Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Philipper in 25 Predigten - Siebzehnte Predigt.

Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Philipper in 25 Predigten - Siebzehnte Predigt.

Vom Ziele fern, wonach ich ringe,
Ruf ich: erleichtre mir die Last,
Dass ich, o Geist des Herrn, vollbringe,
Was du selbst angefangen hast!
Erleichtre, fördre meinen Streit
Für meiner Seele Seligkeit!

Wir nennen unser Leben einen Lebenslauf - warum? Weil es dem Lauf eines Stromes gleicht, der schnell an's Ziel kommt? Es ist wahr, unser Leben eilt schnell dahin, wie ein Wagen, der vorüberfährt, wie eine Wolke, die eilend hinzieht, wie ein Schiff, dessen Spur bald verschwunden ist. Darum nun kann man die Flucht des Lebens auch mit dem Lauf eines Stromes vergleichen. Aber das ist doch eigentlich nicht der Grund, weshalb das menschliche Leben ein Lebenslauf genannt wird. Wie eine Münze, die lange im Gebrauch ist, zuletzt ihr Bild und ihre Überschrift verliert, so gibt es auch manches Wort, das seine anfängliche höhere Bedeutung allmählig verloren hat durch seinen Gebrauch unter den Menschen. Das Wort Lebenslauf stammt aus der Schrift. Der Apostel Paulus braucht es häufig, wie wenn er zu den Galatern sagt: Ihr liefet fein, und Hebr. 12: Lasst uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist, und von sich selbst sagt er, da er dem Tod nah war: Ich habe meinen Lauf vollendet. Warum nun nennt der Apostel das Leben einen Lauf? Er denkt an die Wettkämpfe der alten Griechen. Zu gewissen Zeiten wurde im Fahren, Ringen, Werfen, Laufen ein öffentlicher Wettkampf angestellt. Schranken waren gezogen, innerhalb deren, eine Bahn war bereitet, auf der man lief. Wer nur zuerst das Ziel erreichte, dem wurde ein Ehrenkranz zu Teil, und eine größere Ehre und Freude gab es nicht, als wenn jemand Sieger war in diesem Wettlauf. So, sagt Paulus, ist es auch mit dem Leben eines Christen. Ihm sind Schranken gesetzt im Wort Gottes, innerhalb deren er seinen Lebenslauf vollbringen soll; ihm ist eine Bahn vorgezeichnet von Gott, worauf er laufen soll, das ist der Glaubens- und Tugendweg, der zum ewigen Leben führt, und wer auf diesem Weg mit Eifer und Treue vorwärts schreitet, der wird auch gekrönt, aber nicht mit einem verwelklichen Kranz von Öl- oder Lorbeerzweigen, sondern mit der Krone des ewigen Lebens, wie es heißt (Offb. 2,10): Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des ewigen Lebens geben. Sieh, mein Christ, das ist der Grund, weshalb unser Leben ein Lebenslauf heißt. Von diesem Lauf ist nun auch in unserm heutigen Text die Rede.

Phil. 3, V. 12 bis 14:
Nicht dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, wozu ich ergriffen bin von Christo. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, dass ich es ergriffen habe. Eins aber tue ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das vorne ist; und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu.

