Krummacher, Friedrich Wilhelm - Geistliche Räuber.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Geistliche Räuber.

Col, 2, 8. 9.
Sehet zu, daß euch Niemand beraube durch die Philosophie und leeren Trug, nach der Menschen Ueberlieferungen, nach der Welt Anfängen, und nicht nach Christo. Denn in Ihm wohnet die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.

Einem Wandersmanne kann auf seiner Reise nichts widerfahren, das nicht innerlich und geistlich auch den Pilger Gottes betreffen könnte. Es erlebt auch dieser den Wechsel des Sturms und Sonnenscheins; er beschreitet bald ebene, bald steile Wege; er wandelt heute fröhlich „auf blumigen Auen, und morgen keuchend durch dürre Wüsten; und wie er jetzt in ermuthigendem Geleite, und dann wieder vereinsamt seine Straße zieht, so kann es auch geschehen, daß er Plötzlich von Wegelagerern überfallen wird, die nichts Geringeres im Schilde führen, als sein theuerstes, seinen Glauben, seinen Christus, ihm zu rauben. Christus aber verloren, Alles verloren! Dies, Pilgersmann nach der ewigen Gottesstadt, laß dir gesagt sein, und nimm das „Hüte dich!“ wohl zu Herzen, das der Apostel in dem eben verlesenen Ausspruch nicht seinen Colossern blos, sondern auch dir, ja dir, dem Kinde dieses Jahrhunderts insonderheit, mit großem Nachdruck zuruft! - Rüste dich, daß du am bösen Tage Widerstand thun, Alles wohl ausrichten und das Feld behalten mögest! - „Aber wer sind die Räuber, und wie wappne ich mich gegen sie?“ - Auf beide Fragen soll dir Antwort werden. Für heute jedoch laß dir an einem Bescheide allein auf die erstere genügen. Nachdem ich dir gezeigt, damit du nicht ohne Grund erschreckest, welche die Räuber nicht sind, obwohl du sie dafür halten könntest, gedenke ich dir die wirklichen Freibeuter kenntlich zu machen, von denen du dich nicht unbewaffnet darfst betreffen lassen. -

Der Herr aber begleite auch unsre heutige Erwägung mit seinem Segen, und gürte uns selbst zu heiligem Kampf und Siege!

1.

Die gefährlichen Wegelagerer, die Paulus uns signalisirt, erscheinen nicht in Stahl und Eisen, sondern im friedlichen Philosophenmantel. „Sehet zu, spricht er, „daß euch Niemand beraube durch die Philosophie und losen Trug nach der Menschen Ueberlieferungen, nach der Welt Anfängen, und nicht nach Christo.“ Bei diesen Worten, deren Kürze und Gedrängtheit uns nicht auf den ersten Blick schon den Gedanken und die Meinung des Apostels errathen lassen, müssen wir einige Augenblicke nachdenkend verweilen. Wir müssen dies um so mehr, da Mancher sonst durch sie verleitet werden könnte, Menschen für Feinde und Räuber anzusehen, die nichts weniger sind, als das.

