Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein Wanderlied.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein Wanderlied.

Psalm 23.
Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue, und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele; er leitet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück: denn Du bist bei mir; Dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, Du salbest mein Haupt mit Oel, und schenkest mir voll ein. Ja, Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Lebenlang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Ein Wandersang dies, Geliebte, aus dem bewegten Herzen eines erfahrenen Gottespilgers, des Königes David, hervorgequollen. Der Sohn Isais wirft einen Rückblick auf die bis dahin zurückgelegte Wegestrecke feiner Lebenswallfahrt, und wie könnte er da anders, als dem Herrn seinem Gott die Ehre geben, daß Er ihn, wie wunderlich auch zu Zeiten, doch wohl und treu geleitet habe. Allen seinen Mitpilgern und Nachfolgern zur Ermuthigung und zum Troste legt er die Summa seiner Reiseerfahrungen in diesem seinem Liede nieder. Und in der That dürfen auch wir, vorausgesetzt, daß wir dieselbe Straße mit ihm ziehen, einer gleich gnadenreichen Führung zum Herrn uns versehen, und dürfen dies wohl gar in noch erhöhtem Grade und Maaße. Ja, der 23ste Psalm ist das Wanderlied aller Pilger Gottes. Vermögen sie aus eigener Erfahrung in dasselbe noch nicht einzustimmen, so steht's ihnen doch zu, es als Verheißung aufzufassen, und wenigstens im Glauben es schon mitzusingen. Sie thun dies nach dem Willen des Herrn, unter dessen Geisteshauch die schöne Liedesblume in Davids Herzen aufsproß. Vertiefen wir uns darum in des Liedes reichen Inhalt und legen denselben betrachtend vor uns auseinander. Was sich zuerst uns ergeben wird, ist der Grundgedanke des lieblichen Psalms; wir sehen dann diesen Gedanken nach allen Seiten hin sich entfalten; und vernehmen endlich des Liedes köstlichen und triumphirenden Schluß. Schaffe der Herr dem herrlichen Pilgersange einen vollen und lebenskräftigen Wiederhall in unser Aller Herzen!

I.

David beginnt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Wir sind erstaunt über den kühnen Glaubensaufschwung, den wir ihn mit diesen Worten nehmen seh'n. Glücklicher Sänger, der du dich nicht mehr vereinsamt fühlst in dieser Welt, nicht mehr dir selbst gelassen bist, noch mehr auf ohnmächtige und bezügliche Menschen blos dich angewiesen siehst! O köstliche Gemeinschaft, in der du stehst! Herrliche Obhut, deren du dich zu getrösten hast! Unvergleichliches Geleite, dessen du dich erfreuest! - „Der Herr ist mein Hirte!“ In der That, wir trauen unsern Ohren kaum. - Wie kommen so zärtliche, so süße Worte auf die Lippen eines Frommen des Alten Testaments, jener Haushaltung, durch welche man den Ewigen fast nur als „den Heiligen in Israel“ mit den Tafeln des Gesetzes, dem Zepter der Gerechtigkeit, und allen Insignien einer Ehrfurcht, ja Zittern gebietenden Hoheit und Majestät hindurch schreiten sah? Aus dem Munde eines Angehörigen des Mosaischen Gottesstaats hätten wir eher ein: „Der Herr ist mein Schöpfer, mein Gebieter, mein Richter“ erwartet. Und allerdings hat es etwas Tröstliches schon, nur so in voller innerer Wahrheit den Allmächtigen nennen zu können. Man ist sich doch da eines persönlichen Verhältnisses zu Ihm bewußt; und einen Gott zu haben, vor dem man sich als armer Sünder im Staube windet, ist ja immer noch besser, und ein begehrenswertherer Stand, als ohne Gott zu sein in der Welt, oder von Gott sich verlassen und ignorirt zu wissen? Was für einen Namen aber legt David dem Allerhöchsten bei? „Der Herr ist mein Hirte“, spricht er. O hört doch! Wie süßer Flötenlaut tönt dieses Wort uns an, und nichts als Frieden und selige Zuversicht athmet's. Daß er es nur wagt, der kühne Sänger, den Erhabenen auf dem Weltenthrone mit so vertraulichem Namen zu benennen! Hat der Hochheilige etwa sein Racheschwert in die Scheide gesenkt? Nahm Er das Schreckenswort: „Ich will den aus meinem Buche tilgen, der an mir sündigt“, zurück? Beschloß Er, Gnade vor Recht ergehen, ja, bis dahin sich herab lassen zu wollen, daß Er dem Sünder als einem Gerechten begegne, und, statt nach dem Gesetze ihn zu verdammen, das Paradies Seiner Liebe ihm eröffne? - Ja, Er that's. David weiß um Vieles, um das nicht Alle seines Volkes wissen. Ein tiefer Blick ward ihm vergönnt in Gottes Herz und in die Rathschlüsse der ewigen Erbarmung. Er kennt den großen Welterlösungsplan seines Gottes; das Geheimniß des durch die Vermittlung des Eingebornen Sohnes zu Stand und Wesen zu bringenden Versöhnungswerks ward ihm entsiegelt; und so sieht er im Geiste schon an Stelle des Thrones, „der in eitel Feuerflammen brennt“, für alle bußfertigen Sünder einen Thron der Gnade aufgerichtet. Was Wunder, daß eine Anschauung, wie diese, ihn Muth gewinnen läßt, zur Bezeichnung des Herrn eines Ausdrucks sich zu bedienen, der ein Gemeinschafts- und Befreundungs-Verhältniß bedeutet, wie es kaum trauter und inniger sich denken läßt.