Hier habt ihr ein Zeugnis von der demütigen Selbstschätzung des Apostels. Es wird dies den Philippern gesagt zur Warnung vor der Gefahr, in der sie schwebten (Kap. 2,3), vor der Gefahr der Selbstzufriedenheit, der Selbstgerechtigkeit und des geistlichen Hochmuts. „Nicht dass ich es schon ergriffen habe.“ Was? Die überschwängliche Erkenntnis Christi, wovon er zuvor geredet hat. Hätt' ich das Kleinod schon ergriffen, so hieße das ja mit andern Worten: ich bin schon vollendet; das bin ich nicht. Wohl aber jage ich nach, ob ich wirklich ergreifen möge das, wozu ich auch ergriffen bin von Christo. - Wann und wie hat ihn Christus ergriffen? Früher, da er noch wider Christum war; ja, da fasste ihn der Herr mächtig an, und zog ihn von der Bahn der Sünde auf die Bahn des Glaubens. Aber von dem Ziel, dahin der Herr ihn führen wollte, fühlt er sich noch weit entfernt; ergriffen bin ich, aber ich habe noch nicht ergriffen. So sollen auch die Philipper von sich denken. Um ihnen das recht an's Herz zu legen, redet er sie an: „Meine Brüder“, wiederholt, was er gesagt, und wehrt die Meinung ab, als ob er sich selbst für vollendet halte. Ich halte nicht von mir selber, dass ich es ergriffen habe; eben so wenig haltet ihr solches von euch. Eins aber, fährt er fort, Eins tue ich, auf Eins kommt es an. Und nun stellt er uns sein Leben dar unter dem Bild eines Wettlaufs. Hört denn von dem Apostel die Antwort auf die Frage:

Was ist des Christen Lebenslauf?

Es ist

  1. ein Vergessen dessen, was dahinten liegt, und
  2. ein sich Strecken und Jagen nach dem, das vorne ist.

O, mein Gott, lehre uns doch, dass wir noch nicht sind, was wir sein sollen, und dass wir mit Eifer und Fleiß zu werden trachten, was wir noch nicht sind.

1.

Das Erste, was von uns, die wir Christen sind, gefordert wird, dass wir vergessen sollen. „Ich vergesse, was dahinten liegt.“ Wer auf der Kampfbahn lief, der stand nicht still, der schaute nicht zurück, der betrachtete nicht mit Wohlgefallen den zurückgelegten Teil der Bahn, sondern als ob Alles, was er hinter sich hatte, Nichts wäre, so waren seine Gedanken nur gerichtet auf das, was vor ihm lag. Christ, willst denn du still stehen auf deinem Weg? willst du zurückschauen und fragen: Was fehlt mir noch? Sieh, das bedeutet das Vergessen, dass wir uns alles Ruhms enthalten, dass wir, eingedenk unserer Unvollkommenheit, alles, was wir bereits erreicht haben, für etwas gar Geringes halten sollen. Es betrifft dies Dreierlei: Unsere Erkenntnis, unsern Kampf, unsere Gerechtigkeit. - Wie steht es um deine Erkenntnis, lieber Christ? Alles hängt ja zunächst von der Erkenntnis Jesu Christi ab, wie denn Paulus dies zuvor als sein Ziel bezeichnet hat, „zu erkennen ihn, und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden.“ Nun ist es freilich wahr, dass du mit Christo nicht ganz unbekannt bist. Du bist ja kein Heide, sondern ein Christ, der Manches gehört und gelernt hat aus Gottes Wort, und so sagst du vielleicht: Ich kenne Christum. Aber wisse, die äußerliche Bekanntschaft tut es nicht. Ob dir auch die heilige Schrift bekannt wäre wie dein eigenes Haus, so dass, wie du weißt, was in jeder Stube und Kammer deines Wohnhauses ist, du so auch wüsstest, was in jedem Kapitel der Propheten und Apostel steht: wäre das die Erkenntnis, welche der Herr meint, wenn er spricht: Ich kenne die Meinen und bin bekannt den Meinen? Die wahre Erkenntnis ist nicht nur ein Licht im Verstand, sondern auch eine Liebe im Herzen und eine Kraft im Willen, und ist ein inwendiges so festes Band zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten, dass eher der Mond sich schiede von der Sonne, als der Jünger von seinem Meister und Herrn Christo. Darum auch Christus der Hirte heißt, und die ihn kennen, sind die Schafe; Christus der Weinstock, sie die Reben; Christus der Eckstein, sie das darauf erbaute Haus; Christus das Haupt, sie die Glieder. Nun lass dich fragen, ob du mit Verstand, Herz, Sinn und Willen deinem Erlöser so nahe stehst, dass du sagen kannst: Ich kenne ihn, denn er ist mein Licht; ich kenne ihn, denn er ist meine Liebe; ich kenne ihn, denn er ist mein Leben; ich kenne ihn, denn er ist meine Kraft, Stärke und Trost. Und ob du ihn so kennst, so sollst du dennoch sagen: Ich vergesse, was dahinten ist, denn es kann und soll das Band zwischen dir und ihm noch viel fester und inniger werden. Vielen aber - ach, wie Vielen! - ist er noch ein ganz Unbekannter; sie haben von ihm gehört, haben Einiges von ihm gelernt, aber ihrem Inneren steht er noch ganz fern. -