Mit dem Namen „Philosophie“, deutsch: „Liebe zur Weisheit“, bezeichnen wir die sich vertiefende Denkthätigkeit des menschlichen Geistes, welche die Erforschung der letzten Gründe und Ursprünge aller Dinge zu ihrem Zweck und Ziele hat. Es ist wohl behauptet worden, das Christenthum verachte dieselbe, und predige Vernunfthaß. Aber das ist eine ungerechte und mit Nichts zu begründende Beschuldigung. In der heidnischen Philosophie, namentlich in derjenigen eines Sokrates und Plato, gab sich in wahrhaft rührender Weise das Bestreben der Seele kund, den lebendigen Gott und die überirdische, himmlische Welt, die sie ahnete, zu entdecken und sich zur Anschauung zu bringen. Und das Christenthum sollte dieses heilige Ahnen und edle Suchen und Bemühen verdammen? Das sei ferne! Wohnt doch selbst auch dem gläubigen Christen, ihm angestammt, das Bedürfniß bei, dasjenige, was er unmittelbar als göttlich wahr an seinem Herzen erfährt und tatsächlich erlebt, auch zur klaren Ueberzeugung, zum hellen Gedanken in sich zu erheben, und, so weit es möglich ist, zu begreifen. Soll er diesen Drang in sich vertilgen? Er könnte es nicht, wenn er es etwa sollte. - Und sein Bemühen, den Inhalt seines Glaubens sich auch vorstellig und denkbar zu machen, oder bis zu einem gewissen Grade, zu einem Gegenstande auch des Wissens zu erheben, ist keinesweges ein ganz verlorenes. So gibt es denn auch eine „christliche Philosophie“, die z.B. nachweist, daß die göttliche Offenbarung, wie sie im Evangelium vorliegt, durchaus den innersten und heiligsten Bedürfnissen des menschlichen Herzens entgegenkomme und entspreche; die die Nothwendigkeit einer göttlichen Erlösung, ja sogar die Vernunftmäßigkeit des Gedankens darthut, daß ein lebendiger und persönlicher Gott, der die Liebe ist, von Ewigkeit her ein persönliches Ebenbild seines Wesens, einen Ihm gleichen Sohn haben müsse, an welchem Seine heilige Gottesliebe den ihrer würdigen und ihr angemessenen Gegenstand finde; und was sie von der geoffenbarten Wahrheit sonst mit den allgemeinen Denkgesetzen des menschlichen Geistes, die ja allerdings auch göttlichen Ursprungs sind, in Einklang bringt. Diese Philosophie, der in allen jenen Aussprüchen der heiligen Schrift, durch welche wir zum Erkennen und zum Wachsen in der Erkenntniß aufgefordert und ermuntert werden, gleichsam der göttliche Berechtigungs- und Freibrief geschrieben ist, meint der Apostel natürlich in unserm Texte nicht. Begegnen wir doch Spuren einer solchen hin und wieder in seinen eigenen Reden und Episteln. Sie ist so weit entfernt, unsrer Glaubensschätze uns zu berauben, daß sie uns derselben vielmehr nur noch tiefer versichert, und gegen ein fahrendes Gesindel, das sie uns räuberisch antasten möchte, erprobte Waffen uns in die Hand gibt. Wie viel verdanken wir in dieser Hinsicht nicht philosophirenden Männern, wie ein Anselm von Kanterbury, ein Pascal, ein Kleuker, und welche Namen sonst hier genannt werden könnten aus alter und neuer Zeit; und welch' ein arger Vergriff würde es sein, diese Männer mit mißtrauischen Augen anzusehn, statt sie als liebe Freunde, ja als ein erwünschtes Schutzgeleit herzlich willkommen zu heißen.