War aber ein David schon befähigt und befugt, den Herrn aller Herrn unter einem so tröstlichen Bilde, wie er thut, sich zu vergegenwärtigen, wie viel mehr wir, die wir den Hochherrlichen persönlich als den Gottmenschen in der Nacht unsres Pilgerthals erscheinen sahen, und Ihn selbst bezeugen hörten: „Ich bin ein guter Hirte!“ Aber wie Viele kennen Ihn in dieser Eigenschaft, und werden des ihnen zu Theil gewordenen großen Vorrechtes froh? Ach, Legion heißt die Zahl derer, die noch ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt dahingehn, und sich mit ihrem Glauben kaum bis zu der Idee einer göttlichen Vorsehung und Weltregierung im allgemeinsten Sinne dieses Worts erheben. Daß „die Gottheit“ auf den einzelnen Menschen ein persönliches Augenmerk richten, und einer unmittelbaren Gnadenführung ihn würdigen sollte, das liegt ihrem Gedankenkreise so fern, daß ihnen ein Ausdruck des Vertrauens, wie wir ihn im Munde unseres Sängers finden, nicht allein gewagt und anmaaßend, sondern gar läppisch, kindisch und frömmelnd erscheinen will. Wie sich dies erkläre? O sehr leicht. Sie haben sich nie noch an der Stelle blicken lassen, wo Gottes herablassende Liebe erkannt und seine Leutseligkeit erfahren wird. Wo ist diese Stelle? Da nicht, Geliebte, wo man an den Träbertrögen der Welt noch seine Atzung findet; da nicht, wo man sich über sein Elend gewaltsam die Augen blendet, und in Selbstbetrug sich einspinnt; ebensowenig da, wo man die Übertretung auf die leichte Achsel nimmt, oder sich selbst die Sünden vergeben zu können meint; und am wenigsten da, wo man die faule, aller Sittlichkeit Hohn sprechende Toleranz der verderbten Welt auf Gott zu übertragen sich vermißt, oder gar mit innerer Lüge sich Gericht, Himmel und Hölle wegraisonirt. - „Aber bezeichne uns die Stelle! Wo ist sie?“ - Da, Freunde, wo man die innersten Bedürfnisse des armen Herzens, die lange niedergehaltenen und unterdrückten, endlich zu Worte kommen läßt; da, wo um die Zukunft unsres Lebens und um unser einstiges ewiges Endloos zum Zittern angst und bange werden will; da, wo man nach Gnade und Frieden zu dürsten begann wie der Hirsch in schwülen Tagen nach frischem Wasser dürstet, und wo man eine Welt voll irdischer Herrlichkeit, wenn man sie besäße, mit Freuden hingäbe, wenn man um sie Gottes Huld und Freundschaft sich erkaufen konnte. Ja, da, da geht Einem erst über das, was Gott Großes an den Menschenkindern gethan hat, ein Licht auf. Da lernt man einstimmen in den Ruf der Verwunderung: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er seinen eingebornen Sohn gab“, und wie der Spruch weiter lautet. Da findet der Herr erst Raum, uns durch den heiligen Geist persönlich zuzueignen, was in dem großen, blutigen Mittlerwerke uns erworben ward, d. h. uns die Sünde zu vergeben, das Kindschaftsrecht uns zuzusprechen, seinen Frieden uns ins Herz zu hauchen, und Flügel gewissester Hoffnung unsrer Seele anzuweben. Und wie, daß wir nach solcher Liebesbegegnung Gottes nicht Muth gewinnen sollten, Ihn in persönlichster Zueignung „unsern Gott“ zu nennen, ja mit David zu frohlocken: „Der Herr ist mein Hirte!“ Und ist Er das wirklich, der allmächtige und allgenugsame Gott, so folgt der Nachsatz von selbst: „Mir wird nichts mangeln!“ - „Nichts mangeln?“ höre ich befremdet fragen, und merke, daß sich in dem Einen und Andern hier Bedenken regen. Ich aber theile diese Bedenken nicht, sondern bin, ohne in Abrede stellen zu wollen, daß auch Kinder Gottes einen scheinbaren oder zeitweiligen Mangel erfahren können, vollkommen gewiß, daß Alle, die hienieden mit gutem Grunde sagen durften: „Der Herr ist mein Hirte“ am Schlusse ihrer Laufbahn beim Rückblick auf das Gesammtbild ihres Erdenlebens auf die Frage: „Habt ihr je Mangel gehabt?“ wie einst die Jünger im Evangelium werden antworten können, und antworten müssen: „Nein Herr! Nie, keinen!“ - Doch hört davon ein Weiteres!