Nun frag' ich weiter: wie steht's um deinen Kampf? Ein Christ muss sagen können: Ich habe die Welt überwunden. Er muss wie Paulus von einer Zeit wissen, wo ihn Christus ergriffen, ihn mit mächtigem Arm ergriffen und wie ein verlorenes Schaf aus der Wüste herausgeholt und zu seiner Herde getragen hat. Das ist die Zeit, wo in ihm der alte Mensch mit seinen Sünden und bösen Lüsten stirbt, und ein neuer Mensch in ihm aufersteht, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott lebt. So muss er sagen können: Ich hatte die Welt lieb und was in der Welt ist, nun aber hab' ich sie nicht mehr lieb und stelle mich ihren Kindern nicht mehr gleich. Ich tat Sünde und musste sie tun, denn ich war der Sünde Knecht; nun aber hasse ich die Sünde und tue sie nicht mehr, denn ich bin aus Gott geboren. Gottlob! ich kann mit Paulus sagen: Die Welt ist mir gekreuzigt und ich der Welt. Kannst du das sagen, mein Christ? Und wenn du es kannst, so vergiss nicht hinzuzusetzen: Nicht dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei. Die Galater ließen sich bezaubern, dass sie nicht treu blieben in ihrem Kampf, und Demas gewann die Welt wieder lieb. Kommen nicht auch in deinem Leben schwache Stunden vor, wo du dich bezaubern lässt von dieser oder der bösen Lust und dann wieder bist, wie du früher warst? Gedanke an Lots Weib. Heilige Vorsätze fassen und von der Welt sich lossagen auf Tage und Monate, das ist so schwer nicht; aber die Vorsätze sollen nicht wie Blüten vom Lebensbaum abfallen, sondern ansetzen und reifen zur Frucht eines heiligen Sinns und Wandels. Du hast dich von irgend einer Sünde losgesagt; aber vergiss nicht, dass die Sünde sich noch nicht losgesagt hat von dir; sie ist ausgegangen, kann aber keine Ruhe finden: da kommt sie wieder, lockt und reizt dich in schwachen Stunden, und so fällst du wieder, nachdem du dich kaum aufgerichtet hast. So wird die gedämpfte Kohle wieder glühend und wird zu einem Feuer in dir, das stärker brennt, als es vielleicht je gebrannt hat. Darum rede nicht zu viel von deinen Siegen, die du erfochten hast, sondern gedenke der vielen schwachen Stunden, wo du dem Zorn, dem Unmut, der Sorge, der Wollust oder andern Begierden unterlagst. Sprich mit Paulus: Ich vergesse was dahinten liegt, geh' in dein Kümmerlein, weine und flehe Gott um Vergebung an. -