Der Apostel redet an unserm Orte von einer falschen, unberechtigten Philosophie, wie er dies schon durch die zusätzliche und den Begriff naher bestimmende Bezeichnung „loser Trug“, oder „nichtige Täuschung“, und durch die Worte: „nach der Welt Anfängen“, d. i. den „weltlichen Anfangslehren“, „und nicht nach Christo“ zu erkennen gibt. „Anfangslehren der Welt“ sind die, allerdings durch die Offenbarung bestätigten, allgemeinen Vernunftideen, daß ein Gott fei, daß der Mensch eine sittliche Bestimmung habe, daß die Tugend sich belohne, und das Laster sich bestrafe. Eine Weisheit nun, die dabei stehen bleibt, und von da aus selbstständig ihr Gedankengebäude weiter aufführt, bringt höchstens eine Moral oder Sittenlehre hervor, macht den Menschen zu seinem eigenen Heiland, verstrickt ihn in Selbstgerechtigkeit, und leitet ihn in aller Weise irre. Die wahre Weisheit oder Philosophie fragt, ob wirklich denn die denkende Menschenvernunft sich selbst gelassen, oder ob ihr der lebendige Gott nicht durch Offenbarung zu Hülfe gekommen sei. Und nachdem sie diese Offenbarung als eine unbestreitbare Thatsache in der übermenschlichen Person Jesu Christi vorgefunden hat, gibt sie, nicht zwar ihre Denkthätigkeit, aber ihre Selbständigkeit an die göttliche Autorität Christi auf, setzt sich mit Maria zu seinen Füßen, was sie auch dann thut, wenn sie sich zu den Füßen der Propheten und Apostel setzt, die ja nur seine Dolmetscher sind, und lernt von Ihm. Hier nimmt sie nun eine ganze Fülle anderer und wesentlich neuer Gedanken in sich auf. Sie erfährt hier, was kein sterblich Auge je gesehen, kein Ohr gehört hat, und was in keines Menschen Herz gekommen ist. - Ein alter tiefsinniger Griechenspruch sagt: „Das Geschehene, (oder: die Thatsache,) übt Zwang nemlich im Bereich unsrer Vorstellungen und Gedanken. Versteht ihr das? Ich will es euch deutlich machen. Von Haus aus urtheilen wir, (und das ist eine „Anfangslehre der Welt“ oder eine Idee der natürlichen Vernunft,) daß ein wirklich Todter nicht wieder leben könne. Nun aber geschieht etwas. Ein wirklich Verstorbener lehrt ins Leben zurück. Christus steht von den Todten auf. Das Factum ist allseitig beglaubigt und schlechthin unleugbar. So sehen wir uns genöthigt, in Gemäßheit dieses unbestreitbaren Ereignisses unsre frühere Ansicht zu corrigiren, ja mit der entgegengesetzten zu vertauschen. Wir nehmen von Haus aus an, Vollkommenheit und Mensch, Mensch und übermenschliches Vermögen seien schlechthin und unter allen Bedingungen unvereinbare Begriffe. Nun aber begegnet uns in dem Herrn vom Himmel, wiederum mit allen Siegeln der Beglaubigung angethan, eine sittlich vollkommene und zugleich wunderthätige Menschenerscheinung, (freilich ein Gottmensch,) und was bleibt uns wieder übrig, als zu unsrer Vernunft zu sprechen: „Laß deine alte und hergebrachte Anschauung als eine irrige fahren, und gib in Gottes und der Wahrheit Namen einer ganz neuen Raum.“ Seht, so richtet die wahre Weisheit oder Philosophie ihr Auge auch auf die Geschichte, räumt den Realitäten, den vernünftiger Weise nicht zu bezweifelnden That fachen der göttlichen Offenbarung, ihr volles Recht ein, läßt durch sie ihre Anschauungen berichtigen, ja bestimmen, und wird, indem sie auf diesem Grunde ihr ganzes Lehrgebäude aufführt, eine Weisheit „nach Christo.“

2.