2.

Der Haupt- und Grundgedanke unsres Wanderpsalms hat sich uns ergeben. Auf's trostreichste und lieblichste sehen wir denselben nun sich weiter vor uns entfalten. Der Sänger fährt zu singen fort: „Er weidet, (buchstäblich: lagert) mich auf grüner Aue, und führet mich zum (buchstäblich: pfleget mein am) frischen Wasser.“ Nicht von Speisung und Tränkung ist hier noch die Rede. Vielmehr schwebt dem heiligen Sänger hier nur als Bild die Gewohnheit des morgenländischen Hirten vor, zur Zeit der Mittagsschwüle seiner ermatteten Heerde in irgend einem lieblichen und kühlen Grunde eine Stätte der Ruhe anzuweisen. „So“, singt er, „macht auch Er's.“ Ich glaube zu errathen, welche Momente seines Lebens an Davids Erinnerung hier vorüberzogen. Ihr wißt, manchen sauern Gang hat er gehen, manchen gallenbittern Kelch bis auf die Hefen leeren müssen. Bald umzuckte ihn der Mordstahl des Argwohns oder Neides; bald klirrten die Schwerter aller Nachbarvölker Israels über seinem Haupte; bald stürmte oder brannte es in seinem eigenen Hause, oder es tanzten Hunger, Pestilenz und Tod rings um ihn her ihren schauerlichen Reigen. Nicht selten gewann es den Anschein, als habe Gott seine Hand gar von ihm abgezogen, und ihn allen Mächten des Verderbens preisgegeben. Aber zum Preise des ewig Treuen muß er's rühmen, daß es nie an stillen Zwischenräumen ihm gemangelt habe, in denen ihm wieder frei aufzuathmen, und von der Schwüle des Lebens sich zu erholen vergönnt war. Als unter Anderm sein Todfeind Saul den Schauplatz verlassen hatte; als der Aufruhr Absalons gedämpft, als alle die Heidenstämme, die wider ihn den Schild erhoben, auf's Haupt geschlagen waren, und er wieder an Werke des Friedens denken, den Plan des Tempelbaues wieder aufnehmen, der Verschönerung der Gottesdienste seine Sorge weihen, und aufs neue zum Psalter greifen, und in lieblichen Liedern sich ergießen konnte: in allen diesen Momenten waren ihm wieder solche „Lagerstätten“ bereitet, wie auch Israel sie immer zur rechten Stunde in der Wüste antraf. Und glaubt's nur, bis heute hat der „gute Hirte“ seine Verfahrensweise noch nicht geändert. Achtet nur, wofern ihr seiner Heerde angehört, auf euern eigenen Lebensweg, und ihr werdet eure Führung mit derjenigen unsres königlichen Sängers in vollkommenstem Einklange finden. Wenn ihr im Kampfe steht, in schweren Anfechtungen schmachtet, und allerlei