Und nun die dritte Frage: Wie steht's um deine Gerechtigkeit, um deine Tugend? Du solltest billig bescheiden sein, und dich demütigen vor Gott; wenn du dich mit Paulus vergleichst. Du weißt, welch ein Mensch aus ihm geworden war. Denk an seine Liebe - er hätte für seine Brüder mögen in den Tod, ja in die Hölle gehen; denk an seine Arbeit - er hatte mehr getan, denn sie alle; denk an seinen Kampf, wovon wir lesen 2 Kor. 11. Fürwahr, hat die Welt je einen christlichen Tugendhelden gesehen, so war es Paulus. Dennoch spricht er: Ich vergesse was dahinten liegt. Lernt von ihm, die ihr immer mit euch selbst zufrieden seid, die ihr euch und Andere fragt: Was fehlt uns noch? die ihr, wenn von Gottes Willen die Rede ist, meint, den hättet ihr erfüllt von Jugend auf; die ihr wohl gar so vermessen seid, vor Gott hinzutreten mit dem Bekenntnis: Wir danken dir, Gott, dass wir nicht sind, wie andere Leute sind. In der Tat, ihr solltet viel bescheidener denken von eurer Gerechtigkeit. Zeigt mir euren Weizen, so will ich euch das Unkraut zeigen, das zwischen eurem Weizen steht. Ihr tatet Gutes: habt ihr nicht auch Böses getan? Wessen ist mehr: des Guten, das ihr tatet, oder des Guten, das ihr ließt? Wie, wenn Gott euch wöge auf der Waage seiner heiligen Gerechtigkeit, so fürchte ich, dass das Urteil lauten würde: Ich habe euch gewogen, aber zu leicht erfunden. Wie ihr euch verhalten habt als Kinder gegen eure Eltern, als Eltern gegen eure Kinder; als Männer gegen eure Weiber, als Weiber gegen eure Männer; als Herrschaften gegen eure Dienenden, als Dienende gegen eure Herrschaften; als Wohlhabende gegen die Armen, als Arme gegen eure Versorger; als Christen gegen eure Widersacher, als Geschöpfe gegen euren Schöpfer, als Erlöste gegen euren Erlöser: erwägt das alles ganz genau, prüft euch und erforscht Herz, Sinn, Leben und Wandel, so werdet ihr mit Paulo sprechen: Nicht dass ich es schon ergriffen habe. Immer missfalle euch, was ihr seid, wenn ihr zu dem gelangen wollt, was ihr nicht seid, denn da, wo ihr euch selber wohlgefallt, bleibt ihr stehen und kommt nicht weiter.

2.

Darauf aber kommt es nun eben an, dass wir fortschreiten in unserer Erkenntnis, in unserm Kampf, in unserer Tugend und Gerechtigkeit. Was ist des Christen Lebenslauf? Es ist ein sich Strecken und Jagen nach dem das vorne ist. - Der Apostel vergleicht sich mit jenen Wettläufern, die, ohne umzublicken, nur das Ziel vor Augen hatten, das vor ihnen war, und mit vorgestrecktem Haupt, Brust und Armen, im angestrengtesten Lauf dies Ziel zu erreichen suchten. Was soll nun dies Jagen und sich Strecken bedeuten? Dreierlei: ein sehnliches Verlangen nach der zukünftigen Herrlichkeit; ein beständiges Wachsen und Fortschreiten in allem Guten; ein treues Kämpfen wider Alles, was unser Wachstum hindern will. -

Ich jage nach dem Ziele, hin zu dem Kampfpreise der himmlischen Berufung Gottes in Christo Jesu. O, da seh' ich das Herz des Apostels, wie es so voll ist des sehnlichsten Verlangens, dass er das ihm vorgesteckte Ziel erreichen möge. Welches Ziel? Es ist nicht ein irdisches, sondern es ist das, wozu Gott uns berufen hat in dem, welcher uns hineinführt in sein Himmelreich, welches ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist; welcher uns hineinbringt in den Himmel, wo Freude die Fülle ist und liebliches Wesen zur Rechten Gottes ewiglich. Also die Seligkeit, das ewige Leben hat er vor Augen, und vergleicht es mit dem Kampfpreis, der den Siegern zu Teil ward in den Wettkämpfen der alten Griechen und Römer. Was sie erlangten, war nur ein Irdisches, ein verwelklicher Lorbeerkranz, und doch war selbst dieser Kranz den Siegern eine solche Ehre und Freude, dass ein Vater tot zur Erde niedersank bei der frohen Nachricht, dass seine beiden Söhne an Einem Tag den Sieg gewonnen hätten. Aber Paulus redet von einem viel besseren Kampfpreis, nicht von einem irdischen, sondern von einem himmlischen, nicht von einem vergänglichen, sondern von einem unvergänglichen, den die Schrift die Krone der Ehre, die Krone der Gerechtigkeit, die Krone des Lebens nennt. Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben, spricht der Herr (Offb. 2,10). Darauf ist des Apostels Verlangen gerichtet, und er will im Trachten nach dieser Krone nicht zurückbleiben hinter irgend einem seiner Mitkämpfer, daher spricht er: Eins tue ich, auf Eins kommt es mir an. Ähnlich spricht der Herr zur Martha: „Eins ist not; Maria hat das beste Teil erwählt“, welches Wort in unser Gesangbuch übergegangen ist:

Eins ist not, ach Herr, dies Eine
gib mir, Jesu, gib,
dass ich ewig mich mit dir vereine,
nichts so brünstig lieb' als dich.
Ach, durch alles Glück der Erden
kann ich doch nicht selig werden,
elend bleib' ich, Jesu Christ,
wenn du nicht mir alles bist. -

O Christen, vergesst ihr auch, wozu ihr von Gott in Christo Jesu berufen seid? Nicht dazu, dass ihr hier im Joch geht, um schließlich Staub und Asche zu werden. Auch nicht dazu, dass ihr euch hier irdische Güter sammelt, um zu euch sagen zu können: Iss, trink und habe guten Mut. Weniger noch dazu, dass ihr hier den breiten Weg geht, der zum Verderben und zur Verdammnis führt. Nein, das ist die Berufung in Christo Jesu, dass ihr aus der Finsternis der Sünde an das wunderbare Licht der Gnade kommt (1 Petri 2,9); dass ihr aus der Knechtschaft des Geistes zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes gelangt (Gal. 5,13); dass ihr aus dem Reich des Teufels versetzt werdet in das Reich des lieben Sohnes (1 Thess. 4,7); endlich, wenn ihr sterbt, dass ihr selig sterbt, und wenn ihr gestorben seid, dass ihr dann zu Gottes ewiger Herrlichkeit gelangt (1 Petri 5,10). Und nach dem allen verlangt euch nicht? Dann nennt euer Leben nicht einen Lebenslauf, nennt es lieber einen Stillstand, einen Rückschritt, einen Schlaf, einen Tod. Der ist kein Christ, der nicht glüht für seinen Beruf, und dem man's nicht ansieht, dass er eine heilige Sehnsucht, ein heiliges Verlangen hat nach dem, wozu ihn Gott berufen hat. -