Die Weisheit, vor welcher wir den Apostel die Colosser so ernstlich warnen hören, bildet zu der eben bezeichneten den grellsten Gegensatz. Auf eine nähere Untersuchung, worin die falsche Lehre bestanden habe, mit der die Gemeine zu Colossä bedrohet ward, gedenken wir uns für diesmal nicht einzulassen. Es genüge uns, zu wissen, daß die Verführer, welche die Gemeine durchschlichen, ebenfalls auf eigene Hand philosophirten, und sich auf selbsterwählter speculativer Straße bewegten. Ausgehend bei ihrem Denkprozeß von einigen allgemeinen Anfangs- oder Elementarsätzen, wie die, daß ein Gott sei, eine himmlische Welt existire, und der Mensch die Bestimmung zu hohen Entwickelungs - und Verklärungsstufen habe, und dann sich anlehnend an eine überlieferte neben der Bibel herlaufende jüdische Geheim lehre von den Ordnungen der heiligen Engel, und den Uebungen und Selbstcasteyungen, durch welche man in deren Gemeinschaft gelange, übersahen sie die Offenbarung Gottes, die in Christo geschehen war, fast gänzlich, oder machten sie mit großer Willkür ihrem Lehrgebäude dienstbar. Es sind aber diese Irrgeister noch heute in der Welt nicht ausgestorben, nur daß sie statt der jüdischen Färbung jetzt eine neu heidnische, statt der des ersten, diejenige des neunzehnten Jahrhunderts tragen. Wahr ist's, im Theologenrocke begegnen sie uns gegenwärtig viel seltener schon, als vor etlichen Jahrzehnten noch, und auch auf dem Gebiete der Geschichtsforschung und der Philosophie kommen die ernsteren und gründlicheren Denker je länger, je weniger mehr an den Thatsachen der übernatürlichen Gottesoffenbarung in Christo vorbei. Die in der That wissenschaftlich schon überwundene Irrlehre, welche sich weiland unter dem angemaaßten Prunknamen der „Aufklärung“ und mit dem lächerlichen Anspruch, das „vernünftige Christenthum“ zu sein, auf Kanzeln wie auf Kathedern so breit machte, hat in neuerer Zeit vorzugsweise in den freilich sehr weit ausgedehnten Kreisen der Halbgebildeten ihren Ablagerungsplatz gefunden; und ihre Propheten machen sich gewöhnlich durch machtsprecherische Redensarten kenntlich, wie diese: „Dies und das ist bei allen Gebildeten längst ausgemacht“; „von keinem unterrichteten Menschen wird das und jenes mehr geglaubt“; „die fortgeschrittene Wissenschaft hat darüber das letzte, entscheidende Wort gesprochen“; „es widerstreitet den Gesetzen der Vernunft, den Ordnungen der Natur“, - und wie die vermessenen Phrasen weiter lauten. Wo ihr in solcher Weise wie von hohem Pferde herab peroriren hört, da seid auf eurer Hut! Hier ist's nicht geheuer. Ihr habt's mit den Wegelagerern hier zu thun, vor denen Paulus wahrschaut. Wehe dem, der ihnen in die Hände fällt! Welche Beraubung wäre derjenigen zu vergleichen, die ein solcher zu erleiden hat? Wollt ihr, daß ich einen geistlich ausgeplünderten Menschen dieser Gattung euch vorführe? Hier ist er; seht ihn euch an! Er besitzt kein „festes prophetisches Wort“ mehr, das ihm vorleuchte, auf das er baue, sondern trägt an seiner Bibel nur noch ein altes Märchenbuch in Händen, und weiter nichts. Der Sohn des lebendigen Gottes ward ihm geraubt, und was in der Person Jesu ihm übrig blieb, ist ein fehlbarer Mensch, wie andere auch, ja, genau besehen, ein Schwärmer, wo nicht ein Betrüger gar. Mit dem „Herrn vom Himmel“ verlor er den Zeugen untrüglicher Wahrheit, den Mittler zwischen Gott und den Sündern; ja, Gott selbst: denn die Vernunft leistet ihm keine Gewähr, daß sich Gott persönlich um die Welt, ja leitend und lenkend um das einzelne Menschenkind bekümmere. Keine göttlich geoffenbarte Richtschnur zeichnet ihm mehr den Weg vor, den er wandeln soll; kein probehaltiger Trost hält ihn aufrecht in der Stunde der Noth; keine durchschlagende Hoffnung begleitet ihn zu den Gräbern: denn wer verbürgt ihm noch die persönliche Unsterblichkeit und Fortdauer nach dem Tode? Niemand. - So steht er da, rein ausgezogen, blutarm, das geistliche Gegenbild eines Schiffbrüchigen, der nur das nackte Leben auf eine einsame, öde Klippe rettete, um daselbst eine Beute der Verzweifelung zu werden, und elendiglich Hungers und Durstes zu sterben.

Aus solchen geistlich ausgeplünderten Menschen bildete man weiland jene Gemeinen, die euch unter dem Namen der „freien“, der „lichtfreundlichen“, der „deutsch katholischen“ bekannt sind. Wo blieben sie? Bis auf einen unbedeutenden und auch bereits im Untergang begriffenen Nest haben sie sich selber nach und nach wieder aufgelös't. Sehr begreiflich! Wie konnte eine „Aufklärung“, die den Leuten nur nahm, aber nichts, gar nichts, zu geben hatte, sie als eine Religionsgemeine zusammenhalten? „Lieber überhaupt keine Religion!“ dachten Viele, und taumeln jetzt ohne Gott und Hoffnung, ohne Glauben und Gebet, gleich der vernunftlosen Kreatur, und nicht wie für die Ewigkeit geschaffene Wesen durch die Welt dahin, während Andere wieder mit wachsendem Verlangen nach einer Religion sich umsehen, die ihnen für Leben und Sterben doch etwas zu bieten habe.

