismen fanden sich in ihm vereinigt. Ihm war gegeben, von der Weisheit zu reden, wie von der Erkenntniß. Er besaß die prophetische, die Geisterunterscheidungs- und die Sprachen-Gabe, wie die Gabe, Wunder zu thun, Kranke gesund zu machen, und Todte ins Leben zurückzurufen. Gewiß für jeden Andern eine große Versuchung zur Selbstbespiegelung. Nicht so für ihn. Jene Gaben wurden ihm nicht gefährlich. Noch viel weniger ward's ihm der Weihrauch, den je und dann eine bewundernde Welt ihm streute. Euch ist bekannt, wie sogar einmal das Volk zu Lystra im Begriffe war, ihm als einem zur Erde herabgestiegenen Gotte feierlich zu opfern; aber ihr wißt auch, wie er diesem verblendeten Haufen entgegentrat. Kleine Seelen applaudiren sich selbst, weil die Welt ihnen Beifall klatscht; aber Paulus war eine solche Seele nicht. Kurz! die amtliche Ausrüstung, die ihm durch Wirkung des Heiligen Geistes zu Theil geworden, war es nicht, die den Apostel der Gefahr der Selbstüberhebung blosstellte. Aber er trug Etwas geheim im Schrein seines Bewußtseins, das größer war, als alle seine Gaben, und, obwohl es der Welt nicht in die Augen stach, unendlich versucherischer für ihn werden konnte. Was war dies? Das, Geliebte, daß der zur Rechten der Majestät erhöhte Heiland nicht allein einer persönlichen Erscheinung ihn gewürdigt, sein „auserwähltes Rüstzeug“ ihn genannt, und den glorreichsten Triumph über die Heidenwelt ihm in Aussicht gestellt, sondern auch Geheimnisse, wie keinem Andern, ihm geoffenbart, in das innerste Heiligthum Gottes ihn eingeführt, die fernste Zukunft ihm entschleiert, das Ende der Wege des Allmächtigen Mit dem Menschengeschlecht ihm gezeigt, ja ihm sogar einmal vergönnt hatte, bei Leibesleben den Staub der Erde vom Fuß zu schütteln, und, entrückt in den „dritten Himmel“, in das „Paradies“, Dinge zu schauen und zu vernehmen, die er in menschliche Worte zu fassen nicht im Stande war. Solche überschwengliche Bevorzugungen konnten ihn allerdings, da auch er ja noch des verderbten Fleisches und Blutes nicht los noch ledig war, leicht vergessen machen, daß auch er bei Allem, dessen er sich vor Andern zu rühmen hatte, nicht weniger, als diese, noch ein armer, heils- und hülfsbedürftiger Sünder sei. Nichts aber ist in Gottes Augen ein so arger Greuel, wie Hochmuth und Selbstüberhebung. Nichts entfernt uns weiter aus dem Geleise der Heiligung, „ohne welche Niemand den Herrn sehen wird“, und nichts stellt uns darum einer schwereren Gefahr blos, weil nichts weniger in das Himmelreich und die Gemeinschaft Gottes hineinpaßt, als eben die Sünde, die weiland unserm Ahnherrn Adam das Paradies, und Größeres, denn dieses, gekostet hat, und die vor ihm schon den Satan, den strahlenden Morgenstern, von seiner ursprünglichen Höhe in Nacht und Verderben hinunter stürzte. Daß der Hochmuth in der That ein so furchtbares Uebel sein müsse, das erhellt schon zur Genüge aus dem Umstand, daß der Herr, um seinen Apostel vor der Gefahr der Selbstbespiegelung und Selbstüberhebung sicher zu stellen, zur Wahl eines so drastischen Mittels sich entschließen konnte, wie der Pfahl im Fleisch, und die Faustschläge des Satans Engels waren. Freilich war das Mittel ein bewährtes. Im Tiegel solcher Noth vergeht Einem wohl das Großthun und Gloriiren. Da taucht das Schlackenwerk des Verderbens, das uns noch anhaftet, bald zu Tage; da findet sich's, wie weit man im Vertrauen auf Gott, in der Geduld, im Glauben, und selbst in der Sanftmuth und Liebe noch zurück sei; und Beschämung, Demüthigung, Beugung vor Gott sind die heilsame Beute, die man aus solchen Läuterungsflammen mit hervorbringt. Auch an Paulus hatte sich das scharfe und bittere Heil- und Schutzmittel trefflich erprobt. Nicht einen Augenblick war er auf geistliche Höhen gerathen, und nichts in seinen Nöthen ihm so fern getreten, wie Stolz und Hochmuth. So hatte er denn auch gemeint, für die Entlassung aus seiner Kreuzesschule reif zu sein. Zu dreien Malen, eröffnet er uns, habe er, wie einst sein Heiland im Garten Gethsemane, den Herrn um Zurücknahme des schauerlichen Kelches angefleht. Er durfte dies, ja that gar wohl daran. Soll doch die Leidensschule zugleich und vorzugsweise Gebets schule für uns sein, und hatte er doch das Wort des Herrn für sich: „Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen“. Der Herr hatte auch nicht verfehlt, seinen Seufzern huldreich sein Ohr zu leihen. Ja, er ertheilte dem Beter eine vernehmliche und klare Antwort. - „Wer that dies?“ - Christus, der Herr, zu welchem Paulus gebetet hatte. - „Christus?“ - Freilich, ja! Seht euch nur des Apostels Worte an, in denen er ausdrücklich bemerkt, daß Christus, kein Andrer, es gewesen, zu dem er gesteht, und der ihm auf sein Flehen Bescheid gethan habe. Die Frage, ob man zu Christo beten solle, ist somit durch diesen einen Ausspruch schon aufs neue entschieden. Wie aber hatte die Antwort gelautet? Zusagend? Nein! - Abschläglich? Dies eher, wenn auch weder geradezu noch unbedingt, - O tretet herzu, ihr Alle, die ihr auch schon länger in eurer Drangsal vergebens um Erleichterung betet, und fast denken müßt, auch eure Noth solle dauernd auf euch lasten. Neigt dem Apostel euer Ohr; denn ihr seid es ganz besonders, denen zum Troste er hier erzählt, was ihm widerfahren sei.