Wo nun aber dies Verlangen ist, da ist auch ein beständiges Wachsen und Fortschreiten in allem Guten. Spiegle dich in der Saat, die auf dem Feld steht. Der Same, den du sätest, keimte; aus dem Keim wurde ein schönes Grün; das Grün stieg empor und wurde ein Halm; an den Halm setzte sich die Ähre, in der Ähre bildete sich die reiche Frucht. Es ist nicht anders im Himmelreich. Wer nicht wachsen und zunehmen will, wie im Glauben, so in der Liebe, wie in der Liebe, so in der Hoffnung, wie in der Hoffnung so in der Geduld, im Vertrauen, im Gehorsam gegen Gott, der nenne sich nicht einen Bürger des Himmelreichs. In diesem Reich weiß man nichts von Stillstand. Der Mond, wenn er nicht zunimmt, nimmt ab; der Baum, wenn er aufhört zu wachsen, fängt an abzusterben. So du als Christ: du musst zunehmen, du musst besser werden mit jedem Tag. Gut ist nur, wer besser wird. Kannst du auch nicht jeden Tag den Fortschritt merken, das mache dich nicht irre, du kannst auch das Gras nicht wachsen sehen, das doch stündlich wächst. Aber sieh es heute an und komm wieder über acht Tage, so merkst du, dass es gewachsen ist. So stehe du von Zeit zu Zeit stille und betrachte die Saat, die auf dem Acker deines Herzens und Lebens steht. Vergleiche den gegenwärtigen Stand derselben mit dem früheren und frage: wie war ich vor einem Jahr und wie bin ich jetzt? Ist mein Herz reiner geworden? mein Sinn himmlischer? mein Glaube lebendiger? meine Liebe brünstiger? meine Rede lieblicher? mein Wandel unsträflicher? meine Hand zu guten Werken fleißiger? Sind die Sünden abgelegt, die noch vor einem Jahr mir anklebten? Folge ich jetzt williger dem Trieb des heiligen Geistes, als ich früher tat? Aber, mein Christ, fängst du heute nicht an mit dem Besserwerden, morgen wird nichts daraus. „Heute, heute, so ihr seine Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht.“ - Ach, wenn nur nicht so viele Hindernisse im Wege wären! - Nun, die müssen überwunden werden. Zum Lebenslauf eines Christen gehört auch der treue Kampf gegen alles, was sein Wachstum im Guten hindern will. Was hindert dich, ein besserer Christ zu werden? Dies, sagst du, dass ich so träge und unlustig zu allem Guten bin. Nun, willst du denn etwa einschlafen, bis die Posaune des jüngsten Gerichts dich weckt? Bete, mein Christ, greife zu Gottes Wort; schau das Vorbild deines Erlösers an; lege dich in Gedanken auf dein Sterbebett, wo du mit Ach und Weh deinen Geist aufgeben müsstest, wenn du der Trägheit des Fleisches nachgegeben hättest. Mache einen Bund mit dir, dass du allezeit Ja sagen wollest, wenn das Fleisch Nein, und allezeit Nein sagen wollest, wenn das Fleisch Ja sagt. -

Was kann dich sonst hindern, ein besserer Christ zu werden? Dies, sagst du, dass die Welt so böse und mich mit sieben Stricken bindet, dass ich nicht tue was ich soll. - Aber bist du denn so töricht, dass du dich von der Welt binden lässt und dich zu einem Ball hergibst, womit die bösen Buben spielen? Lieber, halte und ziehe dich zurück, wo die Welt dir gefährlich ist, und mache einen Bund mit deinem Fuß, dass du nicht hingehst, wo der Versucher auf dich lauert. Auch vergiss die sechste Bitte im Vaterunser nicht, und wenn du in Versuchung kommst, so ergreife im Gebet die starke Hand deines Vaters im Himmel, die dich zurückziehen und dir helfen wird, dass du gewinnst und den Sieg behältst. -

Was kann sonst dich hindern, ein besserer Christ zu werden? Dies, sagst du, dass ich mit zu viel Trübsal zu kämpfen habe. - Ei, die soll dich ja nicht aufhalten, die soll dich fördern in deinem Lauf. Meinst du, dass du besser laufen würdest, wenn du keine Trübsal hättest? Gott züchtigt dich, weil du kein Engel bist, Gott belagert dich mit Trübsal, weil in deinem Herzen ein Verräter sitzt, den er ausgeliefert haben will. Liefere den Verräter aus, so zieht Gott ab. Zeig' ihm ein Herz, das fröhlich ist im Vertrauen, willig im Gehorchen, standhaft im Dulden, so ist Leid nicht mehr Leid, sondern Freude. In Summa: wo sich ein Hindernis deines Besserwerdens zeigt, da sei wie Paulus, welcher spricht (Röm. 8): Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Versuchung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? In dem allen überwinden wir weit um des willen, der uns geliebt hat. -

Fragst du nun noch: was ist des Christen Lebenslauf? Das ist des Christen Lebenslauf: vergessen, was dahinten liegt, und sich strecken nach dem, das vorne ist. Hilf, lieber Herr, hilf mir und uns allen mit Geduld den Weg unseres Berufes laufen, damit wir einst fröhlich und im Frieden unsern Lauf vollenden!

Hilf du mir, Geist der Stärke, siegen!
Gib du mir Weisheit und Verstand!
Lass nicht den Schwachen unterliegen,
Der schon mit dir oft überwand.
Erleichtre, fördre meinen Streit
Für meiner Seele Seligkeit!

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