O, zu uns mögen sie kommen, diese Ausgeplünderten und bitterlich Darbenden! Bei uns ist das Evangelium; und das macht unaussprechlich reich. Hört nur, was in unserm Texte der Apostel den Gottespilgern zu Colossä schreibt, um sie gegen die geistlichen Räuber, von denen er sie bedroht sieht, sicher zu stellen. Es ist ein großes Wort; ein Wort, wie ein gewichtigeres, bedeutungsvolleres und inhaltreicheres in der ganzen Schrift uns nicht begegnet. „In Ihm“, spricht er, d.i. in Christo. - Und wie nun weiter? Etwa: „spiegelt sich?“ „scheint wieder?“ - Nein; „in Ihm wohnt“, sagt der Apostel, d. h. „ist dauernd gegenwärtig“. Aber was wohnt in Ihm? Etwas Göttliches? So denken sich's Manche; aber Paulus sagt: „Die Gottheit“, ja „die Fülle der Gottheit“, sogar „die ganze Fülle“. Und wie wohnt sie in Ihm? Vielleicht nur durch Vorstellung, durch geistige Vergegenwärtigung, in dem Er die Gottheit denkt, und mit Liebe und Vertrauen sie umfaßt? Nein; „leibhaftig“ sagt der Apostel, d. i. substantiell, real, wesenhaft. Nicht von dem Bewußtsein Christi ist hier die Rede, sondern von seiner Natur. Allerdings ein gewaltiges Wort, das nichts Geringeres, als die wesentliche Gottgleichheit des Sohnes ausspricht. Aber es ist schlechterdings unmöglich, einen andern Sinn aus diesem großen und entscheidenden Worte herauszubringen, als den eben bezeichneten. Freilich, ein unergründliches Geheimniß, das uns hier verkündigt wird; das aber, wie ihr wißt, nicht hier allein, sondern in vielen andern Stellen der heiligen Schrift in gleich unzweideutiger Fassung unserm Glauben vorgehalten wird. Und ein Geheimniß, das im ganzen ferneren Lebensgange Jesu, wenn auch nicht seine Lösung, so doch seine fortschreitende Entfaltung und Besiegelung findet. Es findet die eine wie die andere im Strahlenglanze seiner unbefleckten Heiligkeit, in feinen majestätischen Zeugnissen von Sich selbst, in dem Ganzen seiner Ehrfurcht gebietenden Erscheinung, in der leuchtenden Kette seiner schöpferischen Gottesthaten, in seinen wundervollen Erlebnissen: namentlich in der lauten und feierlichen Deklaration des ewigen Vaters über Ihm vom Himmel herab, in seiner Transfiguration, seiner Verklärung, auf der Taborhöhe, und vor Allem in seiner Auferstehung am dritten Tage, seiner glorreichen Himmelfahrt, und dann im Pfingstwunder, dem Wunder der Wiedergeburt des gefallenen Menschen, und in der Pflanzung, Erhaltung und Regierung seiner Kirche. Alles dies bildet die Illustration zu dem Worte: „In Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“. Und ermeßt nun, wenn ihr könnt, was wir an einem solchen Herrn haben müssen! Der Apostel sagt gleich in dem nächst folgenden Verse unseres Textcapitels: „Ihr seid vollkommen“, (oder „erfüllt“) „in Ihm“, d.h.: „in Ihm habt ihr Alles, und bedürft nichts weiter“. Und wie wahr ist das! Und Ihn wollten wir uns rauben lassen, und einen Rabbi Israels statt' seiner wieder nehmen? Um keinen Preis in der Welt! - Mit welchen Waffen wir denen zu begegnen haben, die uns an unsern Glauben wollen, das, Freunde, werden wir in unsrer nächsten Betrachtung vernehmen. Seid aber schon im voraus versichert, daß, ob wir uns auch um unsern Glauben bringen ließen, nicht das Evangelium, sondern nur wir selbst dadurch Schaden, und zwar unendlichen Schaden erleiden würden. Das Evangelium behält seine Auctorität. Wenn man von uns Allen längst nicht mehr wissen wird, wird dasselbe, und zwar lauter und volltöniger, als heute, noch über unsern Gräbern gepriesen werden. Es bleibt unter allen Wandlungen der Zeit als die ewige, absolute Wahrheit aufrecht, wird als solche sich immer mächtiger und glänzender bewähren, und wird die Welt überwinden und überdauern. „Himmel und Erde werden vergehen“ spricht der Herr; „aber meine Worte werden nicht vergehen;“ und an einem andern Orte: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der da ist, und der da war, und der da kommt, der Allmächtige!“ -