Der Herr, hören wir zunächst, sei in directer Weise auf den Inhalt der Bitte seines um Erlösung seufzenden Apostels gar nicht eingegangen, sondern habe ihm zugerufen: „Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft wird - (so lauten die Worte nach dem Grundtext) in der Schwachheit völlig!“ - Bleiben wir einen Augenblick vor diesem Ausspruch stehen. Er ist groß, herrlich und herzentzückend. Kein Gedanke ergründet seine ganze Tiefe; keiner schöpft die Fülle seines Inhalts aus. Denkt, der Herr bezeuget selbst: „An meiner Gnade hast du genug!“ - Welch' ein unaussprechlicher Schatz muß also seine Gnade sein, und was Alles muß sie in sich schließen und umfassen! Offenbar will der Herr sagen: „Meine Gnade überhebt dich jeglicher Sorge, und wiegt überschwenglich Alles auf, was irgend sonst dir abgeht. Weil Ich dir gnädig bin, fährst du allewege wohl, und hast in keiner Noch mehr zu verzagen, vor keiner Gefahr mehr zu erzittern, und selbst Angesichts keines Gebrechens, das du an dir entdecktest, deinem Frieden Valet zu geben. Meine Gnade schließt nichts Geringeres ein, als daß ich dich mit meinem Blute von allen deinen Sünden reingewaschen habe, mit meiner Gerechtigkeit vor dem Vater dich vertrete, mit meinem Geiste dich heilige, und das angefangene gute Werk in dir vollende; und daß Ich, wie mit meiner starken Hand dich halte, führe und behüte, so einst dich ohne Makel, Fleck und Runzel vor das Angesicht des Richters in der Höhe stelle. Gedenke, daß du an meiner Gnade Alles, schlechthin Alles hast, und sei im Bewußtsein ihres Besitzes beruhigt, befriedigt, vollkommen glücklich!“ - Dies, annäherungsweise wenigstens, der großartige Sinn des ersten Theils der Christusantwort. Der andere aber ist nicht weniger süß und tröstlich. „Meine Kraft“, lautet er, „wird in der Schwachheit völlig“. Der Ausdruck: „völlig werden“, hat hier die doppelte Bedeutung des „in die Erscheinung Tretens“ und des „in höchster Potenz sich bethätigen Könnens“; und des Herrn Meinung geht ihrem Kerne nach dahin, daß, wenn Er mit zerknickten Stäben seine Thaten thue, und vermittelst zerbrochener Werkzeuge die Pforten der Hölle aus den Angeln hebe, dann erst recht zu Tage komme, was Er vermöge; wie denn, wenn Er z. N. durch einen mit einem Pfahl im Fleische behafteten Mann die Welt erobere, und durch Einen, der selbst als ein dem Tode Verfallener erscheine, die geistlich Todten erwecke, Niemand mehr zweifeln werde, daß Er, der Herr, Solches thue, und seine Macht eine unermeßliche sei. Der Heiland will weiter sagen, daß Er erst da, wo Schwachheit und Hülfsbedürftigkeit Ihm begegnen, den Schauplatz für seine Errettungswunder bereitet finde, und erst das schreiende Bedürfniß des tief vom Gefühl der eigenen Ohnmacht durchdrungenen Herzens Ihm Raum verschaffe, seine tröstende, aushelfende und stärkende Gotteskraft zu bethätigen und zu verherrlichen. Je weniger also wir selber aus und ein mehr wissen, desto zuversichtlicher dürfen wir sprechen: „Der Herr ist nahe!“ - Als Moses in der verzweifelten Klemme zwischen dem rothen Meere und dem Heere Pharaos sich befand, da hieß es zu ihm: „Was schreiest du zu mir? Sage den Kindern Israel, daß sie ziehen“; und wie triumphirte da die Macht Jehova's in der Menschen Schwachheit! Je verlassener wir uns fühlen von allem eigenen Vermögen und jeder fremden Hülfe, um so zuversichtlicher dürfen wir darauf rechnen, daß jetzt verborgene Himmelskräfte, auf uns einstießen werden. Als die frommen Frauen, die Nachfolgerinnen Jesu, schon dem Schmerz über den Lebensausgang ihres göttlichen Freundes erliegen wollten, da stiegen sie unter dem Kreuz aus der Vernichtung ihres Selbst als Heldinnen empor, und bewahrheiteten aufs neue das wohlbegründete Sprüchwort, nach welchem, „wo die Noth am größten, die Hülfe am nächsten“ ist. Und was an ihnen geschah, o, wie Viele erlebten es, und erleben es bis zu dieser Stunde!