Trübsal und Widerwärtigkeit zu erleiden habt, was gilts? nie brennt das Feuer ununterbrochen fort; sondern auch euch kommen immer wieder Pausen und Ruhestunden, da ihr mit Frieden euer Tagewerk verrichten, ungestört in euerm Kämmerlein, oder im Schooße eurer Familie mit Gottes Wort euch beschäftigen, in Schriften oder vertraulichen Unterhaltungen an den Heilserfahrungen Anderer euch erlaben, und so euch neue Kräfte für weitere Kämpfe sammeln könnt. Da lagert ihr denn bei der Schwüle auf „grüner Matte“, und erholt euch an „frischen Wasserbächen“, und besiegelt's aufs neue, daß der Herr ein treuer Hirte sei, der die Seinen nie über Vermögen versucht werden lasse.

„Er erquicket meine Seele“, fährt unser Sänger fort. Die müde, die ermattete Seele meint er. Und o, wie Er die erquicken kann, der leutselige Herr, wenn er ihr kräftig zuspricht: „Du bist ja errettet und versöhnt;“ wenn Er bald hie, bald da in seinem Worte ein neues, süßes Geheimniß ihr entsiegelt; wenn Er ihr den Regenbogen seiner Verheißungen durch die Wolken brechen läßt, oder dem Auge ihrer Hoffnung den Himmel erschließt, ihre künftige Heimath! „Er führet mich“, singt David weiter, „auf rechter Straße“, buchstäblich: „auf Pfaden der Gerechtigkeit“, d. h. nach seinem nächsten Sinn: „grade aus, ob es auch kreuz und quer scheint“; und dann: „auf Pfaden, wo Er die Pilgernden in immer erneuter Vergebung, Rechtfertigung oder Gerechtsprechung, und Stärkung zur Heiligung ihres Lebens, seine Liebesnähe erfahren läßt. Und das thut Er Alles „um seines Namens willen.“ David will sagen: „Er thut's gleichsam zur Wahrung seines guten Leumunds, da Er je und je dafür gehalten ward, daß Er treu sei, und daß man wohl fahre bei Ihm und unter seiner Leitung. Der Hauptgedanke aber, den der Sänger mit jenem Ausdruck verbindet, ist dieser: „Der Herr erzeigt alle seine Wohlthat zu seiner Selbst Verherrlichung, und nicht, weil Er etwa uns derselben würdig erfunden hätte.“ Ach, wenn es auf Würdigkeit ankäme, wer müßte dann nicht denken: „Nur ein Trost für Heilige ist's, der hier sich darbeut; nicht aber für mich!“ Nun vernehmen wir die frohe Kunde, der Herr sehe die Person nicht an, sondern nur das Herz, ob es für seine Gnaden offen sei, und dann segne Er, um dadurch Sich und Seinen Namen groß zu machen. Was sagt ihr dazu? Mag etwas beruhigender und tröstlicher für uns sein, als diese Eröffnung?