Als vor einigen Monaten die christlichen Jünglings-Vereine der Schweiz und einiger benachbarten Provinzen Frankreichs zu einer großen festlichen Generalversammlung vereinigt waren, und an einem dieser schönen Tage einen gemeinsamen Ausflug in das nahe Gebirge machten, entdeckten sie hoch auf der Firne, wo sich eine entzückende Aussicht ins Land vor ihnen aufthat, eingegraben in eine Felswand den Namen „Voltaire“, und daneben die Jahreszahl 1758. Flugs meißelten die fröhlichen Jünglinge darunter: „Das Evangelium lebt noch, und treibt neue frische Zweige. 1858.“ Ich zweifle nicht, im Jahre 1958 wird man unter diese eine dritte noch ungleich bedeutsamere und für das Evangelium glorreichere Inschrift setzen können. Das Reich Gottes kommt; der Tag des Herrn eilt. - Vernehmt eine andere kleine Geschichte. Ein Edelmann, der übrigens seinen Namen mit der That trug, hing noch den Ideen der modernen Aufklärung an, während seine treffliche Gattin innig und lebendig dem Evangelio von Christo glaubte. Nichts destoweniger war ihre Ehe eine einträchtige und glückliche. Ein starkes Band, das die Gatten miteinander verknüpfte, war ein hoffnungsvoll aufblühendes Töchterlein, das ihnen der Herr geschenkt; dem aber, während die Mutter es geheim und zart zu Jesu führte, der Vater nicht immer allzu sorgsam seine Zweifel verborgen hatte. Plötzlich Hub das holde Mägdlein zu welken an. Ein schleichendes Fieber führte sie sichtlich dem Grabe zu. Als nun eines Tages Vater und Mutter unendlich bekümmert vor ihrem Lager standen, sah plötzlich die Kranke, die ihres Zustandes sich wohl bewußt war, mit großen, freundlichen Augen den Vater an, und sprach zu ihm: „Väterchen, sage mir, welchem Glauben soll ich nun folgen? dem deinigen, oder dem Glauben meiner Mutter?“ - „Mein theures Kind“, antwortete sofort der Vater mit tiefbewegtem Herzen, aber fester Stimme, „folge du ja dem Glauben deiner lieben Mutter!“ - Ich bin gewiß, ihr Alle in dieser Versammlung, die ihr auch noch den religiösen Standpunkt jenes Edelmanns theilt, sprächet in ähnlicher Lage nicht anders, als jener Vater. Wenn Noth an Mann geht, kommt das Evangelium schon zu Ehren. Aber komme es bei uns zu seinen vollen Ehren, „ehe denn es finster werde, und unsre Füße sich an den dunklen Bergen stoßen!“ Geben wir Raum in unsern Herzen dem apostolischen Zuruf: „Lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit zum Gnadenthron, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns Hülfe noth sein wird!“ Sind wir aber schon der Gnade in Christo theilhaftig worden, o dann verstumme nie mehr vor unserm Ohre das Wort der Wahrschauung, das wir heut vernahmen: „Sehet zu, daß euch Niemand beraube durch die Philosophie und losen Trug, nach der Menschen Ueberlieferungen, nach der Welt Anfängen, und nicht nach Christo. Denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig!“ Sprechen wir vielmehr, diesem Zurufe gemäß, in fröhlichem Trotze mit dem christlichen Sänger:

„Behalte deine Weisheit, Welt,
Und mir laß meinen Christenglauben!
Umsonst hast du dein Netz gestellt.
Was Gott gewirkt, wirst du nicht rauben.
Ging ich in deine Schlinge ein,
Was wurde mir zurückgegeben?
Für Ruh' ertauscht' ich Angst und Pein,
Und Tod für Seligkeit und Leben.

Behalte deinen losen Trug,
Und schau', ob er vom Strick des Bösen,
Wie von der Sünde Bann und Fluch
Dein armes Herze mög' erlösen!
Nur läst're nicht mein höchstes Gut,
Daß nicht das Zornwort mir entsprühe:
„Gott schelte dich, du Lügenbrut!“
Und Gottes Rache es vollziehe!

Behalt' , doch nein, zerreiße sie,
Die Irrwahnsketten die dich binden,
Und laß dich mit gebeugtem Knie
Vor Gottes Sohn am Staube finden!
Hier ist die Wahrheit, hier allein;
Ich schwör's bei des Allmächtigen Namen,
Und tausend Heil'ge stimmen ein,
Und alle Engel singen - Amen!

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