Der Apostel hatte das Wort des Herrn nach der ganzen Tiefe und Fülle seines Inhalts wohl verstanden, und sofort bei sich gedacht: „Nicht zweimal sollst Du mir sagen, daß Du mir gnädig seist, und ich an Deiner Gnade genug habe!“ - Von nun an will er ausharren unter seinem Kreuz, so lange er's nach Gottes Willen tragen soll. Hört ihn! „Hinfort“, spricht er in kühnem Glaubensaufschwung, „will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheiten, auf daß die Kraft Christi mich überzelte“, d. i. bedeckend, schützend, stärkend und bewahrend sich an mir verherrliche. Wohl liegt hier der Gedanke nahe, er möge mit diesem begeisterten Vorsatz und Gelübde das Maaß seines Vermögens weit überschritten haben. Aber der Apostel hat Wort gehalten, und während seines ganzen Lebens die ihm zu Theil gewordene göttliche Eröffnung gründlichst und nach allen Seiten hin auszubeuten gewußt. Schaut ihn euch an. Wer steht in ihm vor euch? Kein kopfhängerischer Mönch: das Bewußtsein, daß sein Herr ihm gnädig, hält überall das Haupt ihm aufgerichtet; kein keuchender Lohnknecht unter dem Gesetz: er weiß sich in der Gnade seines Bürgen schon gerecht vor Gott, und nur noch verpflichtet, als ein Gefreiter Christi dem Herrn sein Dankopfer darzubringen; kein ängstlicher Ascet: o nein, er ist ja eines Herrn eigen, der gekommen ist, „nicht daß Er sich dienen lasse“, sondern daß Er „diene“; kein römelnder Kirchenmann, in dem Wahn befangen, daß er sich die Sündenvergebung durch gottesdienstliche Acte erst selbst erarbeiten müsse: er getröstet sich der Vergebung als einer frei und umsonst gewährten; kein Büßer von Profession: wie weit ist er entfernt, die Buße noch aus dem Gesichtspunkt eines verdienstlichen Werkes anzusehn! keine seufzende Kreatur: als Sünde würde er sich's anrechnen, beim Besitz einer solchen Gnade noch trübselig und gedrückt seinen Weg gehen zu wollen.