Unser Wanderlied geht jetzt in eine ernstere Tonart über. Von einem „finstern Thale“ redet David. Ach, manch' solches, in dem er geistlicher Weise nicht Hand mehr vor Augen sah, hat er durchschreiten müssen. Und welcher Gottespilger, der schon etwas länger unterweges, weiß von ähnlichen Gängen nicht zu sagen? Etwas von den Schatten des „dunkeln Thals“ umgraute uns, als vor einigen Tagen unser geliebter König feuchten Auges von uns wegzog, und der thränennassen Blicke so viele ihr schmerzlich Lebewohl ihm winkten. Wie schwer fiel es uns da auf's Herz: „Ein solcher König, und dem ein solches Leid! - Die liebe Königin, und ihr ein solcher Gram! - Und unserm ganzen Vaterlande dieser harte herbe Schlag!“ - Schon tauchte, tief beunruhigend, die Frage in uns auf: „Warum, warum das?“ - Schon erfaßte uns wie mit Geierkrallen, - und das war das geistliche „Unglück“, das uns nahte, - der Zweifel, ob wirklich auch ein heiliger Wille über den Menschenkindern walte, und ein lebendiger und gerechter Gott die Geschicke der Erdenpilger lenke? - Etwas von den Schauern des „dunkeln Thals“ umfing uns, als wir Tags darauf die Gruft, ihr wißt, welches treuen Gottesknechts umstanden. - Dieser Nathanael, in dem kein Falsch war, dieser tapfere Christuszeuge, dieser unermüdliche Hirte der ihm anvertrauten Heerde, - da ging er hin, nachdem er kaum in unsre Mitte hereingetreten war! - Warum wurde er schon abberufen, nachdem er vor wenigen Jahren erst sein gesegnetes Werk unter uns begonnen? Warum blieben unsre Gebete um sein Leben unerhört? - Ach, wir vermochten uns diese Fragen nicht zu beantworten, ja in den Weg des Herrn uns nicht zu finden, und beklemmend, niederbeugend, ängstigend stieg der Scrupel in uns auf, ob Gott überhaupt noch „Gedanken des Friedens“ habe über dieser unsrer Stadt, und nicht vielmehr „Gedanken des Leides.“ Im „finstern Thale“ wandern wir, wo die Sonne der wahrnehmbaren Barmherzigkeit Gottes über uns unterging, und von allen Seiten nur Gefahr, Noth und Angst auf uns einstürmen. Wer sollte in solcher Lage nicht erschrecken? Auch David erschrak, wenn solche Nacht über seinen Lebensweg sich lagerte; wenn, wie von reißenden Thieren, er von einer Versuchung um die andere zur Verzweifelung, zum Irrewerden an Gott, und zum Abfall von dem Ewigen sich angefallen fühlte, und wenn in diesem von keinem Strahl der göttlichen Liebe erhellten Dunkel das Gebet auf seinen Lippen erstarren wollte. Aber er kam nichtsdestoweniger durch. „Ich fürchte kein Unglück“, sagt er. Aus welchem Grunde nicht? Die Hirtentreue Gottes ist sein Trost. „Du bist bei mir!“ - Ja, lieber Sänger, Er ist's, und „alle Tage bis an der Welt Ende!“ - „Dein Stecken und Stab trösten mich!“ - „Daß Du den Hirtenstab über mich führst“ (dies des Sängers Meinung,) „das genügt mir, und überhebt mich aller Sorgen!“

- Ja, kein Thalgrund des Erdenlebens, und wäre es das Thal der Todesschatten, ist so nächtig, so schaurig und so tief, daß nicht auch da, wer lauterlich dem Herrn sich zugeschworen, an seiner Hand, und in den Gängelbanden seiner Liebe ginge. Nimmer bleibt solchem Pilger die Stunde aus, da er, seinen Kleinglauben verdammend, bezeugen muß: „Herr, Du warest bei mir!“ - „Wozu aber“, höre ich fragen, „für Gottes Kinder solche Angst- und Schmerzenswege?“