Doch lassen wir ihn wieder selber reden. „Derhalben“, spricht er, „bin ich gutes Muthes in Schwachheiten, in Schmachen, in Nöthen, in Verfolgungen, in Aengsten!“ - Mit steigendem Erstaunen hören wir seinen Worten zu. Alles also, was Uebel heißen mag, er hat's unter, und nicht das Uebel ihn. Seinen Frieden vermag es nicht zu brechen, ob ihm auch Leib und Seele darunter verschmachten sollten. „Aber nimmt er hier nicht einen zu kühnen Flug?“ - Freunde, was er sagt, spricht er nicht vom Ruhepolster herunter, sondern aus einer noch andauernden Noth heraus; denn weder der Pfahl im Fleisch, noch der Satans Engel sind bereits von ihm genommen. Freilich jauchzt und frohlockt er nicht; sondern ist nur „gutes Muths“, d.h. gefaßt, getrost, und still ergeben. Aber dies ist er auch gründlich. Warum? „Um Christi willen“, antwortet er selbst und will damit sagen: „Wenn Der mir gnädig ist, so wird Er auch sorgen, daß kein Leid mir schade“; und fügt hinzu: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark!“ - Ihr seht, wie er das Wort des Herrn zu Herzen genommen hat. Er weiß fortan, daß, wo seine Kraft zu Ende ging, die Kraft des Herrn erst für ihre Erweisungen Boden und Raum gewann. Was Niederschlagendes und Peinliches ihn betreffen mag, das Bewußtsein, daß der Herr ihm hold und gewogen, wird sich stärker erzeigen, als Alles, und jedes Leid besiegen. Selbst der Kelch des Todes wird seine Fassung nicht erschüttern können. Er nimmt denselben in Ruhe mit der Zuversicht hin, daß die Gnade seines Herrn auch aus diesem Schiffbruch ihn retten, und zwar dahin ihn retten werde, wo alles Wehs und Leids ein ewiges Ende ist.

Die dunkle Grube, in der wir den Apostel ringen, aber auch das Feld behalten sahen, ist auf der Straße nach dem Jerusalem da droben noch nicht verschüttet. Wer du bist, mein Mitpilger nach der himmlischen Heimath, auch dir kann's widerfahren, daß sich dein Weg in sie hinabneige, d. h. ein Kreuz über dich verhängt werde, um dessen Wegnahme du mit deinen Seufzern und Gebeten vergebens den Gnadenthron bestürmst. Geschieht dies, o dann wisse, daß auch zu dir gesagt ist, was einst zu unserm Paulus. „Die Gnade Jesu Christi ist dir genug“. Ermiß die Größe dieses Schatzes, laß ihn nach allen seinen Seiten hin vor deiner Betrachtung sich entfalten, und auch du wirst jeder Drangsal Meister werden, und mit dem Apostel über den brausenden Fluchen stehen. Und denke nur nicht, du bleibest unerhört, wenn du auch im Sinne deiner Bitte nicht erhört wirst. Der Herr erhört dein Bedürfniß, wenn auch nicht dein Wort. Gieb dich Ihm hin; und was gilt's, bald wirst auch du zu Seines Namens Ehre bekennen müssen: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“, und wirst siegsbewußt hinzufügen mit dem Apostel: „Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheiten, auf daß die Kraft Christi bei mir wohne!“ - O, so werde es wahr, und auch in deinem Innern klinge volltönig und kräftig wieder, was seinem Herrn ein Dichter singt, der gleichfalls die „dunkle Grube“, von welcher wir geredet, kennen lernte:

O theures Wort aus Deinem Munde:
Mir sei's genug, daß Du mir gut!
Wie wall' ich froh, seit diese Kunde
Im Schreine meines Herzens ruht!
Nichts ist, das auf dem Lebenspfade
Mir meinen Frieden mehr bedroht.
Ich weiß ja, daß an Deiner Gnade
Ich Alles habe, was mir noth.

Find' ich mich eigner Tugend ledig,
Ich traure, aber zage nicht:
Denn Du bist mir ja hold und gnädig;
Und Dein, Herr, ist das Endgericht.
Geht über mich in hohen Wogen
Der Schmach und der Verkennung Fluth,
Wie leicht, wie froh wird sie durchzogen,
Denk ich daran, daß Du mir gut!

Und ob sich Alles mir versage,
Was diese Welt als Glück erhebt,
Und sich um meine Lebenstage,
Kein ird'scher Freudenkranz mehr webt
Was hindert's, daß mir tief im Innern
Die Sonne hell und heiter scheint?
Ich siege stets durch das Erinnern:
„Der auf dem Throne ist mein Freund!“

Amen.

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