Ich frage dagegen: „Wozu für die Bäume im Walde der Sturm, der sie rüttelt? Wozu für das Gold- und Silbererz die Tigelgluth?“ - Muß ich euch aufs neue an das Wort des Herrn erinnern: „Ich will dich auserwählt machen im Ofen des Elends?“ Dieses Wort gilt den Seinen allen; und unter diesen befinden sich ja zuweilen auch Fürsten und Könige. Und da geschieht's denn wohl, daß dem erziehenden Herrn in einem solchen „Großen der Erde“ das zu heiligende und für den Himmel zu bildende Gotteskind dem Könige vorgeht. Ihr wißt aber, daß auch geschrieben steht: „Den Gerechten muß das Licht immer wieder aufgehn, und Freude den frommen Herzen!“ -

Lauschen wir unserm Sänger weiter! Hat er seinen Herrn bisher nur als Den gepriesen, der die Mühseligkeiten seiner Gläubigen lindernd oder beseitigend zu Herzen nehme, so rühmt er jetzt auch die positiven Segnungen und Wohlthaten, deren sie sich zu seiner Milde zu versehen haben. Zu höherm Tone hebt sich der Wandersang. „Du bereitest vor mir“, sagt David, „einen Tisch Angesichts meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Oel, und schenkest mir voll ein!“ Hört, welch' ein Jubelklang in diesen Worten! Ja, es schlagen auch solche Stunden den Gottespilgern, und es ist der Weg des Herrn trotz dem und jenem doch ein herrlicher und seliger Weg. Wer nennt, wer zählt sie alle, die von der Welt nicht einmal geahnten Freuden, womit der gute Hirte seine Heerde schon hienieden überströmt? Wenn Er durch seinen Geist nur einmal recht lebendig in uns werden läßt das dreifache Bewußtsein: „Du bist mein Gott“; „Ich traue unter Deinen Flügeln“; „Ich komme zu Dir, zu Deiner heiligen Wohnung“: welche Wonne durchdringt unsere Seele! Wenn wir im eigenen Leben bald hie, bald da auf seine Fußtapfen stoßen, und, sei es in Gebetserhörungen, sei es in Führungen, oder in Bewahrungen und Hülfen den unzweideutigen Spuren seiner Gnadennähe begegnen: welch' ein unaussprechlicher Genuß das! Was hat die arme Erde Aehnliches zu bieten? Wenn Er uns Siegesfeste feiern läßt: persönliche, nach wohl bestandenem Kampfe wider diese und jene schwere Anfechtung und Versuchung; oder reichsgenossenschaftliche nach neuen Triumphen, welche die Sache der göttlichen Wahrheit irgend wo in der Welt über das Reich der Finsterniß davon trug: welch' ein Jubel! Und dies sind nur erst einzelne Tropfen aus dem Freudenbecher, mit dem Er den Seinen die Mühen der Wallfahrt zu versüßen weiß. - Wer vermags, die ganze Fülle geistlicher Erquickungen zu ermessen? Fast trotzig klingt's, wenn unser Sänger spricht: „Du bereitest vor mir einen Tisch Angesichts meiner Feinde!“ - Was will er damit sagen? Was Anderes doch, als: „Ich kann mich leicht darob beruhigen, daß meine Widersacher mich mit Spott und Verfolgung überziehen. Ich bin ja der Glückliche, und sie haben nur das Zusehn!“ Doch geht seine Absicht bei jenen Worten vornehmlich dahin, der Unabhängigkeit seiner Freude und seines Friedens von allen äußeren Verhältnissen zu rühmen. Er bedarf nicht der Welt noch ihrer Gunst, um froh und gutes Muths zu sein. Aufgerichteten Haupts schreitet er durch das Lager seines Widerparts hindurch. Verhöhnen sie ihn, so kann er sie nur beklagen. Stoßen sie ihn von sich aus, so weiß er, sie werden einst ihn selig preisen.

3.

Wir sind beim Schlusse unsres Pilgerliedes angelangt. Der Sänger erscheint uns auf dem Gipfel der Glaubensfreudigkeit. Zurückkehrend zu dem Gedanken des Anfangs, aber denselben nur noch erweiternd und steigernd, spricht er: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen, (buchstäblich: mich verfolgen,) mein Lebenlang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Welch' eine Zuversicht! Aber sie ist wohl begründet. Sie stützt sich auf lauter Verheißungen des ewig Getreuen; und diese sind wandellos, wie Er selber. David will sagen: „Wie meine Feinde mir aus Bosheit, so wird mir Gottes Güte auf Schritt und Tritt mit Wohlthun nachgehn.“ Er sagt damit nicht zu viel. Ein Himmel voll Gnade breitet sich über die Freunde Gottes aus. „Gutes“ und „Barmherzigkeit“ ist Alles, was ihnen widerfährt: denn, „denen, die Gott lieben“, sagt das untrügliche Wort, „müssen alle Dinge zum Besten dienen.“ Wird das Wie nicht immer schon hienieden erkannt, so bringt doch die Ewigkeit es einst an's Tageslicht. - David „bleibt immerdar im Hause des Herrn!“ O, beglückendes Bewußtsein dies! Ob er leide, ob er in Freuden schwebe; ob es nach Wunsch ihm gehe, ob wider Wunsch: Alles widerfährt ihm - nicht da draußen, in einer Welt, über der die Strenge waltet, und nicht die Gnade; sondern in Gottes Vaterhause widerfährt es ihm, d. i. in der Gemeinschaft, in der Gnadenführung, und unter dem Liebeswalten seines ihm versöhnten Gottes. Auch ihm ist zugesagt, der Herr wolle ihn behüten wie den Apfel in seinem Auge, und ihn auf Adlersflügeln tragen bis an's Ende. Und einst, - o, er weiß, wohin seine Straße geht, - liegt Alles, was Kampf und Noth, was Geschrei und Thränen heißt, ferne hinter ihm, und wie ist er nun erst „im Hause des Herrn!“ Das innerste Heiligthum desselben hat ihn aufgenommen. -

Seht, das ist das Wanderlied der Pilger Gottes, und sein Inhalt. Nun stimme der Herr die Saiten unsrer Seele, daß es bald volltönig in denselben wiederklinge! Unsere Augen werden im Evangelium selig gepriesen, daß sie sahen, was viele Propheten und Könige zu sehn begehrten, und haben's nicht gesehen. Wie, daß wir uns mit diesen nicht zu gleicher Höhe heitrer Zuversicht sollten erheben können? Mache der Herr uns in Gnaden dazu tüchtig, und verleihe Er uns ein offenes Ohr auch für den Zuruf eines evangelischen Gottespilgers:

Ruhst du in Jesu Armen,
Und hat dich sein Erbarmen
Vom Todesschlaf erweckt,
So sei nur still zufrieden:
Es ist kein Ort hienieden,
Da nicht sein Flügel dich bedeckt.

Du bist nicht mehr dein eigen;
Er will an dir's erzeigen,
Wie treu Er, und wie groß.
So laß Ihn mit dir machen,
Und alle deine Sachen,
Wirf sie in seinen Mutterschooß!

Ob Palmen dich beschatten;
Ob, statt beblümter Matten,
Nur Wüste dich umgraut:
Du sollst es hier, wie dorten,
Du sollst's an allen Orten
Erfahren, Wem du dich vertraut.

Scheint's oft, Er sei gewichen;
Trau' den Verheißungssprüchen,
Daran du dich erlabst.
Nur still! - Einst heißts mit Schalle:
„Hier bin Ich, und sie alle,
Die, heil'ger Vater, Du mir gabst!“ - Amen.

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